Cyril oder die Spuren der Liebe

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Cyril oder die Spuren der Liebe
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Werner Siegert

Cyril oder die Spuren der Liebe

Schicksalsroman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Grüß Gott !

Es dämmert zweimal

Poltergeister

Besuch

Intermezzo

Locker vom Hocker

Theres

Nacht

Versteckspiele

Sabine

Irritationen

In Sehnsucht nach Octo

Remigius

Die Heimkehr

Bei Nacht und Nebel

Kitsch, Kunst und Kostbarkeiten

Carola

Zum Autor:

Vom selben Autor erschienen u.v.a.

Impressum neobooks

Grüß Gott !

Ich hatte nicht gedacht, dass es so schnell klappen würde. Heute erst war meine Anzeige in der Zeitung erschienen, ganz klein, unter "Vermischtes", und nun sollte es schon in einer knappen Stunde losgehen.

Aber am besten stelle ich mich erst einmal vor: Cyril Ronikoff. Sie tippen auf Russland oder Bulgarien? Nicht auf Kanada? Frankreich? Oder Österreich? Also, von dort überall kommen meine Vorfahren. Ich verlebte meine frühe Kindheit als Handgepäck, schaukelnd, bis ich irgendwo, in einem Auto, Flugzeug oder Zug abgestellt wurde. Eigentlich ist damit schon alles über mich gesagt. Mein Vater opferte sein Leben dem diplomatischen Dienst, meine Mutter dem Kisten- und Kofferpacken, dem Umziehen, dem Ein- und Ausschulen. Und meiner Edukation. Außerdem musste sie ständig mit anderen Münzen umgehen lernen und das Wichtigste in verschiedenen Sprachen einkaufen können, sofern ihr nicht eine Paola oder Carenne - an die beiden erinnere ich mich am allerliebsten - diese Alltäglichkeiten abnahm.

Das "Handgepäck" musste immer mit, blieb in allen Schulen Exot, lernte von all diesem gescheiten Kram nur Bruchstücke. Überall ergatterte ich ein Puzzlestück an Wissen und Erkenntnis, aber leider jeweils aus einem anderen Karton. Dass ich die Teile aus Indien, Singapur, Sydney, Washington und Wien dennoch einigermaßen zusammenzufügen lernte, verdanke ich meiner Mama. Sie war meine liebste Lehrerin. Zunächst, weil ich gar zu gern auf ihrem Schoß saß und meinen Kopf an ihren Busen schmiegte. Später habe ich mich ganz und gar in sie verliebt. Sie war das, was man ein rassiges Weib nennen mochte. Aus dem slawischen Völkerverschnitt war eine schwarzhaarige Schönheit erblüht, die ich mir früh zur Geliebten erkor, zumal sie in meinen Augen mit ewiger Jugend gesegnet schien. Mochten Paola und Carenne dem kaum Vierzehnjährigen unvergessliche Lektionen in wollüstigen Umarmungen gewähren und so den Biologieunterricht auf sehr angenehme Weise ersetzt haben, zwischen ihren Schenkeln und Brüsten übte ich Verrat, denn mein Sinnen und die Sinnlichkeit - mag man mich schelten und der Hölle überantworten - galt nur Mama.

Nun ja, das alles sind bereits zuviel der Worte über mich. Wen wundert es, dass aus dem früh verführten Herum-Zögling kein sonderlich normaler Bürger wurde, mit einem normalen Beruf und normalen Tageslauf. Unstet, wie ich Kindheit und Jugend verbrachte, blieben meine Exkursionen in das Erwerbsleben. Zwar geizte Fortuna nicht mit Erfolgen, doch lockte stets das Neue, das Andere. Routine strangulierte mich. In meinen "crazy forties", der Manneskrise in der Lebensmitte, erlag ich der Versuchung, Romanschriftsteller zu werden, ein höchst erfolgreicher, versteht sich. Und mein Erstling stapelte sich bald schon zu vielen hundert Zetteln, mühsam gebändigt durch Gummiringe und alte Briefumschläge.

Doch der Versuch, die Story zügig und aus einem Guss ins Reine zu tippen, war wochenlang gescheitert. Meine Bude war ganz allmählich, aber offensichtlich in den Allgemeinbesitz von Freunden und Freundesfreunden, dito Freundinnen und diskutierwütigen Kaffee-, Tee- und Whisky-Schmarotzern übergegangen. Die einzige Arbeit, die ich völlig ungestört verrichten konnte, war das Spülen des Geschirrs. Hätte ich nur mehr davon gehabt, so wäre es mir durch anhaltendes Geklapper vielleicht sogar gelungen, die Besucher zu vertreiben, jedenfalls jene, die es mit einem Restbestand von Gewissen nicht vereinbaren konnten, mir so lange zuzuschauen.

Da kam mir der Gedanke zu entfliehen. Per Inserat fragte ich in der ABENDZEITUNG, wer wohl einem Schriftsteller für die Dauer der Reinschrift eines Romans ein möglichst ruhiges Ferienhaus im Alpenvorland bei geringen Kosten vermieten würde.

Und schon am Vormittag meldete sich eine Frau unbestimmbaren Alters. Sie stutzte zwar bei "Cyril Ronikoff" und fragte dreimal zurück, doch als ich ihr versprach, auch den Rasen zu mähen, Laub zusammenzuharken und auf den Komposthaufen zu schichten, die erfrorenen Dahlien abzuschneiden und den Zaun zu reparieren, verlor sie ihre Angst, in die Hände des russischen Geheimdienstes zu fallen. Im übrigen müsse sie schon heute am Nachmittag hinausfahren, da passe es ihr gut, wenn ich mir das Häuschen gleich einmal ansehen könnte.

In aller Eile warf ich, was man so für vierzehn Tage, drei Wochen braucht, in einen Koffer. Besorgte Papier, eine Toner-Kassette, falls die alte schwächeln sollte, und packte meinen IT-Kram zusammen. Informierte eine Freundin, die aufgrund ihres unendlichen Mitteilungsdranges für rasche und weite Verbreitung sorgen würde, über eine plötzliche Reise und brachte ein paar Blumenstöcke zur Erholung in die Nachbarschaft.

Carola Pfänder hieß die Dame. Das Telefonbuch erwies sich als diskret. Zwar gab es viele Pfänders, aber keine Carola. Auch unter Fender oder Fänder suchte ich vergebens. So blieb alles offen. Ob sie Rechtsanwaltsgattin oder die Frau eines Diplomkaufmanns war, einem Tierarzt vermählt oder "nur so etwas" war, ich konnte es vorher nicht enträtseln. Aber pünktlich war sie - auf die Minute.

Frau Pfänder musterte mich mit unverhohlener, immerhin aber auch verständnisvoller Neugier. Hatte sie doch zumindest gegenüber meiner Telefonstimme den Mut bewiesen, diesem Ronikoff ihr Häuschen in den Voralpen anzubieten. Trotz oder gerade wegen ihrer schon auffällig schlichten Erscheinung konnte ich mir dieses Häuschen nicht als gammelige Bruchbude vorstellen, sondern blieb nach unserm ersten Händedruck bei meiner Traumvision "Chalet".

Carolas Stimme war viel sanfter, ausdrucksvoller, als ich sie vom Telefon her in Erinnerung behalten hatte. Ihr Alter schätzte ich auf Mitte bis Ende 40. Silberfäden in ihrem schlicht nach hinten gekämmten, langen dunklen Haar, kleine Falten und eine fast durchscheinende weiße Haut konnten gut und gern auch eine "jugendliche Fünfzigerin" verraten. Stirn und Nase verliehen ihrem Gesicht ein ausgeprägtes, interessantes Profil, von dem ich spontan auf Malerin oder Bildhauerin tippte. Sie trug nicht eine Spur von Make-up, einen schlichten, trachtengrünen Rock und einen hellgrauen, kaum gewölbten Pullover. Lebhafte, fast schwarze Augen trafen sich mit meinen Blicken.

Schon damals, in den ersten Sekunden unserer Begegnung, hätte ich ihr aus vollem Herzen sagen können: "Ich liebe Dich". Viele andere Frauen, die mir in meinem Leben begegnet waren, mussten lange oder gar vergebens auf diesen wahrscheinlich lang ersehnten Satz warten. Indes, ich liebte nur meine Mutter. Das Bild, das sich mir tief eingeprägt hatte, als sie - schöner denn je - schon Ende 30 an Krebs verstarb, verließ mich nie. Und der Verrat im Lotterbett Paolas, die gespielte Leidenschaft, mit der ich Carenne ihre hitzige Lust vergalt, diese Unaufrichtigkeit blieb seit je her mein Problem. Und nicht nur meins.

Carola lächelte, als sie meinen Hausstand besichtigte. Diese Mischung von Wohnkultur und Chaos, von dekorativer Strenge und hingeworfener Lässigkeit, so gestand sie mir später, habe in ihr spontan den Wunsch geweckt zu bleiben. Yin und Yang seien die ersten Worte gewesen, die sich auf ihrer Zunge formten.

So wurden wir uns auch schnell einig, nicht mit zwei Autos nach Inzell zu fahren, sondern meines zu nehmen, und ich würde sie nach Traunstein chauffieren, damit sie von dort per Zug zurück nach München reisen könne. Ihre "Ente" blieb derweil auf meinem Mietparkplatz zurück.

Fünfviertelstunden Fahrt durch einen goldenen September erschienen mir bereits wie eine Hochzeitsreise. Häufig schaute ich forschend zu meiner Beifahrerin hinüber. Was war es, was mich für diese Frau so einnahm? Ich hatte es nicht nötig, ältere Damen zu trösten. Carola erschien mir überdies als eine Frau jenseits jeder Andeutung dessen, was man Sexappeal zu nennen pflegt. Die langen Haare allenfalls, die sich noch gut zu Zöpfen flechten ließen, jetzt schlicht mit einem dunkelgrünen Samtband zusammengehalten, zierten sie mit einem äußerst weiblichen Attribut. Saß da ein Mutterabbild neben mir? Häufte mein Gehirn die ganzen Sympathien und die Liebe, die Zeit meines Lebens der Mama gehörten, auf diesen Typus Frau?

 

Frau Pfänder - ich musste mich geradezu zwingen, sie nicht mit Carola anzureden - erhielt zwischen Ramersdorf und dem Chiemsee eine moralisch integre Fassung meines Lebenslaufs. Natürlich galt die Neugier meinem Buch, doch äußerst schüchtern vorgebracht. Und die Enttäuschung war gar nicht zu überhören, als ich ihr gestehen musste, dass es mein Erstling sei und so kein Wunder, dass sie noch nie von einem Cyril Ronikoff ein Buch gefunden habe.

"Es brennt etwas auf meiner Seele", gestand ich ihr. "Mit diesem Buch, mit seinen Gestalten und Szenarien möchte ich zuallererst herausfinden, wie ich selbst zu dem geworden bin, was ich bin!"

"Und das wird andere interessieren? Ich will Sie nicht verletzen, aber wer ist schon Ronikoff? Ein Werbetexter, ein Journalist, ein Reiseleiter, ein Hobbytöpfer, oder was nicht noch - aber reicht das? In einer Zeit, in der jedes Jahr zigtausende neuer Bücher erscheinen?"

"Natürlich nicht. Doch selbst, wenn, was ich schreibe, nie gedruckt würde, ich müsste es tun. Die Zettel, Notizen, Skizzen, die ich da gebündelt habe, sie sind im Fieber entstanden, in der fiebrigen Suche nach .... ja, nach was? .... nach den Spuren der Liebe."

"Und so etwas soll heute gelesen werden? In dieser liebe-losen Zeit, noch schlimmer, in einer Zeit, in der kaum jemand wirklich zu lieben versucht? Zu lieben wagt? Nicht einmal sich selbst? Lieben, das übersetzt man doch heute mit Sex, mit Bett. Und da glauben sie, es gäbe genügend sensible Menschen, die mit Ihnen auf die Spurensuche nach etwas gehen, was sie nie kennengelernt haben?"

"Vielleicht gerade deshalb? Und wenn es nur .... nur die Spuren der Mutterliebe sind, die jemand in sich wiederfindet und ihnen folgend den Weg zu einem Nächsten findet!"

"Mutterliebe!" Sarkastisch, ja, fast zynisch wiederholte diese Frau das Wort, und weil sie dabei ihre Stimme nur ganz wenig hob, war die Verletzung nicht zu überhören, die sich hier in eine Mutterseele eingeätzt hatte.

Doch dabei blieb's. Je mehr ich Neugier zeigte, Fragen stellte, desto entschiedener verstummte sie und deckte Schweigen über offensichtlich schwere Jahre.

Wir hatten die Autobahn verlassen und steuerten auf eine Bergkulisse zu, die in der späten Nachmittagsonne prangte. Ein Feldweg nahm uns auf und wand sich - meine Neugier höhnend - über viele staubige Kilometer dahin. Zuletzt umfing uns noch der Wald, dann kam ein Bauernhof. Carola ließ mich anhalten. Gemeinsam betraten wir den niedrigen Flur des sicherlich mehr als zweihundert Jahre alten Wohnhauses. In der Küche trafen wir die alte Hanna, eine Bäuerin wie gemalt. Mit Gesichtszügen, die so zerfurcht waren, dass man ebenso hätte annehmen können, sie habe ein Leben lang geweint oder gelacht.

"Hanna", schrie ihr Carola fast ins Ohr, "der junge Mann hier wohnt für ein paar Tage in unserem Haus! Und seinen Namen kannst Du gar nicht sprechen: C-y-r-i-l ! Also, versorg ihn gut. Geht's gut so weit?"

Die Hanna nickte nur. An ihrer Schürze wischte sie die Hände ab. Sie hatte eine Wanne voller Äpfel zerschnitten. Dann schaute sie mir ganz fest ins Gesicht und trat so nah auf mich zu, als ob sie mich betasten wollte wie die Knusperhexe den Hänsel.

"Soo, soo!" war ihr ganzer Kommentar. "Is' ollweil guat, Carla!"

Und kicherte auch wie die Alte im Märchen. "Die Theres, die is nuffa mit'm Baby!"

Ich musste mich anstrengen, die Oma zu verstehen. "Nuffa" war eine Stiege höher. Carola ließ mir - ihrem Knigge auch in dieser bukolischen Umgebung treu - den Vortritt. Eine amüsante Fehleinschätzung, denn oben angekommen lugte die Theres aus der Tür, mit einer prallen, hellleuchtenden Rubensbrust und ihrem milchprustenden Hannes auf dem Arm. Beim Anblick eines fremden Mannsbildes entfuhr ihr ein schriller Schreckenslaut. Kreischend floh sie zurück in die Kammer. Carola drängte sich an mir vorbei und schob sich wie ein lebendiger Paravent zwischen Mutterglück und Voyeur. Wohlerzogen knarzte ich die Treppe wieder hinab und wartete, von einem jungen Kätzchen umschmeichelt, am Auto.

"Die Hanna kennt mich schon als Kind, kennt meinen Vater noch und meinen Mann! Hier auf dem Hof bekommen Sie alles, was man so braucht. Zweimal in der Woche fährt der Micha auf Inzell und bringt alles mit, was man ihm aufträgt", erklärte mir Carola nach der Baby-Inspektion.

Dann stiegen wir wieder in meinen Wagen und holperten den Feldweg weiter. Ganz plötzlich tauchte rechts, ein wenig abseitig hinter einer alten, vergreisten Fichtenhecke das "Häuschen" auf. Ein altes Jagdhaus oder war es ein Austragshäuserl gewesen, in das sich früher der Altbauer und seine Frau zurückgezogen hatten, wenn die Jungen den Hof übernahmen? Es stand längs zum Weg, der hier in einer Linkskehre im Wald verschwand. Unten dicke Steinmauern, oben - sichtbar neu - alles aus dunkelbraunem Holz, und zu meiner großen Freude ein Balkon über die ganze Frontseite, mit Blick weit ins Tal und zu den Bergen hinüber. Über dem Gartentor, üppig berankt mit Glyzinien, stand in kaum noch lesbarer Schrift "Grüß Gott!".

Ich kam mir vor wie in einem Heimatfilm. Verdammt einsam! zischelte mein Unterbewusstsein. Direkt zum Gruseln, mit dem schwarzen Wald dahinter und der schnellen Dämmerung über dem Land vor uns. Da war sie wieder, meine alte Angst, alleingelassen zu werden.

Carola musste meine Mimik richtig gedeutet haben, denn sie meinte nur "Aber Strom hat's!" und lächelte mich an.

Über einen kurzen Kiesweg liefen wir durch ein üppiges, herbstliches Blumenmeer auf die wettergezeichnete Tür zu.

Zwei Schlösser waren zu bezwingen. Carola zeigte mir die Schlüssel. Ein Sicherheitszylinder und ein altes, rostiges und quietschendes Türschloss, das einen schweren, zickzackbärtigen Schlüssel aufnahm. "Es ist wegen der vielen Diebstähle. Auch die Fenster haben wir hinter den Läden noch vergittern müssen. Und es gibt eine Alarmanlage zum Bauern hinüber."

Als die Tür endlich nachgab, schlug uns ein muffiger, kalter Geruch aus dem Flur entgegen.

"Da sind wir! Hoffentlich gefällt es Ihnen, Sie fühlen sich wohl und finden hier Ihre .... Spuren der Liebe!"

Es dämmert zweimal

Ich fand sie - die Spuren der Liebe. Doch wir beide ahnten damals noch nicht, auf welche Weise.

Schon dieser erste Eindruck! Als die aufgestoßenen Fensterläden spärliches Licht auf die Wände im Flur fallen ließen, nahm ich viel mehr auf, als mir zunächst bewusst wurde: Bilder über Bilder! Kleine, große, kunstvoll gerahmte Ölbilder neben einfach aufgespannter Leinwand. Gebirgsszenen, Waldstimmungen, Tierbilder, Pflanzen, einige Portraits, dazwischen auch nur halb ausgeführte Studien. Es gab schier keinen Platz mehr an der Wand, wo man noch ein Bild hätte unterbringen können.

Carola hatte wohl auf diese meine Verwunderung geradezu gewartet, hatte sie förmlich inszeniert. Als ob sie die Wirkung dieses Überraschungseffektes noch hätte steigern wollen, knipste sie in rascher Folge kleine Lampen an.

"Mein Vater war Kunstmaler, müssen Sie wissen. Professor an der Kunstakademie. Alte Münchner Schule. Und dies hier draußen war sein Tusculum, sein Paradies, sein Arkadien. Sein Ein und Alles - neben mir!"

Ich stand, das wurde mir blitzartig klar, im Entrée einer Kultstätte.

Welch' ein Leichtsinn, Menschenkenntnis wahrlich nicht zu nennen, einem inserierenden Möchtegernliteraten diesen Musentempel wochenlang (!) allein (!) zu überlassen! Ja, war denn diese Frau von allen guten Geistern verlassen? Dabei war die Galerie im Vestibül und an der steilen Treppe zum Obergeschoss nur die Ouvertüre. Carola führte mich wie ein Kustos durch die Räume zu ebener Erde.

Da war das große Wohnzimmer mit zwei breiten Fenstern, eingerahmt von Ranken glutroten wilden Weins. Sie wirkten mit dem Blick auf das Gebirge dahinter ebenfalls wie ein Gemälde in diesem Rund. Zwischen den Fenstern - noch verschlossen - eine Tür, oben zu einem kleinen Torbogen gerundet. Mit Eisenstangen von innen gesichert. Entsetzliche hochherrschaftliche Möbel! Mit ihren polierten Edelhölzern und kunstvollen Drechslerarbeiten eine Zierde für jede Schwabinger Professorenwohnung. Hier aber, in der alten Bauernstube, nur ein Alptraum aus Jugendstil und Klassizismus. Mottenkugeln halfen altem Plüsch zu überleben. Und über allem immer wieder Vaters Ölgemälde! Mochten sie nun Kunst oder Kitsch sein, sie erdrückten mich.

Hätte ich nicht den weiten Holzbalkon unter dem Giebel erspäht, als ich durch die Gartenpforte lugte, hier - in dieser musealen Gruft - hätte es für mich nur eines gegeben: F l u c h t ! Keine Zeile meines Buches hätte ich in diesem überfrachteten Salon zu Papier gebracht.

Mit geheuchelter Hochachtung nahm ich auch die Ölschinken im kleinen Doppelschlafzimmer zur Kenntnis. Bilder selbst in der Küche - und ein röhrender Hirsch im Klo. Nur das winzige Bad war verschont geblieben. Sehnsuchtsvoll steuerte ich die Stiege an, um diesem deplatzierten Großbürgermief zu entkommen. Agatha Christie hätte hier filmen können.

"Ja, dort oben wäre dann Ihr Reich!" Trostvolle Worte aus Carola Pfänders Mund.

Gottlob, des Vaters Plüsch und Palette hatten hier nur wenige Spuren hinterlassen. Die schrägen Wände setzten wohl weiteren Versuchen Grenzen, allzuviele der unverkauften (und unverkäuflichen?) Erbstücke anzubringen. Hastig half ich, Tür und Fensterläden zu öffnen, um das letzte Tageslicht - und vor allem Luft! - hineinzulassen. Oh, wie mich das versöhnte! Wie der Schock von mir wich! Als ob ich just aus einem Grab auferstanden war, so fühlte ich mich.

"Von hier oben haben Sie den allerschönsten Blick. Es ist mein Lieblingsplatz! Wir haben das ganze Obergeschoss völlig renovieren müssen. Ursprünglich war hier das Atelier meines Vaters. Die Wand zum Balkon total verglast und eine Art Wintergarten davor. Aber der Rost hatte das eiserne Gerippe angefressen, so dass wir es abreißen mussten."

Wie dankbar ich diesem Rost war! Nun war alles gut "alpin" gestaltet, mit solidem Holz. Auch die sanitären Anlagen hatten von der Modernisierung profitiert. Es gab eine moderne Dusche, einen Durchlauferhitzer und einen erleuchteten Spiegel ohne röhrenden Hirsch oder balzenden Auerhahn. Und noch eine kleine Kammer für die Wäsche und allerhand Kram.

"Sagt es Ihnen zu?"

"Hier oben ja!" lächelte ich zurück. "Unten fürchte ich mich!"

"Aber Sie können alles fest verriegeln!"

Carola verstand mich nicht.

Langsam schlenderten wir durch das Wohnzimmer hinaus in den Garten. Ich war überrascht, dass plötzlich wieder viel mehr Sonne über der Landschaft lag. Die langen Schatten - hatten sie nur von mir Besitz ergriffen, als sich der Geruch von Terpentin und Mottenkugeln auf mich herabsenkte?

Ich streichelte die zarten Cosmeen, nahm zärtlich eine halbverblühte Bauernrose in beide Hände, wie einen Mädchenkopf, und sog den letzten süßen Duft ein. Spinnenblumen reckten sich dem letzten Licht entgegen, die Samenschoten prall gefüllt. Und Dahlien! Eine solche Pracht - und keineswegs vom Frost dahingerafft. - Carola war vorausgegangen und hatte mich beobachtet.

"Sie lieben Blumen?"

"Ach ja, ich liebe die Blumen, die Gräser, die Tiere. Ich liebe einfach alles, was natürlich ist. Steine, alte Hölzer. Und Menschen, die ihre Natürlichkeit bewahren konnten. Kinder, zum Beispiel, sind mein Ein und Alles."

"Ist es Ihnen nicht aufgefallen, dass es wieder hell geworden ist?"

"Oh, ich dachte, das hätte etwas mit mir zu tun, mit meinem Gemüt oder so ....?"

"Nein, wir haben hier um diese Jahreszeit und im Frühling, wenn die Sonne abends schon oder noch recht tief steht, eine doppelte Dämmerung. Zuerst verschwindet die Sonne hinter diesem Berg dort. Aber dann kommt sie zwischen einem tiefen Taleinschnitt, den man von hier aus gar nicht sehen kann, für eine kurze Weile wieder hervor und taucht noch einmal alles in ein wunderbares Licht! Früher, als mein Vater noch lebte und ich klein war, setzten wir uns draußen in einen alten Schaukelstuhl, kuschelten uns in eine warme Decke und er erzählte mir immer neue Geschichten über die Sonne, warum sie noch einmal zurückkäme. Natürlich tat sie es in seinen Fabeln stets, um die kleine Carla noch einmal zu grüßen und ihr Gutenacht zu sagen. Danach musste ich dann unwiderruflich ins Bett."

 

"Und jetzt? Was fühlt Carola Pfänder jetzt, wenn es zum zweiten Male dämmert? - Sie müssen sagen, wann ich Sie nach Traunstein bringen soll."

"Ach nein, ich hab’s mir überlegt. Ich bleibe noch bis morgen. Dann habe ich den ganzen Sonntag für den Garten, für diese Wildnis hier. Und kann Ihnen auch was kochen!"

"Haben wir denn irgendetwas zum Kochen? Sonst lade ich Sie in eine Wirtschaft ein!"

"Aber nein, die Theres bringt uns nachher Brot und Eier, Milch und alles, was wir brauchen. Bier und Wein ist noch im kleinen Keller. Also, uns fehlt nichts! Und Pilze hat’s. Brombeeren hinten am Kompost und an der Hecke. Herr Ronikoff, hier kann man’s aushalten. Sie werden’s sehen!"

Ich holte meine Sachen aus dem Auto. Carola half mir, dies und jenes in Schubladen einzuräumen.

"Ihre Freundin?" fragte sie, als ich das Foto meiner Mutter auf den Tisch stellte, den ich mir als Arbeitsplatz und Schreibtisch ans Fenster gerückt hatte.

"Ja, meine Herzallerliebste ...."

Welche Wirkung hatten diese Worte auf Carola? Schelmisch schaute ich ihr in die Augen.

"Eine wunderschöne Frau! Und wo ist sie heute? Warum haben Sie sie nicht mitgebracht?"

"Sie ist tot. Es ist meine Mutter!"

"Oh .... verzeihen Sie!"

"Nein, ich muss Sie um Entschuldigung bitten. Schließlich war ich es, der Sie in die Irre geführt hat."

Carola nahm das Bild in ihre Hände. Sie schaute es nachdenklich an. Verglich wohl Mutters Züge mit den meinen.

"Sie war der einzige Fixpunkt in meinem Leben. Alles andere lief wie ein Film vor meinen Augen ab. Die Bilder wechselten in rascher Folge. Eine neue Stadt. Ein neues Haus. Neue Zimmer. Neue Gesichter. Neue Besucher. Neue Spielkameraden. Neue Wörter, eine neue Sprache. Anderes Essen. Aber eine war wie immer: Mama. Ihre Augen. Der Duft ihrer Haut, der zärtliche Kitzel ihrer Haare. Ihr Hals, um den ich meine Arme legen konnte. Sie war in meinem Leben das Auge des Hurrikans."

"Wunderbar, Sie so von Ihrer Mutter sprechen zu hören."

"So wie Sie von Ihrem Vater sprechen und ihm noch heute das Haus besorgen .... Wo ist Ihr Mann? Und gibt es Kinder?"

Abrupt und sehr energisch stellte sie das Bild auf den Tisch zurück. Sie schien verletzt.

"Mein Mann verließ mich früh. Ich möchte nicht darüber sprechen .... Es wäre mir sehr lieb, wenn wir ein striktes Abkommen schließen könnten: Sie lassen mich aus Ihren Grübeleien über die vermeintlichen Spuren der Liebe heraus. Ich bin nicht sehr ergiebig für die Psychologie. Und möchte Dinge nicht ausgraben, die ich längst beerdigt habe!"

Ein wenig zu geschäftig lief sie jetzt davon und bot mir keine Chance, auf das von ihr diktierte Abkommen überhaupt zu reagieren. Die kalte Abfuhr ließ mich ein wenig benommen zurück. Nachdenklich räumte ich den Koffer aus, schob Utensilien von hier nach dort und von dort nach hier. Man musste kein Psychologe sein, um das Knistern zu spüren, das in der Atmosphäre dieses Hauses lag. Ein Knistern, wie es sich in einem Staudamm hören lässt, der brüchig wird.

Mein kleines Uralt-Radio sog neue Stationen durch die abgebrochene Antenne, die nölige Hektik österreichischer Sportreporter, Hackbrett und Viergesang zum Feierabend, den maschinellen, seelenlosen Rumsbums irgendwelcher Rock-Sounds. Ich schob Chopins 1. Klavierkonzert in den Kassettenschacht und streckte mich auf meiner Liege aus, um die ersten Takte in mich einzusaugen. Und zu warten, bis Halina Stefanskaja die Perlenklänge des Klaviers darüber legte. Musik, aus der die Stimme meiner Mutter sprach. Und meine ungestillte, unstillbare Leidenschaft.

Mitten im zweiten Satz bemerkte ich, dass Carola lauschend in der Tür stand.

"Einen Rotwein zum Abendessen?"

Ich nickte nur, um die Elegie der Klänge nicht zu stören. Carola setzte sich, sie stützte ihren Kopf auf ihre Hände. Das Haar, das sie jetzt offen trug, fiel wie ein Witwenschleier über ihr Gesicht.

Der Abend hätte gut und gern zum dritten Mal Sonnenschein gebrauchen können. Doch er blieb frostig. Wir saßen über Eck am schweren Esstisch. Die Theres hatte Wurst, Eier, Käse, Butter und dunkles Landbrot vorbeigebracht. Und Milch - obwohl ich Milch nicht runter brachte. Ich hielt mich an den dunkelroten Trollinger. Ein guter Tropfen, der mein Gemüt so recht zu stärken vermochte gegenüber dem Ölgemälde einer föhngelben Voralpenlandschaft, die mich aus einem dicken schwarzen Bilderrahmen niederzudrücken versuchte.

"Wir haben uns noch nicht über die Kosten unterhalten ...."

"Welche Kosten?"

"Nun, für Wohnen und die Wäsche und was sonst noch so zusammenkommt!"

"Ach so, also nein, für Wohnen und so brauchen Sie mir natürlich nichts zu zahlen. Ich freue mich, Ihnen unser Paradies anbieten zu können, freue mich, dass diese Wände wieder einen Sinn bekommen. Den Sinn, den sie immer hatten: künstlerischem Schaffen Ruhe und Konzentration zu bieten. Und die Vorräte? Die ergänzen Sie einfach wieder. Die Wäsche macht die Theres. Geben Sie ihr ein paar Euro, dann ist sie glücklich und zufrieden."

"Wie kommt`s, dass Sie so ein Vertrauen zu mir haben? Ich bin doch ein Wildfremder für Sie. Ein Inserent. Ein unsteter Typ. Und dann wollen Sie mir diesen Tempel hier anvertrauen. Mit allen Ihren Schätzen?"

"Ich weiß es selber nicht. Nennen Sie’s einfach Zufall. Oder Fügung. Ich lese sonst höchst selten mal die Anzeigen unter "Verschiedenes", und dann eher, um mich daran zu vergnügen. Da grüßt irgend so ein Brummelbär seine Zuckermaus. Oder es sucht "Brahmskonzert, Block R, Reihe 5, Platz 3 die Pferdeschwanzdame von Platz 4." Ja, und da fand ich dann Ihren Notruf. Erst hab’ ich ihn überblättert. Dann ging er mir nicht mehr aus dem Sinn. Schließlich rief ich Sie an. Natürlich hätte ich mich durch die Stimme täuschen können. Unser Hirn kramt dann ja irgendwelche Ähnlichkeiten heraus, mit dem oder jenem und überträgt das auf den Unbekannten. Aber als ich Ihre Wohnung sah, da war ich mir ganz sicher: Ich kann Ihnen vertrauen. Und ...."

Sie stieß mit mir an und schaute mich mit ihren traurigen, schwarzen Augen an. Die Augenränder füllten sich mit Tränen.

„Und?" fragte ich. "Was war da noch?"

Sie tupfte sich die Augenwinkel mit der Serviette aus.

"Und? Ja, wie soll ich sagen: Ich vertraue Ihrer Mutter. Das Bild .... und wie Sie über Ihre Mutter sprachen. So spricht kein Mann, der hier nächste Woche das Haus ausräumt."

So sehr ich auch spürte, dass sich hinter diesen Sätzen eine Art Liebeserklärung verbarg, so sehr blieb ich gehemmt. Ihr Wunsch, das Tabu sozusagen, nicht über sie und ihre Familie zu sprechen, blockierte eigentlich jeden weiteren Satz. Mein Vorrat an Belanglosigkeiten, mit denen ich die Konversation hätte bestreiten können, war sehr beschränkt.

"Wer sind Sie nur?" Mit dieser Frage endete unser kleines Abendessen. Ich stellte sie, als ich schon im Aufstehen begriffen war. Und so, dass sie deutlich hören konnte, ich würde keine Antwort erwarten.

"Am besten rühren Sie nicht dran. Ihre Geschichte könnte jäh in Fetzen gehen. Spuren der Liebe - Gott erhalte Ihnen Ihre heile Welt!"

Meine Hilfe in der Küche lehnte sie mit einer Schroffheit ab, wie ich sie nun schon mehrmals hatte aufblitzen sehen. Fast so, als hätte ich eine Intimzone durchbrochen. Doch traf mich’s diesmal völlig unverhofft. Es war wie ein Schlag auf die Finger eines ungezogenen Knaben. So streng beschied sie mich, als hätte ich ihr einen zwielichtigen Antrag gemacht.

So zog ich mich denn wortlos in den Oberstock zurück und suchte mein Gleichgewicht wieder durch die Musik zu finden. Mit einem kleinen Stoß Notiz- und Manuskriptblättern kauerte ich mich auf die Liege.

Es war ein fiktiver Dialog zwischen Jasmin, einer früh gescheiterten "Beziehung", und mir. Ein Streitgespräch, ob es wohl gelingen könnte, Kinder so zu erziehen, dass sie ganz ungeprägt, unbeeinflusst von den Eltern ihren Weg ins Leben gehen könnten - was ich heftig verneinte.

"Du musst doch einmal diese Fesseln abwerfen. Du kannst doch nicht ständig diesen Trott, diesen Muff, diese Pseudolehren aus Religion und Ideologie, weitervermitteln wollen. Das ist doch zum Kotzen. Wenn du dich schon nicht freimachen konntest von diesen Spinnweben einer überkommenen Zeit, dann gib doch wenigstens Kindern diese Chance!"

Ich weiß noch, Jasmin hatte mir diese Sätze ins Gesicht gebrüllt. Das hätte nichts, aber auch gar nichts mit antiautoritärer Erziehung zu tun, sondern nur mit dem sorgfältigen Umgang Erwachsener mit der Freiheit des Kindes.

"Und wenn deine Kinder dich zur Bezugsperson erwählen? Wenn sie dich imitieren wollen? Gerade weil du so bist? Wie willst du’s ihnen verwehren?"

"Dann musst du sie anderen anvertrauen. So wie in einem Kibuz. In einem Kollektiv, wo sich die unterschiedlichen Persönlichkeiten gegeneinander aufheben ...."