Auschwitz vor Gericht

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Auschwitz vor Gericht
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Werner Renz, bis 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter des Archivs des Fritz Bauer Instituts, arbeitet in diesem Band die NS-Prozesse vom Ersten Auschwitz-Prozess unter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in Frankfurt am Main auf, ebenso die Frankfurter Nachfolgeprozesse bis hin zu den jüngsten Verfahren gegen Demjanjuk, Hanning und Gröning. Er analysiert die jeweilige Rechtsauffassung und die Rechtspraxis dieser Prozesse und deren Resonanz in der Öffentlichkeit.

Insgesamt kann ein Versagen der bundesdeutschen Justiz bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen festgestellt werden. Eine uneinheitliche Rechtsprechung in den vergangenen Jahrzehnten hatte eine inkonsequente Justizpraxis zur Folge. Freisprüche und Verfahrenseinstellungen liefen für manche Kritiker auf Strafvereitelung hinaus. Zahllose Holocaust-Täter blieben unbehelligt.

Das Buch gibt einen Überblick über die Geschichte der Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1963 – 1981) und zeichnet das Versagen nicht nur der Justiz, sondern auch der Politik, der Strafrechtswissenschaft, der Zeitgeschichtsforschung und der deutschen Öffentlichkeit nach.

Werner Renz, Autor von Fritz Bauer und das Versagen der Justiz. Nazi-Prozesse und ihre „Tragödie“ (Europäische Verlagsanstalt, 2015), Herausgeber von Interessen um Eichmann (Campus-Verlag, 2012) und Mitherausgeber von Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965). Kommentierte Quellenedition (Campus-Verlag, 2013) und Henry Ormond – Anwalt der Opfer (Campus-Verlag, 2015).


© ebook-Ausgabe 2019 CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

Umschlagabbildung: © Fritz Bauer Institut (Auschwitz-Prozess,

Haus Gallus)

Umschlag: Susanne Schmidt, Leipzig

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung

(auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf

einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und

unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg

der Datenübertragung) vorbehalten.

ISBN 978-3-86393-550-4

Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-089-9

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Einleitung

I. Aufklärung über Auschwitz Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965)

1. Der Sträfling und der Mörder

2. Intermezzo in Ludwigsburg

3. Fritz Bauer tritt auf den Plan

4. Ein engagierter Untersuchungsrichter

5. Anklage gegen 24 NS-Verbrecher

5.1. Hauptverfahren

5.2. Kein Jude kann den Vorsitz führen

6. Auschwitz vor Gericht: Der Prozess

6.1. Beweisaufnahme

6.2. Zeithistorische Gutachten

6.3. Zeugen

6.4. Stimme der Opfer

6.5. Ortsbesichtigung hinter dem Eisernen Vorhang

6.6. Kommissarische Vernehmungen in Polen

6.7. Schließung der Beweisaufnahme

6.8. Plädoyers der Anklagevertreter

6.9. Plädoyers der Opferanwälte

6.10. Plädoyers der Verteidiger

6.11. »Nichts getan«: Schlussworte der Angeklagten

6.12. Urteil

6.12.1. Täter, Mittäter und Gehilfen

6.12.2. Unrechtsbewusstsein

6.12.3. Auch Untergebene machen sich schuldig

6.12.4. Keine Entschuldigungsgründe

6.12.5. Strafmaß

7. Revisionsverfahren und Neuverhandlung gegen Lucas

8. Strafverbüßung

9. Subsumtion von Auschwitz unter den Mordparagrafen

II. Die Frankfurter Nachfolgeprozesse

1. Der gescheiterte Großprozess Der 2. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1965 – 1966)

2. Im Sande verlaufende Ermittlungsverfahren

3. Erfolgversprechende Ermittlungsverfahren

4. Handlanger vor Gericht Der 3. Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen Funktionshäftlinge (1967 – 1968)

5. Skelette für die Reichsuniversität Straßburg Der 4. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1970 – 1971)

6. Erster Abgesang: Verfahren wegen Einzeltaten und Freisprüche Der 5. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1973 – 1976)

7. Zweiter Abgesang: Verfahren gegen Exzesstäter Der 6. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1977 – 1981)

III. Rechtsauffassung und Rechtspraxis in Prozessen gegen Lager-Personal

1. »Die Kleinen« und »die Großen«

2. Konkreter Tatbeitrag oder funktionelle Mitwirkung

3. Prozesse gegen greise »Sündenböcke«?

3.1. Demjanjuk-Prozess (2009 – 2011)

3.2. Gröning-Prozess (2015)

3.3. Hanning-Prozess (2016)

4. Fritz Bauers Vermächtnis

IV. NS-Prozesse und die deutsche Öffentlichkeit

Anmerkungen

Anhang Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland gegen SS-Personal und Funktionshäftlinge von Auschwitz

Personenregister

 

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

Steht in der Bundesrepublik Deutschland die Verfolgung und Ahndung der NS-Verbrechen zur Diskussion, ist immer auch vom Versagen der Justiz die Rede. Doch nicht nur die Justiz hat versagt, sondern auch der Gesetzgeber, die Strafrechtswissenschaft, die Zeitgeschichtsforschung und die bundesdeutsche Gesellschaft. Insofern ist es geboten, die Unterlassungen und Versäumnisse zu erforschen. Ein guter Anlass ist der 50. Todestag des Juristen, dessen Name wie kein anderer mit der Aufarbeitung der NS-Verbrechen verbunden ist: Fritz Bauer (1903 – 1968). Die Untersuchung der sechs Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1963 – 1981) und von ausgewählten Ermittlungsverfahren zeigt, welch weitreichende Folgen das im August 1965 verkündete Urteil in der »Strafsache gegen Mulka u.a.« für die späteren Verfahren gegen Auschwitz-Personal hatte. Die Frankfurter Bilanz sieht nicht gut aus. Hinsichtlich der geleisteten Sachverhaltsaufklärung kann auch der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965) nicht als gelungen gelten. So stellte das Schwurgericht in seinem Urteil das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz unzureichend dar und kam deshalb auch zu falschen rechtlichen Wertungen.

Das Vorhaben des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, durch die Aufklärung von Verbrechenskomplexen die Deutschen mit der NS-Vergangenheit zu konfrontieren, kann nicht als erfolgreich bezeichnet werden. Die Mehrheit der Bundesdeutschen nahm den 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess und auch andere vergleichbare Strafverfahren gegen Personal der Todeslager kaum zur Kenntnis. Bauer war ebenso wie viele kritische Juristen und Zeitgenossen über die Rechtsprechung in NS-Prozessen wenig glücklich. So sprach er im Frühjahr 1966 von der »Tragödie«1 der Verfahren.

Die Gründe für diese negative Einschätzung sollen hier am Beispiel der Frankfurter Auschwitz-Prozesse und auch der letzten Verfahren gegen greise Angeklagte, die in den vergangenen Jahren sich vor Gericht verantworten mussten, aufgezeigt werden.

Die deutsche Gerichtsbarkeit hatte nach 1945 aufgrund der alliierten Gesetzgebung zunächst nur begrenzte Möglichkeiten, die nationalsozialistischen Verbrechen aufzuklären und zu ahnden. Sie erstreckte sich auf Verbrechen von Deutschen an Deutschen und an Staatenlosen. Die Besatzungsbehörden konnten jedoch deutsche Gerichte in einzelnen Fällen, in denen Deutsche Verbrechen an Bürgern der überfallenen Staaten begangen hatten, für zuständig erklären.2 Erst nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war es der bundesdeutschen Justiz gemäß Gesetz Nr. 13 des Alliierten Hohen Kontrollrats (1.1.1950) ohne Einschränkung möglich, auch die NS-Untaten zu verfolgen, deren Opfer Angehörige der im Zweiten Weltkrieg von Nazi-Deutschland unterworfenen Länder waren. Anzuwenden war das zur Tatzeit geltende deutsche Strafrecht.

Von 1950 an bis zur Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (ZSt) im Oktober 1958 haben deutsche Staatsanwaltschaften von Amts wegen jedoch bloß in wenigen Fällen gegen NS-Täter ermittelt. Lagen keine Anzeigen von Geschädigten und Verfolgten vor, blieben die Strafverfolger weitgehend untätig.3 Die hier aus den Gerichtsakten detailliert rekonstruierte Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses ist ein Beleg für diesen Befund. Die bundesdeutschen Verhältnisse Anfang der fünfziger Jahre4 waren für eine von Einzelnen durchaus geforderte justizielle Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht günstig. Die Entnazifizierung war abgeschlossen, aus ihren Ämtern entfernte Angehörige des öffentlichen Dienstes wurden gemäß dem »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen«5 reintegriert. Die in Nürnberg verurteilten sogenannten Kriegsverbrecher waren infolge des ausgebrochenen »Gnadenfiebers«6 und auf deutschen Druck hin von den Alliierten vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Nach Ansicht vieler Deutscher war endlich die Zeit gekommen, einen »Schlussstrich« unter die jüngste Vergangenheit zu ziehen, zumal sich die Bundesrepublik Deutschland als willkommenes Mitglied der »freien Welt« ganz anderen Aufgaben zu stellen hatte.

Der Prozess gegen Martin Sommer vor dem Landgericht Bayreuth (11.6.1958 – 3.7.1958)7, die Flucht des ehemaligen KZ-Arztes Hans Eisele sowie das Verfahren vor dem Schwurgericht Ulm/Donau gegen zehn ehemalige Angehörige der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) Tilsit (28.4.1958 – 29.8.1958)8 verdeutlichten den Verantwortlichen in Bonn, der westdeutschen Justiz und der Öffentlichkeit, dass die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nicht länger zu verdrängen waren9, und die Ahndung durch die Prozesse der Alliierten und die wenigen Verfahren vor deutschen Gerichten10 noch längst nicht abgeschlossen war.

Anfang Oktober 1958 berieten auf einer Konferenz in Bad Harzburg die Justizminister und -senatoren der deutschen Bundesländer11 über notwendige rechtspolitische Schritte, die NS-Verbrechen umfassend aufzuklären. Der vorherrschenden Meinung in der Bevölkerung zuwider, die die Verfolgung und Bestrafung der Täter, die größtenteils unter ihr als unauffällige, anerkannte und geschätzte Bürger lebten, ablehnte, von »Nestbeschmutzung« sprach und die Vergangenheit für erledigt hielt, schlossen die zuständigen Minister und Senatoren eine Verwaltungsvereinbarung über die Errichtung der Zentralen Stelle, die 1958 in Ludwigsburg eingerichtet wurde. Von den Ländern abgeordnete Richter und Staatsanwälte sollten von Amts wegen die von den nationalsozialistischen Gewaltherrschern im Ausland in den Jahren 1939 bis 1945 begangenen Verbrechen restlos erfassen.12 Sobald die Vorermittlungen hinreichende Ergebnisse erbracht hatten, waren die Verfahren an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften zur weiteren Durchführung der Strafverfolgung und zur Anklageerhebung abzugeben. Die Zentrale Stelle begann ihre Arbeit am 1. Dezember 1958 und stellte nach den Worten ihres ersten Leiters, Oberstaatsanwalt (fortan: OStA) Erwin Schüle (1913 – 1993), »ein absolutes Novum in der deutschen Rechtsgeschichte«13 dar.

Die bereits im Frühjahr 1958 beginnende Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses belegt eindringlich, dass ohne die unermüdliche Initiative von überlebenden Opfern und ohne das Engagement streitbarer Juristen die strafrechtliche Sühne der NS-Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz nicht in Gang gekommen wäre. Überlebende meldeten sich, forschten nach dem Verbleib von Tätern, trugen Namen und Anschriften zusammen, tauschten Informationen aus und sammelten Belastungsmaterial. Beherzte Juristen, dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet, schufen in Zusammenarbeit mit Politikern, die sich ihrer historischen Verantwortung bewusst waren, die rechtspolitischen Voraussetzungen und leiteten umfassende Ermittlungen ein, um bislang unerforschte Tatkomplexe aufzuklären und die strafrechtliche Schuld der an Massenverbrechen Beteiligten zu beweisen. Den Initiatoren der Verfahren war es ein wichtiges Anliegen, im Rahmen von Strafprozessen gegen NS-Täter Aufklärung über die Vergangenheit zu betreiben und damit auch einen Beitrag zur politischen Bildung und zum Geschichtsverständnis zu erbringen. Durch die NS-Verfahren in den 1960er Jahren klärte die deutsche Strafjustiz über den Mord an den europäischen Juden auf. Das geschah in Form der Anklageschriften und der Schwurgerichtsurteile, die allesamt ausführliche, quellengestützte allgemeine, historische Darstellungen enthielten, und durch in Auftrag gegebene historische Gutachten.14 So leistete sie aufgrund der in der Beweisaufnahme erbrachten Erkenntnisse eine umfassende Aufklärung, die die Zeitgeschichtsforschung in Deutschland versäumt hatte.

Bei der Darstellung der sechs Frankfurter Auschwitz-Prozesse sowie weiterer wichtiger Ermittlungsverfahren bleibt die umfangreiche Ermittlungssache gegen den Auschwitz-Arzt Josef Mengele, die erst mit der amtlichen Feststellung seines Todes (1979) in den 1980er Jahren eingestellt worden war, unberücksichtigt.

Die Ermittlungen der Frankfurter Justiz gegen Auschwitz-Täter begannen Ende der fünfziger Jahre.15 Der große Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen 20 Angeklagte und die fünf kleinen Nachfolgeprozesse gegen insgesamt zehn Angeklagte zeigen deutlich, dass trotz aller Anstrengungen der Staatsanwaltschaft die Überführung der Angeklagten nicht immer möglich war. Die Gründe für das partielle Scheitern der Justiz, die NS-Verbrechen viele Jahre nach dem Tatgeschehen angemessen zu sühnen, werden in diesem Buch aufgezeigt.

Von den Tausenden von Auschwitz-Tätern16 wurde etwa ein Zehntel strafrechtlich belangt. Hervorzuheben sind der Prozess gegen den Kommandanten Rudolf Höß vor dem Obersten Gerichtshof der Volksrepublik Polen in Warschau (11.3. – 2.4.1947) und das Verfahren gegen 40 SS-Männer und Frauen in Krakau (24.11. – 16.12.1947). Höß und 21 Angeklagte des Krakauer Prozesses wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet17. Weitere rund 600 Auschwitz-Täter verurteilten polnische Gerichte zu Freiheitsstrafen unter zehn Jahren.

Auch vor amerikanischen, britischen, französischen und sowjetischen Militärtribunalen standen vormalige Angehörige des SS-Personals von Auschwitz. Angeklagt waren sie aber meist wegen Verbrechen, die sie in anderen Lagern begangen hatten. Zu nennen ist der 1. Bergen-Belsen-Prozess vor einem britischen Militärgericht in Lüneburg (17.9. – 17.11.1945).18 Unter anderen wurden der ehemalige Auschwitz-Kommandant Josef Kramer, der Schutzhaftlagerführer Franz Hössler, der SS-Arzt Fritz Klein, die SS-Oberaufseherin Elisabeth Volkenrath und die SS-Aufseherin Irma Grese zum Tode verurteilt und hingerichtet.19 Weiter der 2. Bergen-Belsen-Prozess (16.5. – 22.5.1946), in dem gegen den vormaligen Krematoriumsleiter Walter Quakernack die Todesstrafe verhängt wurde. Im Hamburger Ravensbrück-Prozess verurteilte ein britisches Militärgericht den Kommandanten Johann Schwarzhuber zum Tode. Der Schutzhaftlagerführer von Buna/Monowitz Vinzenz Schöttl, der zeitweilige Chef der Krematorien in Auschwitz-Birkenau Otto Moll und der Lagerarzt Hellmuth Vetter wurden im 1. Dachauer-Prozess (15.11. – 13.12.1945) von einem amerikanischen Militärgericht20 zum Tode verurteilt und in Landsberg Ende Mai 1946 gehängt. Im Neuengamme-Prozess in Hamburg (18.3. – 3.5.1946) verhängte ein britisches Militärgericht gegen den vormaligen SS-Arzt Bruno Kitt die Todesstrafe. Der SS-Arzt Friedrich Entress wurde von einem amerikanischen Militärgericht im Mauthausen-Prozess im Mai 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Vor bundesdeutschen Gerichten21 standen bis zum Jahr 1963 zum Beispiel der ehemalige Rapportführer des Lagers Buna/Monowitz, SS-Hauptscharführer Bernhard Rakers (LG Osnabrück, 1952 – 1953, 1958, 1959)22, SS-Oberscharführer Johann Mirbeth (zusammen mit den ehemaligen Auschwitz-Häftlingen Helmrich Heilmann und Joseph Kierspel, LG Bremen, 1953)23, die vormaligen Auschwitz-Häftlinge Erich Tabbert (LG Osnabrück, 1953)24 und Otto Locke (LG Berlin, 1957)25 sowie Gerhard Herdel (LG Göttingen, 1953)26, SS-Obersturmführer Wilhelm Reischenbeck (LG München I, 1958)27 und der ehemalige SS-Arzt Johann Paul Kremer (LG Münster, 1960).28 Rakers wurde wegen in Sachsenhausen und Auschwitz verübten Straftaten zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, Mirbeth und Heilmann zu sechs Jahren sowie Kierspel zu lebenslangem Zuchthaus. Ihre Straftaten hatten die Angeklagten im Nebenlager Golleschau begangen. Tabbert, seit 1942 Häftling in Auschwitz, wurde vom Vorwurf des Mordes und des Mordversuchs freigesprochen. Herdel, Ende 1944 unter anderem Kommando- und Rapportführer im Lager Buna/Monowitz, erhielt wegen Totschlagversuchs in zwei Fällen ein Jahr Gefängnis. Locke, von August 1940 bis zu seiner Meldung zur SS-Einheit Dirlewanger im Juli 1944 Funktionshäftling in Auschwitz, Häftlings-Nr. 3227, wurde wegen Mordes in sieben Fällen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Reischenbeck, seit Herbst 1944 Führer von Wachkompanien, wurde für schuldig befunden, auf Todesmärschen Beihilfe zum Totschlag geleistet zu haben. Sein Strafmaß betrug zehn Jahre Zuchthaus. Der ehemalige SS-Arzt Kremer, von Ende August 1942 bis Mitte November 1942 in Auschwitz als Lagerarzt29 tätig, wurde wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die erkannte Strafe galt durch die in Polen bis 1958 abgesessene Strafe als verbüßt. Kremer war im Krakauer Prozess gegen Liebehenschel u.a. zum Tode verurteilt, später aber begnadigt und 1958 entlassen worden.

 

I. Aufklärung über Auschwitz

Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965)

1. Der Sträfling und der Mörder

Gegen einen gewissen Wilhelm Boger, vormals SS-Oberscharführer und Angehöriger der Politischen Abteilung des Lagers Auschwitz, erstattete der in der Landesstrafanstalt Bruchsal wegen Betrugs einsitzende ehemalige Auschwitz-Häftling Adolf Rögner mit Schreiben vom 1. März 19581 an die Staatsanwaltschaft (fortan: StA) Stuttgart Strafanzeige wegen Mordes. Rögner, von Mai 1941 bis Januar 1945 »als krimineller Vorbeugungshäftling« (H.-Nr. 15.465)2 in Auschwitz inhaftiert, machte in seinem Brief Angaben über angebliche strafbare Handlungen Bogers, über seine Inhaftierung im amerikanischen War Crimes Camp 29 in Dachau, seine Flucht aus einem Überstellungstransport nach Polen, nannte Wohnsitz und Arbeitsplatz Bogers und erbat eine Vernehmung zur Sache. Darüber hinaus stellte Rögner »Beweise u. Zeugen« in Aussicht und verwies die Ermittlungsbehörde darauf, das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK) (mit genauer Adressenangabe) und der Zentralrat der Juden (Düsseldorf-Benrath) könnten Beweismaterial gegen den Auschwitz-Täter zur Verfügung stellen.

Die Persönlichkeit des Anzeigeerstatters, der sich zum Zeitpunkt der Anzeige einer Anklage wegen Meineids und uneidlicher Falschaussage ausgesetzt sah und in der Vergangenheit wiederholt Anzeigen nicht nur gegen ehemalige SS-Angehörige, sondern auch gegen Vollzugs- und Polizeibeamte erstattet hatte, ließ es der Stuttgarter Strafverfolgungsbehörde geboten erscheinen, die Strafanzeige mit Vorsicht3 zu behandeln. Die StA Stuttgart wandte sich mit Schreiben vom 17. März 19584 bezüglich der »Anzeigensache gegen einen gewissen Boger« (16 Js 1273/58) an die Stuttgarter Kriminalpolizei mit der Bitte, »unauffällige Vorermittlungen hinsichtlich der Person und der Vergangenheit des [...] Boger durchzuführen«.5 Mit Brief vom 10. April 19586 teilte die Kripo der Ermittlungsbehörde mit, bei dem Beschuldigten handele es sich um den »verh. kaufm. Angestellten Wilhelm Boger [...] wohnh. Hemmingen Krs. Leonberg«. Boger sei, wie Rögner in seinem Schreiben zutreffend angegeben hatte, »Angestellter bei der Fa. Heinkel, Motorenwerke, Stgt.-Zuffenhausen« und sei »SS-Oberscharführer in Auschwitz« gewesen.7 Den Hinweisen Rögners auf zu erbringende Beweise und zu stellende Zeugen durch das IAK und den Zentralrat der Juden ging der sachbearbeitende Staatsanwalt Horst Weber zunächst nicht nach. Erst am 18. August 19588 wandte er sich an den Zentralrat. Das IAK, als Vereinigung von nationalen Auschwitzer Lagergemeinschaften (Überlebendenorganisationen) fraglos eine wichtige Quelle, ersuchte die StA nicht um Mitarbeit bei den eingeleiteten Ermittlungen. Offenbar erschien der Strafverfolgungsbehörde eine Zusammenarbeit mit einer Organisation, die nicht ohne Grund als kommunistisch dominiert galt und ihren Hauptsitz in der Volksrepublik Polen hatte, inopportun.9

In einem acht Seiten umfassenden Schreiben Rögners vom 30. März 195810 an die Stuttgarter Ermittler lieferte der Anzeigeerstatter weitere wichtige Hinweise. Rögner zählte über ein Dutzend SS-Angehörige auf, die sich Verbrechen schuldig gemacht hätten. Er nannte u.a. die späteren Angeklagten im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess Josef Klehr und Hans Stark und erstattete Strafanzeige gegen die benannten SS-Leute.

Doch Staatsanwalt Weber sah sich nicht gehalten, Fahndungsmaßnahmen gegen die von Rögner benannten, des vielfachen Mordes verdächtigten Personen einzuleiten. Eine Ausdehnung des Verfahrens auf weitere SS-Angehörige von Auschwitz, ein Sammelverfahren, war zunächst nicht beabsichtigt. Hinweise auf Anstrengungen der StA Stuttgart, Zeugen für strafbare Handlungen Bogers zu ermitteln, finden sich in den Akten nicht. Weber hielt einem Vermerk vom 13. Mai 1958 zufolge Anfang Mai 1958, zwei Monate nach Eingang der Strafanzeige Rögners, Vortrag bei seinem Behördenleiter. Selbst suchte er den Anzeigeerstatter zur Vernehmung nicht auf, er ordnete vielmehr mit Billigung seines Vorgesetzten eine Dienstreise eines Gerichtsreferendars zur Landesstrafanstalt Hohenasperg an, in die Rögner krankheitshalber überstellt worden war. Die Vernehmung, so hielt Weber in dem Vermerk fest, »war erforderlich, weil einerseits der Anzeigeerstatter nach sicherer Erkenntnis aus vorangegangenen Anzeigen ein geltungssüchtiger Psychopath ist und aber andererseits seine Anzeige gegen Boger nach der Bedeutung der Anschuldigung nicht von der Hand gewiesen werden kann, sondern sorgfältige Ermittlungen erfordert«.11

Rögner wurde am 6. Mai 195812 endlich vernommen. Aus dem der Vernehmungsniederschrift vorangestellten Bericht des Gerichtsreferendars geht hervor, wie schwierig sich die Vernehmung gestaltete. Das sieben Seiten umfassende Protokoll mit fünf Anlagen enthielt wiederum zahlreiche Namen von Auschwitz-Personal. Neben dem bereits benannten Hans Stark u.a. mit zutreffenden Angaben die Namen »Rottenf. Pery Broad, Brasilianer, lebt vermutlich in Braunschweig« und »Unterscharf. Dylewski – lebt in Krefeld«.

Von der Ermittlungsbehörde nicht um Hilfe gebeten, wandte sich der Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, Hermann Langbein (1912 – 1995) (Wien), von Rögner13 über die Anzeige informiert, mit Schreiben vom 9. Mai 195814 an die StA Stuttgart, bekräftigte die gegen Boger vorgebrachten Tatvorwürfe und bot die Mitarbeit seiner Organisation an. Die StA bat daraufhin, elf Wochen nach dem Eingang von Rögners Anzeige, am 21. Mai 195815 das IAK um Mitteilung von Erkenntnissen über den Beschuldigten Boger. Langbein bestätigte in seinem Antwortschreiben,16 der Beschuldigte Boger sei seinem Komitee wohl bekannt, übersandte in der Anlage eine persönliche Aussage im Fall Boger17 und fragte an, ob sich der Beschuldigte bereits in Untersuchungshaft befinde. Mit Hinweis auf drohende Fluchtgefahr machte Langbein die Verhaftung Bogers zur Bedingung für die in Aussicht gestellte Kooperation des IAK. Langbeins Forderung, erst Boger in Untersuchungshaft zu nehmen und dann Zeugen zu benennen, die beweiskräftige Aussagen über den Beschuldigten machen könnten, erschwerte die Arbeit der Verfolgungsbehörde erheblich. Die ausbleibende Antwort der Ermittlungsbehörde, die noch keine rechtsstaatliche Handhabe sah, Boger in Haft zu nehmen, veranlasste Langbein, sich abermals an die StA mit dem Hinweis zu wenden, dass Boger in Auschwitz »eine Vielzahl von Morden begangen« habe und erbat Mitteilung, ob sich der Beschuldigte »in Haft« befinde.18 Die StA, die trotz der Aussage Langbeins und seiner Bestätigung der von Rögner vorgebrachten Tatvorwürfe keinen dringenden Tatverdacht der strafbaren Beteiligung Bogers an Tötungsdelikten erblickte und deshalb von einem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls absah, ersuchte das IAK ungeachtet der von Langbein aufgestellten Bedingung mit Schreiben vom 15. Juli 1958 »um Übersendung« von »Unterlagen (Anschriften u. Aussagen von Zeugen über die Straftaten des Boger [...]), um nach Prüfung des Beweismaterials, erforderlichen Falls Haftbefehl gegen Boger erlassen zu können«.19

Über die Zögerlichkeit der Stuttgarter Staatsanwälte äußerst befremdet, betonte Langbein in seiner Antwort20 abermals, das IAK wolle erst dann einen Zeugenaufruf an ehemalige Auschwitz-Häftlinge veröffentlichen, wenn Boger in Haft sei. Zur Unterstützung der Ermittlungsmaßnahmen legte er seinem Schreiben ein Foto Bogers bei. Langbeins große Sorge war, der Fall Boger könne zu einem Fall Eisele21 werden. Der KZ-Arzt hatte sich durch Flucht ins Ausland dem Zugriff entzogen In einem weiteren Schreiben an das Justizministerium22 trug Langbein seine Besorgnis vor. Nicht ohne Grund befürchtete er, »dass Boger von einer Seite, die ihn als ehemaligen SS-ler decken will, gewarnt werden könnte«.23

Langbeins Weigerung, Zeugen zu benennen und Beweismaterial zur Verfügung zu stellen, zeigte die Hilflosigkeit der Strafverfolgungsbehörde auf, die ihrerseits keine Anstalten machte, Beweismittel herbeizubringen.24

Auf Ersuchen der Stuttgarter StA vom 2. August 195825 vernahm das Landeskriminalamt Baden-Württemberg Rögner zwei Wochen später in der Landesstrafanstalt Bruchsal.26 Rögner bezeugte in seiner zweiten Vernehmung abermals die angebliche Täterschaft von Stark, Dylewski, Klehr und anderen SS-Angehörigen. Er benannte darüber hinaus als Zeugen (mit Angabe der Anschrift) die Auschwitz-Überlebenden Emil Behr27, Arthur Balke28, Hugo Breiden29 und Hermann Distel.30 Rund drei Wochen vergingen, bis Staatsanwalt Weber die polizeiliche Vernehmung der benannten Zeugen in Auftrag gab.

Angesichts der schleppenden Ermittlungstätigkeit der Stuttgarter StA erkannte Langbein die Notwendigkeit einer teilweisen Kooperation, übersandte schließlich mit Schreiben vom 30. August 195831 an die StA Stuttgart die Übersetzung eines auf Herbst 1944 datierten Kassibers der Internationalen Widerstandsbewegung32 in Auschwitz, in dem der Beschuldigte Boger genannt sei. Weiter Kopien des Bunkerbuchs, veröffentlicht in Hefte von Auschwitz, H. 1, 1958 (poln. Ausg.; die dt. Ausg. erschien erstmals 1959), sowie die Namen und Anschriften von ehemaligen Auschwitz-Häftlingen, die aus eigenem Wissen über Boger aussagen könnten. Es handelte sich um: Arthur Hartmann33, Ludwig Wörl34, Henryk Bartoszewicz35, Eryk Stanisław Pawliczek36 und Stanisław Kamiński.37 Darüber hinaus ergänzte Langbein seine Aussage vom 29. Mai 195838 und kündigte an, am 9. September 1958 in Stuttgart zu sein und bei der Staatsanwaltschaft »in der Angelegenheit Boger« vorsprechen zu wollen.

Am 5. September 1958 bemühte sich Staatsanwalt Weber erstmals um die Herbeischaffung von Beweismitteln durch Vernehmung der genannten Zeugen. Er erteilte den Kriminalpolizeien von Kiel und München den Auftrag, die von Langbein benannten Zeugen Hartmann und Wörl zu vernehmen. Den Hinweisen von Rögner auf die Zeugen Behr, Balke, Breiden und Distel ging der Staatsanwalt erst am 11. September 1958 nach. Tage vor seinem Besuch in Stuttgart, am 3. September 1958, stellte Langbein eine eidesstattliche Erklärung des in Österreich wohnhaften Josef Rittner39 zur Verfügung und nannte als weiteren Zeugen die Auschwitz-Überlebende Orli Wald. Ihre Vernehmung gab der Stuttgarter Staatsanwalt gleichfalls am 11. September 1958 in Auftrag.40 Langbein, über das aus seiner Sicht sehr zögerliche Vorgehen der Ermittlungsbehörde nicht wenig verwundert, wurde – wie angekündigt – bei der StA und im Justizministerium vorstellig. Während seiner Vorsprache benannte er als weiteren Zeugen Paul Leo Scheidel.41 In einem Vermerk vom 11. September 195842 hielt Staatsanwalt Weber betreffs Vorsprache Langbeins fest, der Generalsekretär des IAK habe sich »in unsachlicher Kritik an den Ermittlungsmaßnahmen« ergangen, die er aber »in gebührender Weise« zurückgewiesen habe. Langbeins Intervention zeigte gleichwohl Wirkung. Am Tag der Abfassung des Vermerks, in dem Weber gleichfalls festhielt, Langbein habe sich »offenbar [...] anschließend beschwerdeführend an das Ministerium gewandt«,43 beauftragte er die Kriminalpolizeien in Karlsruhe, Esslingen, Frankfurt am Main, Hannover und München, die von Rögner in seiner Vernehmung benannten Zeugen (Behr, Balke, Distel und Breiden) und die von Langbein genannten Zeugen (Wald und Scheidel) zu vernehmen und fuhr selbst endlich nach Bruchsal, um den Anzeigeerstatter zu befragen und ihn um die Herausgabe von Belastungsmaterial zu bitten. Da Rögner die Unterlagen nicht zur Verfügung stellen wollte, ließ sie Weber kurzer Hand beschlagnahmen.44 Die Vernehmungen der von Rögner benannten Zeugen Balke45, Distel46 und Behr47 erbrachten allerdings keine den Beschuldigten Boger belastenden Aussagen. Keiner der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge kannte Boger. Erst die Vernehmung von Scheidel48 begründete den für den Antrag auf Haftbefehl erforderlichen dringenden Tatverdacht. Mit Schreiben vom 21. September 195849, das Langbein an OStA Robert Schabel persönlich richtete und das nicht zu den Hauptakten genommen wurde, rekapituliert Langbein seine Korrespondenz mit der StA und bemängelt eingehend die aus seiner Sicht unzureichenden Ermittlungsmaßnahmen.