Hoffen auf Aufklärung

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Hoffen auf Aufklärung
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Über dieses Buch

Der Kristallhöhlenmord von Oberriet SG, bei dem zwei Mädchen auf einer Velotour verschwanden, die Entführung von Rebecca Bieri in Gettnau LU und der Fünffachmord von Seewen SO sind nicht nur ungelöst, sondern auch verjährt und können nicht mehr verfolgt werden. Walter Hauser recherchierte diese und weitere Morde vor Ort, sprach mit Zeugen, Angehörigen und Tatverdächtigen. Seine Schlussfolgerung lautet: Die in der Schweiz geltende Verjährungsfrist bei Mord von dreissig Jahren ist ungerecht und stossend. Während die Täter sich sicher fühlen können und nicht mehr fürchten müssen, zur Rechenschaft gezogen zu werden, leiden die Betroffenen weiter – bis an ihr Lebensende. Ziel der Ermittlungen viele Jahre nach dem Verbrechen kann nicht Bestrafung und Vergeltung sein, sondern Aufklärung und Wahrheitsfindung.


Walter Hauser, geboren 1957, aufgewachsen im Kanton Glarus. Dr. iur., Ex-Kantonsrichter, langjähriger Redaktor u. a. bei der «Sonntagszeitung» und beim «Sonntagsblick». Hauser ist Gründer und Präsident der Anna-Göldi-Stiftung, die sich gegen Justiz- und Behördernwillkür engagiert. Im Limmat Verlag sind lieferbar: «Anna Göldi – Hinrichtung und Rehabilitierung», «Stadt in Flammen. Der Brand von Glarus im Jahre 1861», «Auswanderung ins Glück. Die Lebensgeschichte der Kathrin Engler» und «Bitterkeit und Tränen. Szenen der Auswanderung aus dem Tal der Linth und die Ausschaffung des heimatlosen Samuel Fässler nach Amerika».

Foto Sabine Wunderlin

Walter Hauser

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Hoffen auf

Aufklärung

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Ungelöste Morde in der Schweiz zwischen Verfolgung und Verjährung

Limmat Verlag

Zürich

Damit die Opfer nicht vergessen gehen –
Die Verjährung bei Mord abschaffen?

Gebannt sass ich vor dem Fernseher und verfolgte den Beitrag der Sendung «Aktenzeichen XY ungelöst» von Eduard Zimmermann zum Kristallhöhlenmord in Oberriet SG. Das Verbrechen geschah 1982, als ich Rechtswissenschaft studierte und als Freizeitjournalist über Kriminalfälle berichtete. Das Schicksal der beiden Mädchen, die damals während einer Velotour verschwanden und in Felslöchern tot aufgefunden wurden, wühlte mich auf. Ebenso der Fall der achtjährigen Rebecca Bieri, die in der luzernischen Tausend-Seelen-Gemeinde Gettnau entführt und ein halbes Jahr später in Niederbipp BE tot aufgefunden wurde.

Heute, 36 Jahre später, beschäftigen mich die Fälle aus meiner Studentenzeit in den siebziger und achtziger Jahren nach wie vor und lösen Betroffenheit aus. Denn sie sind mit schweren Schicksalen verbunden und bis heute ungeklärt. Umso mehr interessiert mich die Frage, wie die betroffenen Personen vor Ort mit der Last der ungeklärten Taten umgehen. Ich erkundete die Tatorte, bei der Kristallhöhle am Fuss des Alpsteingebietes, auf der Jurahochebene oberhalb Seewen SO, wo fünf Menschen in einem Wochenendhäuschen durch Schüsse aus nächster Nähe starben, und am Entführungsort von Rebecca Bieri auf dem Kühberg in Gettnau LU, sprach mit Angehörigen der Opfer, mit Zeitzeugen und mit Tatverdächtigen. Was bedeutet es für sie, wenn ein Mordfall nach so vielen Jahren ungelöst und verjährt ist?

Einzelne im Buch dargestellte Kapitalverbrechen sind auch jüngeren Datums, so etwa der Rätseltod von Ylenia im Jahr 2007 oder der Zoomord von Bad Ragaz im Jahr 2012 (im Buch mit «Mord im Heidiland» betitelt), ein Fall voller Irrungen und Wirrungen. Doch die meisten der im Buch dargestellten Morde sind nicht nur ungelöst, sondern auch verjährt und können strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden, bleiben somit für immer ungeklärt.

In der Schweiz tritt die Verjährung bei Mord nach dreissig Jahren, bei vorsätzlicher Tötung schon nach fünfzehn Jahren ein. Selbst wenn sich noch interessante neue Erkenntnisse ergeben, sind strafprozessuale Zwangsmassnahmen wie Verhaftung oder Hausdurchsuchung nicht mehr möglich, können Personen gegen ihren Willen nicht mehr befragt werden. Mögliche Beweismittel wie die Kleidungsstücke der Opfer werden für immer beseitigt.

Die Frage kommt immer wieder aufs politische Tapet: Soll die Verfolgbarkeit eines Tötungsdeliktes befristet werden? Des schwersten aller Verbrechen? Ist die heutige Verjährungsregelung bei Mord sinnvoll? Braucht es sie überhaupt? Nachdem schon frühere Anläufe für Gesetzesänderungen gescheitert waren, sprach sich der Nationalrat klar für die Beibehaltung der heutigen Verjährungsregelung aus. In einer Motion vom März 2016 hatte der Zürcher SVP-Nationalrat Alfred Heer (57) ihre Aufhebung gefordert. Der Vorstoss wurde auf Antrag des Bundesrates abgelehnt.

Zwei Gründe führen die Verfechter der Verjährung ins Feld. Erstens lässt sich eine Tat mit der Zeit immer schwieriger nachweisen, und die Gefahr von Fehlurteilen wächst. Zweitens: Ausgehend vom christlichen Ideal des Verzeihens und Versöhnens nimmt der Gesetzgeber an, dass das Vergeltungsbedürfnis der Direktbetroffenen mit der Zeit in den Hintergrund rückt und dem Strafanspruch des Staates zeitliche Grenzen setzt. Konkret heisst dies: Die Zeit heilt Wunden, und selbst über schlimme Ereignisse wächst Gras.

Trotzdem nimmt die Kritik an der Verjährung zu. Auch gemässigte Politiker und Experten stellen die Regelung in Frage, einzelne von ihnen gehen mit der Verjährung scharf ins Gericht, so auch der Basler Bundesverwaltungsrichter Philippe Weissenberger (53). Wie der Jurist aus den Reihen der Sozialdemokratischen Partei (SP) in der «Weltwoche» vom 15. März 2018 schreibt, nimmt der Gesetzgeber zu Unrecht an, dass die Gesellschaft die Tat nach so vielen Jahren verarbeitet habe.

Gewaltdelikte könnten die Gesellschaft weit länger erschüttern. Weissenberger prophezeit zudem, dass es wegen der neuen kriminaltechnischen Fertigkeiten und Möglichkeiten immer wahrscheinlicher wird, dass Mordfälle noch Jahrzehnte nach der Tat aufgeklärt werden könnten.

Zu den Kritikern der Verjährung gehört auch der frühere leitende Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich, Andreas Brunner (69). In einem Beitrag der «Sonntagszeitung» vom 1. Oktober 2017 kommentierte er: «Die Verjährungsregelung schützt ausschliesslich Täter und nicht etwa die Opfer und deren Angehörige. Für Täter ist die Verjährung ein Gnadenakt der Gesellschaft. Entspricht diese Regelung dem Geist des 21. Jahrhunderts?»

Meine Recherchen zu diesem Thema und unzählige Gespräche mit betroffenen Personen, insbesondere auch zum «Kristallhöhlenmord», bestätigen diese Einschätzung der Kritiker. Sowohl die Verwandten der Opfer in Goldach als auch die Bewohner am Tatort in Kobelwald, Teil der Gemeinde Oberriet, haben das Verbrechen noch lange nicht vergessen. Die beschauliche Ortschaft Kobelwald kommt auch 36 Jahre nach dem Verbrechen nicht zur Ruhe, und bis heute entzünden sich dort immer wieder hitzige Diskussionen an der Frage: Wer hat die scheussliche Tat verübt und die Leichen der Mädchen im felsigen Gelände unterhalb der Kristallhöhle versteckt?

Augenscheine und Gespräche an anderen Handlungsorten von bekannten Mordfällen zeigen dasselbe Bild: Es ist eine Illusion zu glauben, dass dreissig Jahre nach einem Mord Normalität zurückkehrt und die Betroffenen zur Tagesordnung übergehen. Dies ist bei Diebstahl, Betrug oder einfacher Körperverletzung möglich, nicht aber bei Mord.

Kritiker der Verjährung empfinden es auch als ungerecht und stossend: Die Täter können sich nach Eintritt der Verjährung, spätestens nach dreissig Jahren, sicher fühlen und müssen nicht mehr fürchten, vom Staat zur Rechenschaft gezogen zu werden. Doch die Angehörigen der Opfer fühlen sich alleingelassen und leiden weiter – bis an ihr Lebensende.

Die unbefristete Verfolg und Strafbarkeit eines Mordes, also eine Regelung ohne Verjährung, kennen andere europäische Staaten wie Österreich oder Deutschland. Allerdings vor einem speziellen historischen Hintergrund: Kriegsverbrecher sollen auf keinen Fall geschont werden und auf das Vergessen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit hoffen können.

In der Schweiz gibt es diese Regelung bereits für pädosexuelle Straftaten. Darum wäre es nur konsequent, die Unverjährbarkeit auch für Mord vorzusehen. Zumal die Kriminaltechnik enorme Fortschritte macht und neue Methoden zur Verfügung stehen, die es vor dreissig Jahren noch nicht gab. Allen voran die DNA-Analyse, genetische Fingerabdrücke, welche Verbrecher am Tatort zurücklassen und die etwa in Haaren, Blut oder Speichel nachweisbar sind. Die heute bei der Spurensicherung zur Verfügung stehenden Mittel ermöglichen es, eine Person auch Jahrzehnte nach einem Verbrechen in Verbindung mit einem Tatort beziehungsweise einer Tat zu bringen.

Zwar ist ein DNA-Treffer noch kein Beweis für die Täterschaft. Hätten Spezialisten die DNA-Analyse jedoch schon vor dreissig und mehr Jahren professionell einsetzen können, wären wohl die bekanntesten ungelösten Mordfälle der Schweiz wie der Mord in Kehrsatz BE, der Fünffachmord in Seewen SO, der Mord an Rebecca Bieri und der Kristallhöhlenmord aufgeklärt.

Die Verfechter der Verjährung, einschliesslich der Bundesrat, halten an der heutigen Gesetzesregelung fest. Sie fürchten Nachteile für die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und ein Wiederaufleben der «Rachejustiz». Tatverdächtige könnten auf wackliger Beweisgrundlage vor Gericht gezerrt und abgeurteilt werden. Nach ihrer Argumentation nimmt die Zuverlässigkeit der Beweise mit der Zeit ab, insbesondere Zeugenaussagen, und es wächst die Gefahr von Fehlurteilen.

Die Gegner der Verjährung wehren sich zwar vehement dagegen, dass ein Tötungsdelikt nach Jahren abgehakt und vergessen werden soll. Grund dafür ist aber nicht die Vergeltung, sondern die Aufklärung des Verbrechens. Die Betroffenen leben in der Hoffnung, dass die quälende Ungewissheit irgendwann ein Ende hat.

 

Skeptisch gegenüber der heutigen Verjährungsregelung bei Mord ist auch der Zürcher Strafrechtsprofessor und SP-Ständerat Daniel Jositsch (53). Er plädierte in einem Interview mit dem «Sonntagsblick» vom 6. März 2016 für eine Lösung nach englischem Vorbild. Demnach wirkt sich die lange zeitliche Distanz zum Verbrechen strafmildernd für den Täter aus. Die Strafe kann reduziert oder ganz erlassen werden.

Vielleicht das Zukunftsmodell für die Schweiz. Ursprünglich betrachtete ich die Verjährung im Sinne der Konfliktberuhigung als etwas Gutes und stufte die Kritik daran als rechtspopulistische Stimmungsmache ein. Aufgrund unzähliger Gespräche mit Betroffenen bin ich heute jedoch der Ansicht, dass die Verjährung bei Mord abgeschafft und dessen Verfolgbarkeit ohne zeitliche Schranke ermöglicht werden soll – wenigstens zur Wahrheitsfindung. Dies liegt sogar im Interesse der Tatverdächtigen, die sich mittels DNA-Beweis vom Verdacht für immer befreien wollen.

Nicht ganz richtig ist der Einwand, die Verjährungsregelung bei Tötungsdelikten habe nur für die Allerwenigsten von uns praktische Bedeutung. Wer davon betroffen ist, trifft es umso härter. Und davon berührt ist nicht nur ein enger Kreis von Angehörigen, wie man landläufig meint. Gerade in der heutigen medialen Welt löst ein schweres Verbrechen weit über die Region hinaus Betroffenheit aus. Deshalb ist auch die Aufklärung und Aufarbeitung eines Mordes ein Anliegen, das weite Bevölkerungskreise betrifft.

Ebenfalls unzutreffend ist das Argument, dass die Aufklärung von Mordfällen nach vielen Jahren so gut wie nie vorkomme. In Deutschland und in den USA werden solche Fälle immer wieder publik. Es handelt sich um sogenannte «Cold Cases», die von den Ermittlern nach sogar 35 und 40 Jahren mit frischem Elan und neuen Lösungsansätzen aufgegriffen werden – oft mit Erfolg.

Das zeigen Beispiele aus jüngster Zeit. Im September 2017 wurde in Hamburg ein 58-jähriger Mann gefasst, der 1981 eine 35-jährige Mutter von drei Kindern getötet hat. Der Fall beschäftigte die Polizei während Jahrzehnten. Nach 36 Jahren gelang ihr der Durchbruch. Den entscheidenden Hinweis lieferte eine neue Zeugin, die durch die sozialen Medien auf zwei neue Polizeivideos zum Fall aufmerksam geworden war. Der Mann, der wegen anderer Delikte schon im Gefängnis sass, ist geständig.

Im Mai 2018 gab die Polizei in Nienburg, Bundesland Niedersachsen, die Aufklärung des «Angler-Mordes» bekannt, der im Juli 1984, also vor 34 Jahren, für Schlagzeilen gesorgt hatte. Ein 49-jähriger Angler wurde an einem Seitenarm der Weser erschlagen und ausgeraubt. Ein neuer Zeuge und die geraubten Gegenstände, darunter eine silberne Taschenuhr, führten auf die Spur des Täters, eines heute älteren Mannes aus der Gegend des Tatortes.

Am 24. April 2018 verbreitete die Kriminalpolizei von Sacramento im US-Bundesstaat Kalifornien die Erfolgsmeldung: Der seit mehr als vierzig Jahren gesuchte «Golden State Killer» ist gefasst. Dieser soll zwischen 1976 und 1986 mindestens 12 Morde und 45 Vergewaltigungen begangen haben. Er spionierte seine Opfer während Monaten aus, ehe er sie überfiel, misshandelte und tötete. Die DNA eines Verwandten führte zur Identifizierung des Serienmörders, eines heute 72 Jahre alten Ex-Polizisten. Dieser wurde inzwischen mehrfach verhört, das Gerichtsurteil steht noch aus.

Auch in der Schweiz spielt Kommissar Zufall viele Jahre nach einem Verbrechen der Polizei in die Hände. Beispiel Fünffachmord von Seewen SO im Jahr 1976: Zwanzig Jahre nach der Tat, im Jahr 1996, wurde in Olten bei einem Wohnungsumbau die Tatwaffe, das Winchester-Gewehr mit abgesägtem Lauf, gefunden. Dadurch entstand eine völlig neue Ausgangslage für die Ermittler. Pech für sie, dass der Besitzer der Waffe nicht mehr auffindbar war. Sonst wäre der berühmteste Rätselmord der schweizerischen Kriminalgeschichte heute womöglich gelöst. Und im Oktober 2015 gestand ein in Basel wohnhafter Mann einen Mord an einer jungen Frau, den er 28 Jahre zuvor, im Sommer 1987, in Karlsruhe begangen hatte. Die Tat ereignete sich in einem Karlsruher Park unweit des Konzertgeländes, wo am gleichen Tag Rocklegende Tina Turner auftrat. Der Mann sagte, das schlechte Gewissen plage ihn. Er wolle reinen Tisch machen. Polizeiliche Abklärungen ergaben, dass er die Wahrheit sagte.

Es trifft zwar zu, dass Ermittler heute schon in mehreren Kantonen nach mehr als dreissig Jahren neuen Hinweisen nachgehen und Spuren verfolgen. Allerdings sind prozessuale Zwangsmittel wie Hausdurchsuchung oder Verhaftung ausgeschlossen, und somit bleibt auch die Wahrheitsfindung auf der Strecke. Würde ein Täter einen in der Schweiz begangenen Mord nach über dreissig Jahren zugeben, ähnlich wie beim Mord in Karlsruhe, hätte das rechtlich nicht einmal Konsequenzen. Täter bleiben unbehelligt. Die Behörden sind nicht verpflichtet, sich zu erklären oder gar aktiv zu werden.

Das Resultat meiner Recherchen ist eine Auswahl bekannter ungeklärter Mordfälle und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Auch habe ich die Fälle mit unterschiedlicher Intensität und Tiefenschärfe recherchiert. Im «Sonntagsblick» vor zwei Jahren veröffentlichte ich zwei Artikelserien über ungelöste Morde, die ich inzwischen weiterentwickelt und thematisch erweitert habe. Zudem veröffentlichte ich 1997 ein Buch über Mordprozesse in der Schweiz.

Speziell achtete ich beim Verfassen des vorliegenden Buches auf Verständlichkeit und Leserlichkeit der Texte und unterschied deshalb nicht juristisch streng zwischen Begriffen wie «Mord», «Tötung», «Doppelmord» etc., wie dies in einer wissenschaftlichen Abhandlung notwendig wäre.

Eine Sonderstellung in diesem Buch nehmen berühmte Indizienprozesse ein, allen voran der Kehrsatzer Mordprozess und der Braunwalder Steinschlagprozess. Beide sind mir ebenfalls aus meiner Studienzeit gut bekannt. In beiden Fällen wurden erstinstanzliche Verurteilungen in Freisprüche umgewandelt. Somit sind auch diese Kriminalfälle ungeklärt. Die Mordprozesse zeigen das erbitterte Ringen um die entscheidende Frage: schuldig oder unschuldig? Und sie führen mich zum Schluss, dass auch Gerichte keine Garanten der Wahrheitsfindung sind und ebenso wie die Menschen, aus denen sie bestehen, unberechenbar und stimmungsabhängig entscheiden.

Der Kristallhöhlenmord
von Oberriet: Ein Ort kommt
nicht zur Ruhe

Zwei Mädchen aus Goldach SG verschwinden 1982 spurlos auf ihrer sommerlichen Velotour durchs Appenzellerland ins St. Galler Rheintal. Es folgen Wochen der Ungewissheit, dann kommt die erschütternde Nachricht: Beide wurden tot in steilem felsigem Gelände gefunden, raffiniert versteckt. Heute ist der mysteriöse Kriminalfall verjährt, ad acta gelegt. Niemand kann dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Dennoch sitzt ein heute 68-jähriger Tatverdächtiger als Verwahrter hinter Gittern.

Das Verbrechen liegt 36 Jahre zurück, berührt aber die Menschen im Fünfhundert-Seelen-Dorf Kobelwald, Teil der politischen Gemeinde Oberriet, noch immer und lässt sie nicht zur Ruhe kommen. «Die Erinnerung an das Drama ist präsent, kommt immer wieder hoch», sagt der Oberrieter Gemeindepräsident Rolf Huber (51). Er war damals fünfzehn Jahre alt und beteiligte sich an der Suche nach den Vermissten. Es komme ihm vor, wie wenn es gestern gewesen wäre, sagt Huber.

Die Opfer stammten aus der St. Galler Vorortsgemeinde Goldach. Karin Gattiker war Sekundarschülerin, liebte Tiere und spielte Handball, wollte Arzthelferin werden. Sie war eher zurückhaltend und vorsichtig. Die um zwei Jahre ältere Brigitte Meier war in der KV-Ausbildung, eine junge Frau, etwas unbekümmerter als Karin.

Die heute 52-jährige, in Goldach aufgewachsene Silvia S. war mit Karin Gattiker befreundet und wohnte in ihrer Nähe unweit der Chellenstrasse. Mehrere gleichaltrige Mädchen und Knaben aus Goldach verbrachten ihre Freizeit zusammen beim Sport und im Ausgang. Im Sommer 1982 planten sie eine Velotour ins Appenzellerland, wo Karin Gattikers Grossmutter wohnte. «Uns packte die Abenteuerlust. wir wollten in den Sommerferien gemeinsam etwas erleben», erinnert sich Silvia S. Doch zwei bis drei Mädchen sagten im letzten Moment ab. Auch Silvias Eltern machten sich Sorgen und legten ihr Veto ein. «Ich ärgerte mich, dass ich nicht mitgehen durfte.» Heute denkt die Frau, sie hätte auch zu den Mordopfern gehören können. Ein Glück, dass sie zu Hause blieb.

Was danach passierte, wurde schon oft beschrieben. Am ersten Tag kamen sie bei Karins Grossmutter in Herisau an. In der Nähe ihres Anwesens machte ein Unbekannter das letzte Foto von den beiden Mädchen. Diese berichteten der Grossmutter, ein netter Mann habe das Foto gemacht. Dieser wichtige Zeuge meldete sich nie, konnte nicht ausfindig gemacht werden. Hatte er etwas mit der Tat zu tun? Oder fürchtete er, als Unbeteiligter in diesen mysteriösen Fall hineingezogen zu werden? Die Mädchen setzten einen Tag später ihre Velotour fort und fuhren Richtung Appenzell. Zeugen sahen, wie sie am Ufer der Sitter ihre Kleider wuschen und sich verpflegten. Von Freitag auf Samstag übernachteten sie in der Jugendherberge Weissbad in Schwende, wo sie sich bei der Leiterin nach dem Heimweg erkundigten. Anderntags packten sie ihre Sachen und machten sich mit ihren Fahrrädern am Samstagmorgen des 31. Juli auf die letzte Etappe. Seltsamerweise wählten sie aber nicht den direkten und einfachen Weg über die Ortschaft Eichberg nach St. Gallen und Goldach, sondern fuhren in völlig verkehrter Richtung über Eggerstanden und erreichten ziemlich genau um die Mittagszeit die Gemeinde Oberriet. Von dort zurück nach Goldau lagen noch über dreissig Kilometer, für die zwei Mädchen, die bereits zwanzig Kilometer mit dem Fahrrad hinter sich hatten, ein anstrengendes letztes Wegstück. Zumal sie sich im Gebiet nicht auskannten und offenbar die Orientierung verloren hatten.


Links Brigitte Meier, rechts Karin Gattiker, aufgenommen bei Herisau von einem Unbekannten. Bild RBD.

Roland Haltinner, der heute fünfzigjährige Sägereibesitzer aus Oberriet, kann sich noch gut an den Tag erinnern, an dem er als Vierzehnjähriger mit seinen Eltern und Geschwistern im Auto unterwegs war. Haltinner und seine Familie waren die Zeugen, welche die beiden Mädchen zuletzt lebend gesehen hatten. «Es war ein ziemlich sonniger Tag, als wir am Mittag Richtung Kobelwies nach Hause fuhren und vor unserem Auto plötzlich zwei Mädchen mit ihren Velos auftauchten», schildert Haltinner die Szene. «Das kleinere Mädchen war blond, das andere dunkelhaarig.» Beide standen laut Haltinner mit ihren Velos keck, ja fast provokativ mitten auf der Strasse. Vermutlich machten sie einen Zwischenhalt und studierten an der Kreuzung die Wegweiser. Auf dem einen war die Aufschrift, welche die Mädchen offenbar neugierig machte: «Kristallhöhle».

Ein weiterer Zeuge machte damals ganz in der Nähe um die Mittagszeit eine wichtige Beobachtung: der heute 76-jährige Stefan Geisser. Er bewohnt immer noch das Haus in Kobelwies, das nur achtzig Meter von der Weggabelung entfernt ist. Der Rentner zeigt, wie er an jenem 31. Juli 1982 in der Küche Bohnen rüstete und aus dem offenen Fenster Richtung Wegkreuzung am Waldrand blickte. Es gab nur wenig Verkehr, erzählt Geisser. Dann sah er aus dem Fenster etwas, das später Rätsel aufgeben sollte. Ziemlich genau um zwölf Uhr mittags: Ein silbergrauer Mittelklassewagen hält bei der Wegkreuzung und bleibt dort etwa fünf Minuten stehen. Rentner Geisser glaubt, dass die Mädchen in das silbergraue Auto stiegen, das er beobachtet hatte, und zur Kristallhöhle wollten. Diese liegt auf 632 Meter Höhe und ist von der Kreuzung etwa zehn Fahrminuten entfernt. Nach Geissers Vermutung sind die Mädchen freiwillig ins Auto gestiegen. «Wäre ein Unfall passiert oder hätte jemand die beiden ins Auto gezerrt, hätte ich es durch das offene Küchenfenster gehört», sagt der Zeuge. Ausser dem Auto habe er aber nichts erkennen können. Und auch nichts gehört: kein Stimmengewirr oder gar Schreie wie bei einer Auseinandersetzung, kein Knallen von Autotüren, keinen Motorenlärm. Nichts, das ihm verdächtig vorkam.

Dennoch muss um diese Zeit etwas vorgefallen sein, das den Mädchen zum Verhängnis wurde. Bei der Wegkreuzung verloren sich zunächst die Spuren der Mädchen. Sie waren verschwunden.

Weil die Mädchen am Abend nicht zu Hause in Goldach ankamen, schlugen die Eltern Alarm. Am Sonntag stiess die Polizei in Oberriet auf die beiden Fahrräder der Mädchen, die bei der Wegkreuzung am Waldrand parallel nebeneinander abgestellt waren. Nichts deutete auf irgendein gewaltsames oder überraschendes Ereignis hin. Die auf dem Gepäckträger mitgeführten Reiseutensilien der Mädchen waren ebenfalls unversehrt und schienen von niemandem angetastet worden zu sein. Mit im Gepäck auch die Fotokamera, mit der ein Unbekannter das letzte Foto von den beiden gemacht hatte. Es zeigt die beiden auf einer Wiese: lachend, fröhlich.

 

Es begann die fieberhafte Suche nach den verschwundenen Goldacher Mädchen. Tage- und wochenlang herrschte bange Ungewissheit über ihr Schicksal. Dutzende Freiwillige, Feuerwehrleute und Polizisten durchkämmten das zerklüftete Gebiet oberhalb der Ortschaft Kobelwald. Die Bemühungen verliefen ohne Ergebnis. Man musste mit dem Schlimmsten rechnen. Es war nicht die Art von Brigitte und Karin, von zu Hause auszureissen und irgendwo unterzutauchen.

Neun Wochen nach dem Verschwinden der Mädchen, am Wochenende vom 2./3. Oktober 1982, wurden die schlimmsten Befürchtungen Gewissheit. Die beiden vermissten Mädchen waren auf brutale Weise getötet worden. Laut Medienberichten war ein Wanderer durch Zufall auf die Leichen gestossen. Er soll unterhalb der Kristallhöhle einen «seltsam süsslichen Geruch» wahrgenommen haben und fand in schwer zugänglichem Gelände, in einem Wurzelloch, die Leiche von Brigitte Meier, zugedeckt von einer schweren Felsplatte. Und die alarmierte Polizei entdeckte einen Tag später fünfzig Meter davon entfernt in einer Felshöhle die tote Karin Gattiker. Bei Brigitte Meier wurde eine schwere Schädelfraktur festgestellt. Sie muss mit einem kantigen Gegenstand, möglicherweise mit einem Stein, erschlagen worden sein. Die Bergung war so schwierig, dass am Fels unterhalb der Kristallhöhle Seile gespannt und Leitern befestigt werden mussten. Nur so konnten die Feuerleute, Gerichtsmediziner und Polizisten zu den Leichen gelangen. Bei Karin Gattiker war die genaue Todesursache nicht feststellbar. Da die Leichen bereits stark verwest waren, liess sich der genaue Tathergang nicht rekonstruieren. Laut Gerichtsmedizinern waren die Leichen ein einziger «Madenbrei». Es liess sich nicht einmal mehr feststellen, ob ein sexueller Übergriff auf die Opfer stattgefunden hatte. Beide Opfer waren bekleidet.

Was die Ermittler stutzen liess: Bei einer der Toten fand man Schreibzeug, das keinem der Mädchen gehörte. Es stammte aus der Kristallhöhle und wurde von den Höhlenwarten benutzt. Ein Kugelschreiber hatte die Aufschrift einer Firma, bei der damals ein Höhlenwart angestellt war. War das Schreibmaterial dem Täter aus der Brusttasche gefallen? Oder wollte er damit nur von sich ablenken und eine falsche Spur legen?

Erstmals nach dem Fund der Leichen wurde Kritik laut: Wie konnte es sein, dass die Kinder erst nach neun Wochen gefunden wurden? Die Gegend rund um die Kristallhöhle war mehrmals mit Hunden abgesucht worden. Der Vizekommandant der Kantonspolizei St. Gallen wird mit den Worten zitiert: «Hunde nehmen den Geruch toter Menschen nicht an. Ausserdem lagen die Leichen an einem Ort, wo sie niemand vermutete. Die Hunde konnten die Leichen nicht riechen», sagt der Vize-Polizeikommandant. Immerhin war aufgrund des Leichenfundortes die Handschrift der Täterschaft zu erkennen. Die Zeitung «Blick» umschrieb in ihrer Ausgabe vom 4. Oktober 1982 das Täterprofil mit fetten Buchstaben: «Bergsteiger, bärenstark, ortskundig und kaltblütig.» Die Tat musste sich unweit der Kristallhöhle zugetragen haben. Wollten die beiden Mädchen vielleicht doch die Kristallhöhle besichtigen und trafen dabei ihren Mörder?

Zwar war die Kristallhöhle damals noch nicht gross touristisch genutzt worden und derart belebt wie heute. Sie war als Attraktion für Höhlenfreunde bekannt, und in den Sommermonaten fanden Führungen unter Leitung von Höhlenwarten statt. An jenem Samstag, dem 31. Juli 1982 hatte ein Höhlenwart, der Wirt des «Bad Kobelwies», Dienst. Um die Mittagszeit sei er zu Hause gewesen, sagte er. Am Nachmittag um etwa vier Uhr empfing er zwei deutsche Ehepaare und führte sie durch die Höhle. Angeblich war ihm nichts aufgefallen.


Eingangsbereich der Kristallhöhle von Oberriet. Bild Staatsarchiv Aargau / Ringier Bildarchiv.

Am gleichen Nachmittag kehrte der Höhlenwartkollege des Wirtes, ein 55-jähriger Fabrikarbeiter, mit seiner Schäferhündin von einer Bergwanderung im Alpsteingebiet nach Kobelwald zurück und machte noch einen Zwischenstopp bei der Höhle. Auch ihm fiel nach seiner Aussage nichts Spezielles auf. Um diese Zeit, am späteren Nachmittag, waren die Mädchen bereits tot. Anscheinend hatte niemand etwas gesehen oder gehört. Tagsüber schien in Kobelwald auf der Felsterrasse am Fuss des Alpsteingebietes die Welt in Ordnung.

In der Nacht vom 31. Juli auf den 1. August 1982 geschah Merkwürdiges: Zwei Bewohner, die von ihrem Haus aus Sichtkontakt zur Höhle hatten, bemerkten, dass sich dort oben in der Nacht Lichter bewegten. Sie dachten, es handle sich um Vorbereitungsaktivitäten für den Nationalfeiertag. Vermutlich waren es die Scheinwerfer eines Autos oder Taschen- bzw. Stirnlampen. Heute steht für beide fest, dass sich eine oder mehrere Personen im Bereich der Höhle aufhielten, mutmasslich um die Leichen im Schutz der Dunkelheit zu verstecken.

Ein weiteres seltsames und merkwürdiges Ereignis stützt diese Annahme. In derselben Nacht vom 31. Juli auf den 1. August 1982 muss sich jemand in der Höhle aufgehalten haben. Und zwar kein Fremder, sondern ein Zutrittsberechtigter, der einen Schlüssel besass. Anderntags wurde ein Höhleneinbruch gemeldet, der jedoch nur vorgetäuscht war. Die Tür zur Höhle war nicht mit Gewalt aufgebrochen worden. Was wollte der «Höhleneinbrecher» damit bezwecken? War es ein Ablenkungsmanöver?

Heute, 36 Jahre später, Augenschein am Ort des schrecklichen und rätselhaften Verbrechens. Die geheimnisvolle Höhlenwelt von Kobelwald mit ihren rauschenden Wassern und leuchtenden Kristallen ist ein Naturwunder, das in den Sommermonaten tausende Besucher anzieht. Wer sich vor dem Eingang in die Höhle auf der rechten Seite an die Brüstung stellt, blickt in einen tiefen Abgrund. Nicht weit von hier unterhalb der Schlucht war in einem Felsloch die Leiche von Karin Gattiker versteckt.

Zeuge Roland Haltinner ist ein geübter Berggänger, der etwa einen Kilometer unterhalb der Höhle aufgewachsen ist und das zerklüftete Gebiet in- und auswendig kennt. Für ihn ist klar, dass es keine geplante Tat war und den Mädchen eine Zufallsbegegnung zum Verhängnis wurde. «Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort», sagt Haltinner.

Für ihn kommen mehrere Szenarien in Frage. Möglich ist, dass die Mädchen im Auto der Täterschaft zum Tanzplatz hinaufgefahren wurden, in unmittelbarer Nähe der Kristallhöhle. Oder die Mädchen haben ihre Velos stehenlassen und wollten zu Fuss über Kobelwies zur Kristallhöhle gelangen. Unterwegs seien die Mädchen dem späteren Mörder begegnet, mutmasst Haltinner.

Aus irgendeinem Grund muss die Lage wenig später eskaliert sein. Vielleicht löste ein Unfall die tödliche Kettenreaktion aus, meint Haltinner: Ein Mädchen rutschte bei der Kristallhöhle aus und stürzte über den Abhang hinunter. Der Begleiter fürchtete Konsequenzen für sich und geriet in Panik. Das andere Mädchen begann zu schreien und rannte davon. Im steilen Gelände direkt vor einem Felsen kam es nicht mehr weiter und wurde vom Täter eingeholt und erschlagen.

Laut Haltinner ist eine zweite Unfallvariante denkbar: Eines der Mädchen könnte vom Auto eines Unbekannten angefahren worden sein. Der Täter und möglicherweise ein Mitfahrer verloren die Nerven und zerrten beide Mädchen ins Fahrzeug. Diese müssen sich gewehrt und geschrien haben. Beim Parkplatz in der Nähe der Kristallhöhle tickte die Täterschaft aus und fiel über die beiden her. Für diese Version spricht laut Haltinner das zerkratzte und zerbeulte Auto eines Tatverdächtigen.

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