Der Witwenwanderer

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Der Witwenwanderer
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Werner Siegert



Der Witwenwanderer



Erzählung





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Inhaltsverzeichnis





Titel







Der Witwenwanderer







Eva-Maria







Im Witwenwald







Witwenlust? - Witwenfrust!







Teil 2: Die Witwen-Briefe







Ganz herzlich, Dein Wanderer







Positionsmeldung







Auf zu neuen Ufern







Impressum neobooks







Der Witwenwanderer



Wandern war Mode geworden. Vor allem jetzt im Herbst. Nach den großen Ferien. Wer keine schulpflichtigen Kinder hatte, schnürte seine Stiefel, packte den Rucksack, warf sich in Kluft und begab sich - meist mit einer seit Jahren verbundenen Clique - auf Bundeswanderwege. Manche Kollegen setzten ihre Wanderung von Hannover nach Rom dort fort, wo sie beim letzten Mal abbrechen mussten. Andere „waren dann mal fort“ und tippelten auf dem Jabobsweg nach Santiago de Compostela - natürlich auch nach dem Verfahren „Fortsetzung folgt!“



Er haderte mit allem, was man modisch den Mainstream nannte. Wandern, ja, das wollte er auch. Zumindest mal probieren. Und vor allem allein, und auf keinem Bundeswanderweg, sondern von einem absolut zufällig ausgewähltem Ausgangspunkt auf absolut zufälligen Wegen. Nichts dramatisches. Keinen Gipfel ersteigen, keine langweilige Ebene durchstreifen. Mittelgebirge. Schwarzwald, Hunsrück, Sauerland, Taunus? Mit geschlossenen Augen tippte er mit dem Finger auf eine Deutschlandkarte und befand sich in Thüringen. Auch gut. Neue Bundesländer.



Er stieg in K. aus dem Zug. Kaufte sich noch ein paar Äpfel am Stand. Die Wasserflasche war gefüllt. Tagsüber wollte er wandern, irgendwie in östlicher oder südlicher Richtung, abends in einem Gasthof einkehren. Erst wollte er sogar auf eine Wanderkarte und einen Kompass erzichten. Das erschien ihm aber dann doch zu fahrlässig. Seit Kindheitstagen plagten ihn nächtliche Albträume, in denen er von schwarzem Moorwasser umgeben dem sicheren Tod ausgeliefert war. Sein lautes Schreien riss ihn dann schweißgebadet aus dieser Not.



Wie man es von allen hörte: Die ersten zehn, fünfzehn Kilometer geht alles noch recht gut. „Wohlgemut“ fühlte sich auch Hänschen, ehe es sich besann und geschwind nach Hause lief. Das Wetter war angenehm. Nicht zu sonnig. Bald nahm der Wald ihn auf. Viele Wegabschnitte waren ziemlich matschig. Es hatte viel geregnet im Sommer. Draußen zwischen den Feldern und Wiesen konnten die Wege eher abtrocknen. Wohlgemut? Na ja, nicht so ganz. Man kommt ins Grübeln. Man fragt sich: Was soll der Quatsch? Und wandert vor sich hin. Endlich kamen Häuser in Sicht. Ein kleines Dorf. Zeit für eine Rast und aufkommende Sorge, rechtzeitig einen Gasthof zu finden. Da fügte es sich gut, dass er vor einem kleinen Katen mit einem Blumenbeet eine Bank erspähte, so richtig zum Ausruhen.



Kaum hatte er seinen Rucksack abgesetzt und die Wasserflasche rausgezogen, trat eine ältere, einfach gekleidete Frau mit einer Schürze und Schlappen raus. Sie begrüßte den Wanderer überaus freundlich, als ob sie auf ihn gewartet hätte. Er entschuldigte sich, dass er so einfach, ohne zu fragen, auf ihrer Bank Platz genommen hatte. Aber nein, das macht doch nichts. Dafür ist sie ja da. Sie setzte sich neben ihn und begann ohne jegliche Scheu mit ihm zu schwätzen. Ob sie ihm einen Kaffee machen solle. Und von wo er käme und wohin er wolle. Er sagte, er habe kein Ziel. Er wolle nur wandern, irgendwohin, immer mal rasten. Goethe zitierte er mit den Gedichtzeilen "Ich ging ganz in Gedanken hin, und nichts zu denken war mein Sinn."



Er habe Zeit. Wenn der Nachmittag dämmere, dann suche er sich einen einfachen Gasthof.



Da sei er wohl sehr optimistisch. Gasthöfe, so wie früher, gäbe es ja kaum noch. Wenn’s hoch kommt eine Kneipe. Es sei ja nichts mehr los. Nur noch alte Leute, so wie sie, allein. Die Jugend „hat fortgemacht“. Hier gibt’s ja auch nichts mehr zu verdienen.



Er ist dann weiter gewandert, hat sich bedankt, dass er auf dieser schönen Bank ausruhen durfte. Bei so netter Gesellschaft. Und wünschte ihr alles Gute. Gesundheit vor allem. Was man so sagt.



Das mit dem Gasthof wurde tatsächlich kritisch. In der „Eiche“ saßen nur ein paar Bauern, Handwerker und Rentner. Nein, Übernachten könne man hier nicht, weit und breit nicht mehr. Einer vom Stammtisch bot ihm an, ihn mit seinem Lieferwagen mitzunehmen in einen Ort, wo es angeblich noch ein kleines Hotel gäbe. Niemand hatte Eile. Warum auch. Man schimpfte über die Merkel, über den schwulen Westerwelle, dass es sowas früher nicht gegeben hätte, und über die Grünen. Die Künast habe ja keine Ahnung von Landwirtschaft. Eigentlich schimpften sie über alle. Es werde ja jeden Tag schlimmer, alles teurer, na ja, und dann noch Brüssel. Und die geilen Pfarrer. Aber sie hätten ja schon seit Jahren keinen mehr. Wozu auch? Die Kirche ist zu.



Gottlob fand er Aufnahme in dem kleinen Hotel. Keinen Luxus. Eine Plastik-Duschkabine ins Zimmer gestellt. Ein durchgelegenes Bett und ein Gebirge von Plumeaus. Verblichene Tapeten, verziert mit gefühlten hundert Mückenleichen. Reicht. Hauptsache die Beine hochlegen und mit Franzbranntwein einreiben. Der berüchtigte erste Tag. Es gab Schnitzel mit Pommes, drei Salatblätter als Dekor und köstliches Bier.



Am nächsten Morgen kostet es Mut weiterzugehen. Die Versuchung, aufzugeben und den Bus zu nehmen, ist beträchtlich. Aber wie sollte er vor den anderen bestehen, die zu Fuß über den Brenner kraxeln? Oder Fotos von Compostela rumzeigen. Er hatte es sich ja so gewünscht: allein, ganz anders, ziellos. Ein Sonnentag - also los. Wohlgemut? Dafür ging ihm zuviel durch den Kopf. Was so die Leute reden. Immer mal wieder fand er, dass allein wandern beschissen ist. Wenn er sich jetzt mit jemandem unterhalten könnte! Dann hat er angefangen, so zu tun, als ginge ein Jemand neben ihm. Sein Vater. Da hatte er jemanden, mit dem er sprechen konnte. Mit seinem toten Vater. Wie der auf alle Erfindungen heute reagieren würde, auf sein Handy in der Tasche, auf Google Earth, auf sein neues Auto, das er zuhause in der Garage gelassen hatte. Er versuchte, ihm alles zu erklären. Laut vor sich hin sprechend. Wunderbar, dass sich der Vater auf das Gespräch einließ. Wir haben doch auch gelebt. Es ist doch eigentlich nichts besser geworden. Die Menschen unglücklicher, kränker, arbeitslos. Wir haben ja auch mal in Thüringen Urlaub gemacht. An einer Talsperre. In einem schönen Hotel. Da warst du fünf Jahre alt.



Und heute: Keine Gasthöfe mehr. Kilometer für Kilometer. Dazwischen ein Apfel, aus Neuseeland. Ein süßes, klebriges Hefeteilchen. Kein Brunnen, um sich die Hände zu waschen. Also Wasser aus der Flasche drüber laufen lassen. Bald wieder auffüllen.



Am Nachmittag machte er wieder auf einer Vorgartenbank Rast, an einem verwitterten Tisch. Alle diese kleinen Häuser hatten ihre Vorgartenbänke. Das war ihm aufgefallen. Und wieder kam alsbald eine ältere Frau raus. Auch sie freute sich, mal wieder jemanden zum Schwätzen zu haben. Es sei so einsam und still geworden. Der Mann tot, die Kinder weit weg. Das Dorf auch tot, kein Wirtshaus mehr, kein Einkaufsladen, nur ein Schulbus morgens und mittags für die wenigen Kinder, mit dem sie manchmal mitfahren dürfe zum Einkaufen in die Kreisstadt. Sonst nähme sie das Fahrrad. Ob er nicht reinkommen wolle. Vielleicht eine Nacht bleiben, weil es ohnehin keinen Gasthof mehr gäbe, weit und breit. Das Zimmer von ihrem Sohn, das könne sie für ihn richten. Sie unterhielten sich. Die Frau sagte so wunderbare Sachen wie "Ach wissen Sie, der Mensch ist eine Wundertüte, vor dem Heiraten, letztlich weiß man nie, was drin ist. Man selbst ist sich ja auch eine Wundertüte. Jeden Tag neu!" Eine einfache Frau mit Schürze, die Möhren aus dem Garten reinholt. Lebensweisheiten. Der Mensch – eine Wundertüte!



Er zögert. Sagt Unverbindliches. Es sei ihm aufgefallen, dass hier vor jedem Haus eine Bank stünde. Ja, sagt sie, drinnen sei es halt eng und dunkel: Draußen habe der Herrgott mit der Natur das schönste Wohnzimmer eingerichtet, das man sich wünschen könne. Und nun käme sogar ein Gast!



Sie verschwindet kurz und kommt mit einem Tablett wieder raus, mit Tassen und Tellern und ein paar Keksen. „Gleich ist der Kaffee durchgelaufen!“



Er bleibt. Die Beine schmerzen. Wenn man erstmal aus dem Rhythmus ist, kommt man schlecht wieder in die Gänge. Lange sitzen sie so da. Sie holt einen Obstschnaps und erzählt ihre Lebensgeschichte. Kinderkriegen und Buchhalterin bei einem VEB. Mit einem Garten gab es eigentlich keinen Mangel. Nach Mallorca - sie sprach die doppelten L richtig aus - hätte es sie nie gezogen. Und Bananen braucht man eigentlich auch nicht. „Bononen“ sagte sie.



Später gingen sie rein. Es gab Aufschnitt, Käse und Schwarzbrot. Und würzigen Kräutertee. Die Kräuter sucht sie selbst. Der riesige Fernsehschirm, dachte er, passt nicht in dieses kleine Häuschen. Aber er ist das Fenster zur Welt. Ein Geschenk ihrer Kinder, „damit du nicht so allein bist“. Elsbeth merkt, dass er was mit den Beinen hat; er humpelt zum Klo. „Da hab ich was Gutes. Eine Salbe, die macht ein befreundeter Apotheker für die Pferde. Hilft todsicher.“

 



Früh zieht er sich in die kleine Schlafkammer zurück. Hat kaum noch einen Blick für die Relikte des Sohnes. Spielzeugautos, Modelle. Ein Poster von einem Sänger? Muss man den kennen? Er schläft schnell ein. Die Salbe auf den Knien verbreitet wohlige Wärme und stinkt nach Campher. Irgendwann wacht er mal auf, liegt eine Weile wach und fragt sich: Wer bin ich eigentlich? Und gibt sich eine eigenartige Antwort: Ein Witwenwanderer. Während die anderen in Italien sind oder in Spanien. Und eigentlich will er nicht weiter. Aber was dann? Versager!



Am nächsten Morgen ist das kleine Bad mit einem elektrischen Strahler vorgeheizt. Handtücher und zwei Waschlappen liegen bereit. Im Haus duftet es nach Kaffee. Als er die Treppe runter hatscht, merkt er, dass die Schmerzen im Knie verschwunden sind. Elsbeth hat sich schön gemacht und erwartet ihn mit liebenden Augen. Ob er auch gut geschlafen habe, und sie ihn nicht geweckt habe. Sie stehe immer um Fünf auf. Früher habe sie sich dann um die Tiere gekümmert, bevor sie der Bus vom Kombinat abgeholt habe.



Ob er nicht noch bleiben könne? Das wäre doch schön. Aber jetzt will er doch weiter. Jedenfalls nicht bei der Oma bleiben. Das sagt er natürlich nicht. Kommen Sie doch mal wieder! Sie steckt ihm eine Plastiktüte zu. Ich habe Ihnen ein paar Brote gemacht. Und ein bisschen von der Salbe in ein kleines Glas gefüllt. Als er sich verabschiedet, wischt sie sich eine Träne aus dem Auge. Alles Gute! Und bleiben Sie gesund!



Er tippelt los, dreht sich nochmal um. Elsbeth winkt und wischt sich die Augen. Er wandert auf dem Weg, den sie ihm gezeigt hatte. Und spürt irgendwie, dass sie neben ihm geht. Er unterhält sich mit ihr. Was man so mit seinem Leben noch anfängt, wenn der Beruf einen ausgespuckt hat. Und die Wiedervereinigung auch noch den kleinen Wohlstand wie mit einem gigantischen Staubsauger aufgesaugt hat. Was man denn noch tun könne, außer auf den Tod zu warten und in den Fernseher zu glotzen. Er weiß es nicht. Er will es nicht wissen. Nicht so nahe an sich heran lassen.



Immer wieder locken diese kleinen Häuser mit den Bänken zum Verweilen. Scheu geht er vorbei. Obwohl es zu regnen beginnt. Dafür hat er natürlich einen wasserdichten Umhang mit Kapuze. Als es schlimmer wird, hockt er sich in ein kleines Wartehäuschen am Straßenrand. Eine Bushaltestelle. Ohne Fahrplan. Jetzt ist nur noch alles vollgekrakelt. Ordinär. Porno. Sex. Er möchte nicht hingucken und starrt dafür in den Perlenvorhang des prasselnden Landregens und in die kleinen Bäche, die sich an der Hütte vorbei schlängeln. Er schaut in die Elsbeths Tüte: Sie hat ihre ganze Liebe da hineingepackt. Auf dem Käsebrot liegt Petersilie. Drei Pralinen kullern unten herum. Auf einen Zettel hat sie ihre Adresse geschrieben und die Telefonnummer. Mit ungelenker Hand:

Schreiben Sie mir mal eine Karte. Elsbeth.

 Am liebsten würde er zurück gehen.



Ab und zu fährt ein Auto vorbei und sprüht den Gischt bis in die Hütte. Jetzt hält eines. Ein Stück weiter - und kommt rückwärts zurückgefahren. „Soll ich Sie ein Stück mitnehmen? Oder warten Sie auf jemanden? Ein Bus fährt schon seit Jahren nicht mehr.“



Eine Frau lässt die Scheibe runter, lehnt sich weit über den Beifahrersitz und schaut ihn mitleidig an. Was bleibt ihm übrig? Er schüttelt die Tropfen von seinem Umhang, wirft seinen Rucksack auf den Rücksitz und steigt ein.



„Sie holen sich ja den Tod! So schnell hört das nicht auf!“



Sie ist irgendwas zwischen 40 und 50. Gibt ihm Tempotaschentücher. Fragt nach seinem Ziel. „Ich habe keins!“





Eva-Maria



Kein Ziel? Wo kommen Sie denn her? Aus Bayern? Und was suchen Sie ausgerechnet hier? Bayern, das ist von hier aus gesehen doch ein ganz anderer Kontinent.



Ja, von Bayern aus wandert man nach Rom. Oder den Jacobsweg entlang nach Santiago de Compostela. Oder man fährt mit dem Radl nach Wien. „Ich wollte was ganz, ganz anderes machen. Kein Mainstream, wie man das nennt!“



„M a i n s t r e a m?“ Sie lässt das Wort wie Brei auf der Zunge zerlaufen. „Und wo kommen Sie heute her?“



„Von Elsbeth. Eine Witwe. Eine alte Frau. Ich hatte mich nur auf die Bank vor ihrem kleinen Häuschen gesetzt. Da kam sie raus und hat mich mit ihrer Gastfreundschaft eingehüllt wie mit einer warmen Decke. Ich musste bleiben. Sie war so glücklich, jemanden zu haben, der ihr zuhört, für den sie Kaffee kochen kann und den Tisch decken. Und beim Abschied gab es Tränen.“



„Da kann ich Ihnen noch tausend Witwen nennen. Die ganze Gegend hier ist doch ein einziger Witwenwald. Die Männer sind tot oder abgehauen. Die Kinder sind im Westen, vielleicht sogar ab nach Amerika, Australien. Neuseeland ist sehr beliebt. Zurück bleiben die alten Mütterchen. Sie hüten noch das Haus, versorgen den Garten, schauen Fernsehen. Und warten auf den Tod oder einen Wanderer.“



„Und was machen Sie, wenn Sie nicht Samariterin spielen?“



„Dasselbe wie Sie! Ich bin Psychotherapeutin. Ambulant. Besuche alte oder auch junge Frauen, die in ihrer Einsamkeit glauben, verrückt zu werden. Das muss man hier. Wenn man nicht sieht, wie sie wohnen, sieht man auch nicht in ihre Seelen. In Bayern, wo Sie herkommen, hat man eine Praxis. Da kommen die Patienten hin. Angsttherapie - läuft dort gut. Auch Essstörungen. Mobbing durch den Chef oder Partner. Hier wären sie froh, wenn es jemanden gäbe, der sie wenigstens mobbt. Jemand, der zuhört. Jemand, für den sie die Sammeltassen aus dem Buffet kramen können. Besser als Sie kann ich das auch nicht machen. Aber danach fällt Elsbeth tief. Haben Sie ihre Adresse? Dann schreiben Sie Ihr. Bald. Schicken Sie ihr was, woran sie sich festhalten kann. Das stellt sie dann auf einen kleinen Altar. Ohnehin wird sie bald glauben, Jesus Christus sei bei ihr vorbei gekommen. Leibhaftig. Und was machen Sie eigentlich?“



„Ich schreibe. Journalist. Und gelegentlich ein Buch. Was mir so einfällt.“



„Über Elsbeth? Und den Witwenwald?“



„Vielleicht.“



Sie hielt vor einem zweistöckigen Haus in einem größeren, etwas ausgefransten Ort mit vergammeltem Gewerbegebiet. Flache, rostzerfressene Fabrikhallen mit eingeschlagenen Scheiben. Der Regen hatte aufgehört. „Warten Sie hier, ich fahre nur noch das Auto in die Garage.“ Warten? Nicht wandern?



„Ich kann doch hier einen Gasthof suchen!“



„Das Geld können Sie sich sparen. Wenn morgen die Sonne scheint, können Sie immer noch weiter tippeln und Witwen beglücken. Heute abend machen wir es uns gemütlich. Wann habe ich schon mal einen Schriftsteller zu Gast? Aus einen anderen Kontinent?“



„Warum erwähnen Sie immer den anderen Kontinent?“



„Ihr habt noch intakte Städte und Dörfer. Buslinien. Genügend Kinder für Schulen. Eine Kirche im Dorf, in die sogar noch jemand hineingeht. Die aber auch sonst Menschen um sich schart. Das ist wichtiger als die im Ritus erstarrte Messe. Senioren. Kindergarten. Kultur. Die Landschaft lädt ein. Hier macht sie Menschen depressiv. Die Wälder sind dunkel. Es gibt keine Hoffnung. Keine Vision. Fremdenverkehr? Geschenkt! Wir können mit keiner Region mithalten. Wir können von Glück sagen, dass Araberfamilien uns noch nicht entdeckt haben. Hier gibt es Häuser fast geschenkt. Wenn die Witwen sterben und die Erben sich nicht mehr um das alte Gemäuer kümmern wollen, verkaufen sie’s um jeden Preis. Fünfzehntausend für ein Haus mit Garten. Nur weg damit. Dann verfällt’s oder ein Rentnerpaar erliegt der Verlockung, hier einen idyllischen Lebensabend in guter Luft verbringen zu wollen. Sie renovieren – und ziehen dann bald wieder weg. Lieber schlechte Luft und Lärm, aber Leben ringsum. Wenigstens das Dach ist dann neu gedeckt; dann können die mit dem undichten Dach dorthin umsiedeln. Ich bin ja auch sowas wie eine Immobilien-Maklerin. Weil ich die Witwen kenne, weiß ich, wo bald was frei wird.“



„Und die Männer?“



Eva-Maria K., die Psychofrau mit Immobilien hatte einen Merlot 2008 entkorkt. Der Rucksack lag unter der Garderobe, neben den Wanderschuhen. Der nasse Umhang trocknete im Bad. Eine Sitzgruppe aus hellbeigen Ledersesseln und eine dazu passende Couch. Glastischchen mit einer Schale aus Nussbaumholz. Salzmandeln.



„Die Männer hocken zusammen. In der Kneipe, im Sportvereinshaus, an der Tankstelle. Da vor allem. Alles rund ums Motorrad. Motorrad ist männlich. Das ist wichtig für die. Alles, was männlich ist. Lederkluft. Tätowieren. Bloß keine Weiber - höchstens eine scharfe Schnalle als Statussymbol. Auto ist weiblich. Die richtige Familie gibt es ja nicht mehr. Keine Kinder - keine Familie. Das Motorrad ist heute, was früher der Tresen war: Da versickert das Geld. Versickern? Wie heißt die Steigerung von Versickern? Eigentlich muss es eine Harley sein. Oder wenigstens kurz darunter. Auch wenn man sich verschuldet. Jedes Wochenende eine weite Tour. Kurz mal nach Bayern und retour. Manchmal auch im Leichenwagen. Die riskieren zuviel.“



„Und du? Kein Mann? Keine Kinder? Hier ganz allein?“ Er schaute sie an. Jetzt erst bewusst. Ihre etwas strubbeligen blonden, blondierten Haare. Ihre dunkelbraunen Augen und die schmalen blassen Lippen. Rollpullover, eierschalenfarben. Dünnes Goldkettchen. Mit einem E dran.



„Otto hat sich umgebracht. Er hat das alles nicht verkraftet. SED-Kreisleiter, Kombinats-Direktor. Wiedervereinigung. Bude zu. Hämische Blicke von allen Seiten. Arbeitslos. Mit einer Intellektuellen verheiratet, die in gewisser Hinsicht den Dreck zusammenkehren muss, den die DDR zurückgelassen hat - und den der Westen noch darüber angehäuft hat. Es war ja nicht alles schlecht, bis man den Verlockungen der BRD erlag.“



„Und jetzt?“



„Wir wissen es nicht. Keiner weiß es. Fremdenverkehr? Konzentriert sich auf ganz wenige Städte. Die saugen das Wenige auf. Draußen ist die Infrastruktur kaputt. Gasthöfe - dünn gesät, mit versifften Tapeten. Lohnt auch nicht. Kannst mich morgen begleiten. Dann zeige ich dir was vom Thüringer Wald, der einmal das Ferienparadies der Berliner war, als Hitler die erste Autobahn von Berlin nach München gebaut hatte. Und jetzt? Freie Fahrt zum Mittelmeer!“



Sie gingen zum Chinesen, weil Eva-Maria zu wenig im Kühlschrank hatte. Chinese - der ist gut. Der kommt klar. Die Familie hilft mit oder wer auch immer zur Familie gehört. Ist nicht ganz durchsichtig. Aber immer freundlich und preiswert. Die Einrichtung? Plastik aus dem Reich der Mitte. Noch eine Flasche Wein? Aber bitte!



Mit zwei Flaschen Wein intus, weiß und rot, gestaltet sich der Heimweg ganz schön lustig. Die Zungen lösen sich, per Arm schwankt es sich wie auf einem Schiffchen im Sturm. Zuhause, bei ihr zuhause landet man auf der Couch, bei den Salzmandeln.



„Sag’ mal, wie kommst du dazu, ohne Ziel zu wandern, einfach so drauflos und dann noch in die falsche Richtung? Ziellos und in die falsche Richtung, ist da was?“



Eva-Maria rutschte in ihre psychotherapeutische Schiene. Sprachlosigkeit könnte leicht in nonverbale Spielchen ausarten – zumal sie jetzt beide mit leichtem Kontrollverlust. Da versuchte sie, mit Fachjargon wieder auf festes Terrain zu gelangen. Ziellos?



„Wieso falsche Richtung? Was meinst du?“



„Wenn du nach Osten gepilgert wärest, wäre es nicht ganz so trist wie hier. Schöner halt. An der Orla entlang. Müheloser. Nicht so bergauf bergab. Was wolltest du dir antun? Dich mal wieder gruseln im dunklen, moorigen, verkrauteten Wald? Witwen können ja nicht dein Ziel gewesen sein - und jetzt hockst du schon wieder bei einer. Kontrastprogramm zu deinen Kollegen?“



„Wenn ich mir ein Ziel ausgewählt hätte, Gotha, Weimar oder Rudolstadt beispielsweise, hätte ich ja so ungefähr gewusst, was auf mich zu kommt. Genau das wollte ich nicht. Ich wollte es einfach mal drauf ankommen lassen. Das Ergebnis finde ich toll. Elsbeth zum Beispiel. Wann lernt man schon mal solche Menschen kennen? Und jetzt dich - super. Diese Hilfsbereitschaft! Und dann mit dir hier die halbe Nacht verplaudern. Ziellos kann ein wunderbares Ziel sein! So locker vom Hocker!“



„Morgen könnten wir nach Orlamünde fahren. Da habe ich eine Patientin, 67. Natürlich Witwe. Jetzt auf einmal dreht die auf. Jetzt will die endlich mal ihr Leben leben. Vorher war es nur das Leben ihres Mannes und der Partei. Lehrerin war sie. Und fragt sich nun: War das alles? Da war sie nun mit dem Frauen-Kegelclub auf Sause, drei Tage, wohl ziemlich viel Alkohol. Hat sich in einen jungen Kerl verliebt von der Kegelbahn oder vom Hotel. Sie sei noch nie so glücklich gewesen in ihrem ganzen Leben. Weiß der Teufel, was der mit ihr angestellt hat und ob überhaupt! Nun ist sie völlig von der Rolle, weil der nichts von ihr wissen will. Liebeskummer mit 67! Mannomann!“

 



„Und was kann man da tun? Auf einer Vorgartenbank sitzen? Wäre ja höchst gefährlich!“



„Nein, nein! Die jippert in Wirklichkeit einem Schüler nach, mit dem sie es heimlich in ihrer Schulzeit getrieben hat. Endete in einer Katastrophe. Den hat sie nie vergessen und projiziert jetzt alles in den armen Kegelbuben. Ihr Schüler-Lover ist gleich nach der Wende ab in den Westen. Muss man behutsam aufarbeiten .... und was musst du

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