Das Mädchen, das nicht lachte

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Das Mädchen, das nicht lachte
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Werner Siegert

Das Mädchen, das nicht lachte

Eine wahre Erzählung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Sie schwieg. Und lachte nie.

1. Notabene:

2. Notabene

Impressum neobooks

Sie schwieg. Und lachte nie.

Sie schwieg. Und lachte nie. Sie hieß Annette. Nein, in Wirklichkeit hieß sie nicht Annette. Aber ihren und meinen wahren Namen gebe ich nicht preis. Sie war ein Anlernling in der Bank, in der ich Lehrling war. Lehrling stand im Ansehen ein kleines bisschen höher als Anlernling, wenn man überhaupt von Ansehen sprechen konnte. Das hat sich auch für Azubi nicht geändert; nur dass die heute wesentlich mehr verdienen.

Annette lernte ich 1950 kennen. Ich musste mehrmals am Tag Verrechnungsschecks in die Abteilung bringen, in der sie den ganzen Tag Zahlen in eine große Maschine tippen musste. Sie schwieg und ging stets mit ernstem Gesicht ihrer Arbeit nach. Ein zu ernstes Gesicht – das war das erste, was mir an ihr auffiel. Sie war 15. Aber das erfuhr ich erst sehr viel später; denn sie wirkte älter. Verhärmt.

In der Mittagspause schlenderten die meisten Lehrlinge und Anlernlinge durch die nahe Altstadt, kauften sich ein „Teilchen“, eine Banane oder eine Tüte Kirschen. „Teilchen“ nannte man im Rheinland das, was anderswo Hefegebäck oder Plunder heißt.

Annette blieb in der Bank, an ihrem Arbeitsplatz. Auf meine Einladung, doch auch mit uns hinaus zu gehen, in den Hofgarten, an den Rhein oder auf die Königsallee, hob sie kurz den Kopf, senkte ihn wieder und schwieg. Reden hörte ich sie nur beruflich, sachlich, kurz, mit heiserer, leiser Stimme.

Nicht etwa, dass ich auf Rosen gebettet daher kam. Damals erhielt man im ersten Lehrjahr 50 D-Mark Erziehungsbeihilfe, die den Eltern überwiesen wurden, auch wenn die weit weg wohnten, im zweiten Lehrjahr 55 D-Mark. Ich verdiente meinen Lebensunterhalt durch Nachhilfestunden nach Feierabend oder am Wochenende – Englisch und Latein. In diesen Fächern hatte ich im Abitur sehr gut abgeschnitten. Ein Studium konnte ich mir als Flüchtling aus der sowjetischen Besatzungszone noch nicht leisten. Meine Eltern überwiesen mir die Miete für eine kleine Altbauwohnung; aber die hatten ja selbst nichts. Wir waren mit Nichts über die „grüne“ Zonengrenze geflohen, aus Angst vor einer Deportation meines Vaters in den Ural.

Dass ich in der Ruhr-Bank eine Lehrstelle erhielt, hatte ich „Verbindungen“ zu verdanken. Angeblich nahm man nur Einser-Abiturienten. Nur für Söhne und Töchter von Bankangestellten und Politikern der richtigen Partei genügte auch eine Drei. Im ersten Lehrjahr reichte das völlig aus: Man musste Rot (Debet-Belege) von Schwarz (Kredit-Belege) unterscheiden könnten, Briefumschläge aufschlitzen und Briefumschläge mit nassem Schwämmchen zukleben können, Papiere von hier nach dort tragen und nach einigen Intelligenzbeweisen auch schnarrende, schwergängige Additionsmaschinen bedienen. Auf klapprigen Schreibmaschinen durfte man schon mal eine Adresse tippen.

Eines Tages legte ich Annette eine kleine braune Spitztüte mit Kirschen hin und ging wieder. Sie war so überrascht, dass ich weg war, ehe sie mir die Kirschen zurück geben konnte. Aber wenigstens warf sie mir am Nachmittag quer durch die Schalterhalle einen Blick zu. Hurra!

Die nächsten Tage wurden spannend. Als ich das nächste Mal ihrem Abteilungsleiter einen Packen Schecks überbrachte, warf ich ihr verstohlen ein Lächeln zu, einen Blick, den sie mit versteinerter Miene erwiderte.

Die Scheckabteilung musste häufig Überstunden machen, wenn in der Primanota eine Differenz zum Kassenstreifen auftauchte. Der Kassenstreifen stammte von uns aus der Schalterhalle. Da wurde von jedem Scheck der Betrag eingetippt. In der Scheckabteilung geschah im Wesentlichen dasselbe noch einmal zusammen mit den Kontonummern der Begünstigten. Die Endsummen mussten übereinstimmen. Aber wenn sich Differenzen ergaben und es nur um 1 Pfennig nicht stimmte, dann mussten tausend oder mehr Beträge von den Schecks mit den getippten Zahlen aus der Schalterhalle verglichen werden. Und dabei geschah es! Und dann auch noch mit den Zahlen auf den eingereichten Schecks, die häufig schlecht geschrieben waren. Man konnte schon mal in der Eile eine 6 statt einer 5 tippen.

Wir Lehrlinge wurden abgeordnet, bei der Fehlersuche zu helfen. Ich saß auf einmal mit Annette am selben Tisch und wir schleuderten uns gegenseitig Zahlen zu. Natürlich nicht mit Annette, sondern mit Fräulein Landorf. Dreitausenddreihundertsiebenundsiebig, Komma, dreizehn. Fräulein Landorf erwiderte: Dreitausenddreihundertsiebenundsiebzig, Komma, dreizehn. So verliefen unsere ersten Dialoge. Ohne das geringste Lächeln. Auch nicht, als wir die Differenz fanden, einen sogenannten Dreher, statt 89 Pfennig waren 98 Pfennig eingetippt worden. Ich wusste, dass es ein Dreher sein musste; denn die Differenz eines Drehers, also eines Zahlentauschs, ist stets durch 9 teilbar. Das ist immer ein Dreher. 27 statt 72? Ist gleich 45! Durch 9 teilbar. Ich lächelte Annette an. Sie verzog keine Miene. Feierabend.

Als wir die Abteilung verließen und ich es so einzurichten wusste, dass ich neben Annette einher schritt, zischelte sie mir kurz zu „Ich darf das nicht!“ Draußen wartete eine schwarze Limousine auf sie.

Ich darf was nicht? grübelte ich den ganzen Abend und sicher noch die halbe Nacht und morgens nach dem Aufstehen, beim Broteschmieren, auf dem Weg zur Bahn. Ich wohnte in einem Vorort. 25 Minuten Nachdenken über „das“. Zehn Minuten Graf-Adolf-Straße runter Nachdenken über „das“. In der Bank-Garderobe Nachdenken über „das“. Und darüber, wer das „darf“ darf. Heute, 66 Jahre später, würden die Kids nicht lange zweifeln, was mit „das“ gemeint sein könnte. Aber damals war „das“ zwischen wohlerzogenen Teenagern völlig ausgeschlossen. Ja! Völlig! So blieb „das“ ein Rätsel. Und die Lösung? Es blieb mir nur die Hoffnung auf weitere Differenzen in der Primanota.

Kirschenzeit

„Was findest du nur an der Landorf? Die ist doch so eine trübe Tasse! Und hübsch ist sie auch nicht gerade. Blass und eine zu große Nase! Und nichts in der Bluse! Mit der kann man nichts anfangen! Blöde Kuh!“ höhnte mich mein Lehrlings-Kollege Kurt Löwe an. „Die bringst auch du nicht zum Reden! Und ständig dieses Gesicht!“

„Genau das, Kurt, fordert mich heraus. Ich will ja nichts von ihr. Aber dieser Ernst, diese Verschlossenheit. Muss doch von was kommen? Was hat die nur? Ich will sie einmal zum Lachen bringen! Ein einziges Mal!“

„Vielleicht sind wir ihr zu poplig. L e h r l i n g e ! Die wird fast jeden Tag mit ʼnem großen Mercedes abgeholt. Mit Chauffeur! Mannomann! So eine spricht nicht mit jedem!“

Annette nicht hübsch? Darauf hatte ich ehrlich gesagt bisher nicht geachtet. Darauf kam es mir auch gar nicht an. Annette als Freundin? Auf den Gedanken war ich gar nicht gekommen. Eine Freundin konnte ich mir auch gar nicht leisten. Ins Kino einladen oder in ein Café? Dazu reichte mein Budget nicht. Nur dass sie so verschlossen war, so verhärmt und nie auch nur ein winziges Lächeln zeigte, das regte mich regelrecht auf. Warte nur, dachte ich stets, wenn ich ihr begegnete, dich knacke ich noch. Eines Tages will ich dich lachen sehen. Ich hatte zwar in all den Jahren des Krieges, des Hungers, der Flucht und meiner dürftigen Existenz auch nicht viel zu lachen gehabt, aber ich war immer ein Kasper – schon in der Schule, sogar beim Jungvolk und in der Hitlerjugend, was nicht ganz ungefährlich war. Den Hitler nachzumachen oder Goebbels. „Wir haben nicht Ein, nicht Zwei, auch nicht Drei, sondern Vierfruchtmarmelade an die Front geschickt!“ Und das mit dem nöligen Ton des Propaganda-Ministers! Da hätte ich schnell ins Konzentrationslager abgeführt werden können, und meine Eltern gleich noch mit dazu. Witzig sein war für mich vermutlich ein Ausweg aus dem Miesen. Auch die Lehrzeit in der Bank war ohne Humor nicht zu ertragen. „Ins Soll stellen!“ Na, wie geht das denn? „Haben ist das, was du nicht hast!“

Leider dauerte es ziemlich lange, bis endlich mal wieder Fehler zu suchen waren. Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt, mutwillig einen Dreher in den Kassenstreifen zu schmuggeln. Immerhin durfte ich ja schon manchmal Schecks über den Schalter annehmen und in die Maschine tippen. Zahlen zu erkennen schien man einem Abiturienten aus dem Osten nur dann und wann mal zuzutrauen. Begegnete man uns mit Misstrauen? Dass wir einfach mal einen Scheck verschwinden lassen? Leider hatte diesmal ein anderer Kumpel die Ehre, mit Fräulein Landorf die Zahlen abzugleichen. Ich wurde in die Wechselabteilung geschickt, wo es ebenfalls Differenzen zu klären galt.

Immer diese Differenzen? Und dann diese stundenlange Suche! Neulich bis tief in die Nacht. Da durften wir allerdings nicht mit suchen – Jugendschutz! Aber es ging mir nicht aus dem Sinn! Wie kann so was passieren? Meistens sind es schlecht lesbare Ziffern, 0 oder 6, 5 oder 6, 1 oder 7. Komma an der falschen Stelle. Am nächsten Tag machte ich meinem Chef einen Vorschlag. Ich – ein Lehrling! Ich schlug ihm vor, nicht immer erst alle Schecks des ganzen Vormittags auflaufen zu lassen, sondern bereits nach jeweils hundert oder nach jeder Stunde einen Zwischenabschluss zu fertigen. Dann gleich hinüber bringen zur Scheckabteilung (zu Annette, was ich ihm natürlich nicht so sagte). Wenn dann eine Differenz zu klären sei, wäre die viel schneller einzugrenzen. Zu meiner allergrößten Überraschung fand der meinen Vorschlag sofort so gut, dass er ihn kaperte und ihn in seinen eigenen Verbesserungsvorschlag verwandelte. Den Leuten steckte die Suche bis nachts um zehn noch so in den Knochen, dass auch sie ihn spontan akzeptierten. Die Folge war: Es war ein für allemal Schluss mit dem langen Suchen! Aber leider auch mit Annette und mir, jedenfalls was das Zahlengezwitscher betraf. Da hatte ich sozusagen ein Eigentor geschossen.

 

Dann aber meinte es das Schicksal doch noch gut mit mir. Der Sommer heizte uns ein. Die Sonne ließ sogar die Schalterhalle heller erstrahlen, trotz ihrer vergilbten dreckigen Glaskuppel, auf der noch die Blätter vom letzten Herbst vergammelten. Und wir schwitzten in unserer vorgeschriebenen Bank-Kleidung: Anzug mit Weste, weißes Hemd mit Krawatte, hochgeschlossene Kleider bei den Frauen. Klimaanlagen? Gab es noch nicht! Jeder lechzte danach, in der Mittagspause raus zu eilen. Im Café um die Ecke gab es Eis zu erschwinglichen Preisen. Auf dem Altstadt-Markt gab es preiswerte Kirschen. Mit einem halben Pfund in der Tüte schlenderte ich am Amerikahaus vorbei und studierte drin im kühlen Foyer die ausgehängten Programme. Es gab Sprachkurse, aber auch Konzerte, Vorträge und Filme. Fast immer Eintritt frei! Also auch was für arme Lehrlinge. Da sah ich Annette auf einmal die Treppe herunter eilen. Ohne zu zögern hielt ich ihr die schwere Tür auf.

„Wie schön, Sie hier zu treffen, Fräulein Landorf, sind Sie auch manchmal hier?“

„Ja, ich habe mich für einen Englischkurs angemeldet!“ gab sie in betont sachlichem Ton zur Antwort. Ich reichte ihr meine Tüte mit den Kirschen hin. Sie schaute sich nach allen Seiten um, ob niemand davon Zeuge würde, dann nahm sie sich ganz schnell eine heraus. „Ja, nehmen Sie sich doch nur. Nicht nur eine!“ Rasch griff sie noch mal zu, sagte kurz „Danke!“. Todernst wandte sie sich ab und rannte in Richtung Bank davon. Was hat sie nur? fragte ich mich zum hundertsten Mal. Dann meldete ich mich auch zum Englischkurs an. Den brauchte ich wahrlich nicht; aber ich badete mich schon in der Vorfreude, wenn Annette zum ersten Mal den Raum betreten und mich sehen würde. Warte mal, mein Mädchen, dich bringe ich doch noch zum Lachen, na ja, oder wenigstens zu einem Lächeln.

„She loves you!“

Das mit dem Englischkurs erwies sich als eine geniale Entscheidung. Nicht nur, weil „mein Mädchen“ so was von überrascht war. Aber darüber später. Ihr Erstaunen war unbeschreiblich. Nicht dass sie etwa lächelte oder irgendwie beglückt reagierte. Sie starrte mich nur versteinert an:

„Sie auch hier?“

Ich bemühte mich, so zu tun, als geschähe das völlig absichtslos, ja fast zufällig.

„Ja, guten Abend! Stört es Sie?

Damit war unser Dialog auch schon beendet. Heutige Leser wird es befremdlich vorkommen, dass wir uns Siezten. Der Zwanzigjährige und die Fünfzehnjährige. Damit brachte man damals seine Achtung zum Ausdruck – zumal in einer Bank. Annette setzte sich in eine der vorderen Bankreihen. Miss Mary Steinberger, unser English-Teacher, war überraschend jung und für eine Lehrerin viel zu hübsch, dachte ich spontan. Bisher hatte ich es in meinem Leben nur mit Lehrern zu tun. Nur in den Grundschuljahren gab es „Fräuleins“, die uns wohl den Übergang von der mütterlichen Liebe zum Ernst des Lebens erleichtern sollten.

Mary Steinbörger, wie sie ihrem Namen einen englischen Akzent zu verleihen mühte, begann unsere erste Lesson dummerweise mit einer Rundabfrage, über wie viele Englischkenntnisse denn ihre Teilnehmer bereits zu verfügen glaubten („guess“). Wir sollten möglichst auf Englisch antworten – ein Trick! Annette gab sich als absoluter Anfänger aus, ganz im Widerspruch zu ihrem fehlerfreien Satz „I do not speak English!“ Mir trieb es die Schweißperlen auf die Stirn; denn abgesehen von meiner 1 im Abiturzeugnis leistete ich oft Dolmetscherdienste bei einer Familie im Haus, deren hübsche Tochter Ursel häufig englische Austauschschülerinnen mitbrachte. Da Ursels Eltern so gut wie kein Englisch sprachen und die Mädels aus London oder Middlesex jedenfalls keine Sprache, die dem deutschen Schul-Englisch nahe kam, musste ich oft aushelfen. Dafür durfte ich auch am Abendbrot-Tisch Platz nehmen und war einem Flirt nicht abgeneigt. Übrigens auch die Girls nicht, die sehr viel freier agierten als die streng erzogene Ursel. Wie also könnte ich jetzt bemänteln, dass ich mich nur wegen Miss Annette zum Kurs angemeldet hatte.

„Miss Steinbörger, some years ago I escaped from the Russion zone, where we had no English lessons at all. Most of my English I learnt by radio with programs of the BBC. Later I learnt only German School-English, which is far from the real English I think, and I want to learn English conversation.“

Miss Steinbörger runzelte ihre hübsche Stirn, enthielt sich aber gottlob jeglichen Kommentars. Vermutlich richtete sich ihr Salär auch nach der Teilnehmerzahl, so dass sie niemanden an den Fortgeschrittenenkurs zu verlieren trachtete.

Die Kursabende bestanden aus jeweils zwei Einheiten zu einer Dreiviertelstunde mit einer viertelstündigen Pause. Da wirkte es nur zu selbstverständlich, dass ich mich zu Annette gesellte, die abseits der anderen Teilnehmer am Treppengeländer lehnte. Völlig überraschend sprach sie mich sofort an, nicht unfreundlich, nicht abwehrend, sondern betont sachlich:

„Ich habe eine Bitte. Wenn wir nach der Stunde das Haus verlassen, gehen Sie bitte nicht neben mir und verabschieden Sie sich auf keinen Fall von mir. Ich darf keinen Kontakt mit irgendjemandem und schon gar nicht mit einem Mann haben. Ich habe Ihnen das schon mal gesagt, dass ich das nicht darf. Ich werde abgeholt.“

Das also war „das“? Ihr versteinertes Gesicht eine Abwehrmaßnahme?

„Aber hier brauchen wir doch nicht so zu tun, als würden wir uns nicht kennen, oder? Ich fände das sehr schade!“

„Was finden Sie denn an mir, dass Sie sich mit mir unterhalten wollen? Ich bin doch völlig uninteressant!“

„Kein Mensch ist uninteressant, Fräulein Landorf. Jeder hat sein Schicksal zu tragen. Und ehrlich gesagt, finde ich Sie zu jung, um immer so ernst zu schauen.“

„Es wäre mir lieb, wenn wir das Gespräch an dieser Stelle abbrechen würden!“ Sprach es und verschwand in Richtung der Toiletten. Ich ahnte damals nicht, wie nahe ich ihr mit meinen Worten gekommen war.

Immerhin begegneten wir uns wegen der Kursabende wenigstens einmal in der Woche. Meine Zeit am Scheckschalter in der Halle war abgelaufen. Wir liefen zwar immer mal in der Bank aneinander vorbei. Ich grüße sie stets mit einem verschmitzten Lächeln, sie meistens schweigend. In der Lehrzeit wird man immer wieder in eine andere Abteilung versetzt, auch mal in Filialen. Jede Woche musste man in ein Berichtsheft eintragen, was man gelernt hat. Dieses Heft war in der Berufsschule vorzulegen und beim Lehrlingsbeauftragten der Bank. Mir bereitete das Schreiben keinerlei Schwierigkeiten, es sei denn, es gab nur äußerst banale Wissenszuwächse. In der Expeditionsabteilung musste ich morgens unter strenger Aufsicht mithelfen, die eingegangene Post zu öffnen, also die Kuverts total aufschlitzen, rechts, links und unten. Dann wurde sie mit einem Eingangsstempel versehen. Die Briefumschläge wurden gestapelt und tageweise mit Schnüren umwickelt. Sie mussten ein Jahr aufbewahrt werden. Abends wurde die ausgehende Post so gefaltet, dass sie richtig in die Kuverts geschoben werden konnte. Dann wurden die Kuverts mittels einer Klebemaschine zugepappt, in die man mit einer Kurbel betätigen musste und dann einzeln in die Frankiermaschine geschoben werden. Ab ging’s in große Alukisten, die mehrfach verschlossen zur Post gefahren wurden. Diese Vorgänge habe ich auf anderthalb DIN-A-4 ausführlich beschrieben, und zwar von Woche zu Woche wieder dasselbe, so lange ich dieser Kellerabteilung zugeordnet war. Die Folge: Ich wurde zur Direktion gerufen, zum Lehrlingsbeauftragten, und ermahnt. Was ich mir wohl dabei dächte? Damit würde ich ja der Bank schaden.

„Aber was soll ich denn schreiben? Ich soll doch im Berichtsheft wahrheitsgemäß schildern, was ich in der Woche gelernt hatte.“ Der Schalk steckte mir im Nacken; denn am liebsten hätte ich ja geschrieben „Nichts!“ Aber damit hätte ich mir mit Sicherheit grässlichen Ärger eingehandelt. Ich solle schreiben, wie wichtig die sorgfältige Behandlung der Eingangs- und Ausgangspost sei, damit nichts verloren geht, Fristen und Termine eingehalten werden. Nur – darüber hatten meine Vorgesetzten im Keller nie ein Wort verloren. Die unterhielten sich über Fußball, über die besten Bierkneipen, wo es das beste Düssel (ein obergäriges Bier) gibt, über Autos und Motorräder, ihre Familien oder Weiber. Wahrheitsgemäß hätte ich darüber berichten müssen.

Miss Steinbörger ließ uns nur Englisch sprechen oder was wir für Englisch hielten. Fehler korrigierte sie auf die liebenswürdigste Weise. Und sie machte uns damit vertraut, dass man sich in englischen Clubs nur mit Vornamen anreden würde. Das sollten wir doch auch so halten, es sei denn, jemand möchte das nicht. Und sie sei für uns die Mary.

Feinfühlig, wie Frauen nun einmal sind, blieb ihr nicht verborgen, dass ich mein Augenmerk verstärkt auf Annette gerichtet hielt. So glaubte sie mir einen besonderen Gefallen zu erweisen, dass sie uns beide immer wieder zu Übungsgesprächen aufrief.

„Annette, would you please ask Mr. Martin after the way to the main-station?“

“Please, Mr. Martin, can you show me the way to the main-station?” Immerhin – ein halbes Du!

“It’s a pleasure to me to show you the way to the main-station, and however as I myself must just go to the main-station I should be glad to accompany you, if you don’t mind!”

Mary konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. So wie ich. Nur Annette blieb versteinert. Zu Miss Steinbörgers fortschrittlichem Unterrichtskonzept gehörte es auch, dass wir immer mal gemeinsam das Amerikahaus verließen und zum Beispiel an den Rhein gingen, auf dem Weg Smalltalk „only in English please!“ probten, einander die Sehenswürdigkeiten wie etwa das Rathaus oder ein Standbild erklärten und so schnatternd das Ufer erreichten. Annette gab sich Mühe, Abstand zu mir zu halten, aber Mary hatte ihren Spaß daran, uns beide zu verkuppeln. Je offensichtlicher dies geschah, um so mehr suchte Annette ausgerechnet Zuflucht zu ihr. Beide redeten länger auf einander ein, Mary schelmisch und eloquent, Annette scheu und verschüchtert.

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