2.400.000 Schritte nach Rom

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2.400.000 Schritte nach Rom
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Walter Eberth

2.400.000 Schritte nach Rom

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

2.400.000 Schritte nach Rom

Danksagung

Als ich am 4. August 1945 geboren wurde, lag Deutschland durch den Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche. Die Menschen waren traumatisiert, und Armut war überall zu sehen.

Ja, Armut habe ich als Kind noch in bester Erinnerung, wenn es uns auch auf dem Land noch viel besser ging als den Menschen in den zerbombten Städten.

Leider gibt es auch heute noch Kriege und Brandherde auf der ganzen Welt.

Lassen Sie mich mit meiner Kindheit beginnen.

Ungern erinnere ich mich heute, wie es mir als Kind in der „Armut“ erging. Die einen freuten sich über mich, andere wiederum fühlten sich mit meiner Geburt überfordert.

Mit mittlerweile vier Kindern in einem bescheidenen kleinen Fachwerkhaus gab es wenig Freude, vor allem für uns Jüngste. Bruder Kurt kam 1947 als fünftes Kind dazu. Unsere Mutter war, als wir sie benötigten, öfters sehr krank.

Nie hätte ich es mir als Kind erträumen können, heute auf ein zufriedenes Leben zurück blicken zu können.

Der Himmel über Fatima war am 4. Juni 2011 von so einer blauen Farbe, wie es nur in den südlichen Ländern üblich ist. Dazu bildeten sich einige schneeweiße Wolken, die meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ich stand auf dem riesigen Pilgerplatz und war ganz gedankenverloren. Meine weiteren Pilgerfreunde, die mit mir nach Santiago de Compostela unterwegs waren, erkundeten die Anlage. Nun stand ich hier, betrachtete die Anbetungskapelle und war über die Marien Erscheinung von den Hirtenkindern vom 13. Mai 1917 so fasziniert, dass ich vor Ehrfurcht erstarrte. Ich spürte, folgende Botschaft wahrgenommen zu haben:

Gott schickt euch die Wolken damit es regnet und spendet auch Schatten, lässt Früchte reifen und die Frucht gedeihen und ihr Menschen dankt es ihm nicht …

Nun konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich griff etwas später zum Handy und rief meine Frau an, um ihr das Erlebte mitzuteilen. Nach den ersten Worten bekam ich einen Weinkrampf, so dass ich das Gespräch nicht weiterführen konnte.

Dieses Erlebnis hat mich mehrere Wochen und Monate beschäftigt. War es ein Zeichen für mich, zu Fuß nach Rom zu gehen? Diese Frage hat mich nach mehreren Pilgerwegen immer wieder bewegt. Oft wurde ich nachts wach und sofort waren die Gedanken an Fatima wieder da. Im Alltag hatte ich andere Überlegungen, die mich beschäftigten. Doch über die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel hatte ich mich an Rom erinnert.


Das bin ich

Als ich am Morgen des 7. Januar 2012 wach wurde, war es mir so, als ob ich geträumt hatte: Du musst nach Rom gehen. Dabei beließ ich es erst einmal! Es ließ mir in den nächsten Wochen keine Ruhe, bis ich aktiv wurde. Ich schrieb einen Brief an Pfarrer Heinz-Walter Barthenheier in Montabaur und stellte ihm mein Konzept für eine Romwanderung vor. Es sollte ein „Danke“ für mein Eigenes, gesundes Leben sein. Zugleich wollte ich es verbinden mit einem sozialen Zweck.


Ich hatte gelesen, dass der Pfarrer seit Jahrzehnten eine Stiftung mit verschiedenen Projekten unterhält. Im Antwortbrief lobte er meine Idee und schlug mir vor, für die Straßenkinder in La Paz/Bolivien zu laufen. Jetzt stellte ich meine Idee unter das Motto: Spendenlauf von Montabaur nach Rom für die Straßenkinder in La Paz/Bolivien.

Ein Schreiben verfasste ich für Freunde, Nachbarschaft und Geschäftsleute und bat diese den Spendenlauf mit zehn Cent pro gelaufenen Kilometer zu unterstützen. Das hört sich doch vertretbar an, oder? Doch bei 1.800 Kilometern, die ich zu bewältigen hatte, kam die stolze Summe von 180 Euro zusammen. Ich erwähnte, dass natürlich auch jede andere Spende dankend angenommen werde. Ein Konto wurde eigens eingerichtet. Ich hatte mir vorgenommen, den Weg in zwei Etappen zu gehen. An Pfingstmontag 2012 war es dann soweit! Start und Aussendung erfolgte in der Pfarrkirche in Horressen. Eine große Gruppe – 22 Personen – begleitete mich auf der ersten Teilstrecke bis nach Diez.

Doch vorher war ich mit der Tourenplanung beschäftigt. Als erstes Ziel hatte ich mir Einsiedeln in der Schweiz vorgenommen. Einen markierten Wanderweg gab es nicht bis nach Pforzheim.

So plante ich alles über den Laptop und nutzte die Navigation über Google Maps.

Am Pfingstmontag begleitete mich ein Gefühl, als ob es ein Abschied mit unbekanntem Ausgang würde. Viele Bürgerinnen und Bürger von Horressen, Elgendorf und Montabaur wünschten mir vor der Kirche Glück, Gesundheit und Gotte Segen. Überall sah ich Menschen mit Tränen in den Augen. Ich sah sie als Freudentränen. Aus den Seitenstraßen wurde gewunken und mir Glück gewünscht. Mit soviel Zuspruch hätte ich niemals gerechnet. Nun gab es kein Zurück mehr. Der Weg nahm jetzt seinen Lauf. Viel gelacht haben wir unterwegs, nochmals gebetet im Wallfahrtsort Wirzenborn, ehe es in Hirschberg die ersten Probleme gab. Wie geht es weiter, stelle sich die Frage in der Ortsmitte. Da drei Personen ein Navigationsgerät dabei hatten, sollte es doch keine Irritation geben. Aber weit gefehlt! Jeder schlug einen anderen Weg vor. Keiner wollte eine Streitsituation herbeiführen. Hätten alle auf den erfahrenen GPS-Pilger Herbert gehört, wären wir alle gemeinsam in Altendiez angekommen. Bis auf eine kleine Gruppe waren alle anderen einen zusätzlichen Umweg gelaufen. Ich machte mir dann so meine Gedanken, ob mich mein Gerät auch richtig führen wird. Den Weg über den Taunus kannte ich ja durch meine Außendiensttätigkeit aus dem Effeff.

Ganz einfach war es für mich nicht bei der Verabschiedung in Diez, als alle die Heimreise wieder antraten. Auf dem Zimmer angekommen, überkam mich ein sonderbares Gefühl.

Jetzt war ich allein. Ich notierte in meinem Notizbuch folgendes: Ich kann mir vorstellen, dass es solche Gefühle sind, wenn die Familie einen Patient ins Krankenhaus begleitet und dieser auf eine erfolgreiche Gesundung hofft oder in meinem Fall, der Unternehmung, zurückgelassen wird. Am nächsten Morgen, ich hatte unruhig geschlafen, aß ich das angebotene Frühstück und machte mich dann auf den weiteren Weg. Aufmerksam beobachtete ich alles, was ich auf der Strecke sehen konnte, und hielt es auf Fotos fest.

Auch kamen die ersten Gedanken an meine Kindheit zurück.


Alte Erzählungen und die sichtbare Narbe an meinem rechten Bein zeugen von einer Verbrennung durch kochendes Wasser. Ich muss so um die zwei Jahre alt gewesen sein. Schon früh machte ich Bekanntschaft mit der Mutter Gottes. Erstmals eine negative. Was war passiert? An der alten Kapelle, unmittelbar an meinem Elternhaus – sie gibt es seit 1955 nicht mehr – stand an der Außenwand ein großes Kreuz mit der Christusfigur. Links eine Steinstatue von Johannes dem Täufer und rechts die Mutter Gottes.


Kurt, Marlies und ich

Ich hatte als kleiner Junge schon immer Steine in der Hosentasche oder in den Händen. Gezielt habe ich gut, getroffen noch besser! So ergab es sich vor der Kapelle, dass andere Kinder und Jugendliche behaupteten: „Du trifft doch keine Figur!“ Als Siebenjähriger machst du dir keine Gedanken über die eventuellen Folgen. Der erste Stein, den ich warf, traf direkt ins Ziel. Ich sehe heute noch den Kopf der Mutter Gottes auf die Straße fallen. Jetzt merkte ich erst, was wirklich passiert war. Die älteren Frauen aus der Nachbarschaft, die das sahen, bekamen Panik und bekreuzigten sich. Was galt es jetzt für mich zu tun? Nach Hause gehen auf keinen Fall. Aber irgendwann am Abend musste es doch sein. Die ersten Schläge bekam ich natürlich von meiner Mutter.


Viele Zeitgenossen

Eine Schande lag über der Familie!

So etwas hatte es noch nicht im Dorf gegeben.

Die Schläge der Mutter konnte ich ja noch ertragen. Doch als ich am nächsten Tag aus der Schule kam, gab es für mich ein reines Spießrutenlaufen. Mein Vater schlug so auf mich ein, als wollte er mich umbringen. Wäre meine Mutter nicht mehrmals dazwischen gegangen, wäre es wohl passiert. Tagelang lag ich im Bett ohne aufstehen zu können. Ich weiß nicht mehr wie lange es dauerte bis ich wieder schmerzfrei wurde. Oft, ja mein ganzes Leben habe ich daran gedacht, und die Mutter Gottes um Verzeihung gebeten.

 

Wieder auf dem Weg:

Als ich in Richtung Hahnstätten lief, kam ich vor Hohenstein an einer alten Burgruine vorbei und etwas später an der Römerquelle nahe Zollhaus. Diese wurde bereits 1583 erschlossen und ist heute noch begehrenswerter Trank für Wanderer und Einheimische. Das Aartal in dem ich mich befand, ist geprägt durch ansteigende Hügel links und rechts des Tales.

Später ging es bergan nach Hohenstein. Hier hast du den Eindruck weit weg vom pulsierenden Leben zu sein. Wälder, Wiesen und Felder wechseln sich ab. Im Taunus vor Taunusstein-Wehen gibt es dann nur noch Wälder. Hier hatte ich meine nächste Übernachtung in einer Mühle. Sehr originell. Der nächste Tag führte mich dann nur noch durch Waldgebiet, bis nach Wiesbaden. Über 20 Kilometer war ich nun mit der Natur allein. Die einzigen Begleiter waren die Vögel, die sich gestört fühlten.

So kamen auch hier wieder Gedanken an die frühe Kindheit.

Kurz nach der Einschulung wurde ich durch die Krankheit meiner Mutter aus der Familie herausgerissen. Ich musste zu einer Tante in ein anderes Dorf, bei der ich mich bei den Besuchen vorher schon nicht wohl gefühlt habe. Da mein jüngerer Bruder auch bei einer anderen Tante untergebracht wurde, nahm ich es erst einmal so hin. Es wurde die schlimmste Zeit meiner Kindheit!

Dankbar hätte ich zwar für die Aufnahme sein können, doch was mich erwartete, kann und möchte ich keinem Kind zumuten. Ein freundliches Wort oder Zuneigung kannte ich hier nicht. Bäuerliche Arbeiten waren wichtiger als mir bei den Hausaufgaben zu helfen. Auch die beiden Schwestern dort im Haus interessierten sich nicht für meine schulischen Leistungen. Unzählige Tränen habe ich in den nächsten Monaten (1953) vergossen und großes Heimweh kam noch hinzu.

Ich gehe jetzt nochmals ins Jahr 1952 zurück.

Bei der Einschulung im April 1952 stellte die Lehrerin fest, dass ich Linkshänder war. „Das gibt es bei mir nicht“, hörte ich sie sagen. „Du wirst nur mit der rechten Hand schreiben lernen.“

Aber wie sollte das gehen? Immer wenn sie mich nicht im Blick hatte, wechselte ich den Bleistift auf der Schiefertafel. Doch wehe, sie hatte es wieder einmal gesehen. Die linke Hand vorstrecken, hieß es dann. Was waren das für Schmerzen! Ich wurde umerzogen, wie man es nannte.

Wieder auf dem Weg:

Wenn man wie ich über 20 Kilometer nur durch ein Waldstück läuft, hat man auch den Eindruck, dass man sich verlaufen hat. Glücklicherweise kam ich doch ohne Umwege am Nordfriedhof der Stadt Wiesbaden vorbei. Ein jüdischer Friedhof, der vorgelagert ist, erschien mir, als sei er schon Jahrhunderte alt. Nun ging es bergab in die Innenstadt bis zum Marktplatz. Es war Markttag, was unübersehbar war. Unzählige Menschen genossen bei dem schönen Wetter den Einkaufsbummel. Auch ich versorgte mich mit frischem Obst. Als die prächtige Stadtkirche die Mittagszeit einläutete, machte ich eine weitere Pause. Am hessischen Landtagsgebäude vorbei und später am Fußballstadion ging ich stadtauswärts und passierte die Stadtteile Erbenheim, Nordenstadt und Delkenheim.

Immer wieder richtete ich meine Blicke auf die Flugzeuge, die über mir her flogen. Ich war in der Nähe des Rhein/Main Flughafens. Den Weinort Wicker durchlief ich noch, ehe ich in Flörsheim ankam. Im Internet hatte ich mir ein Montagezimmer ausgesucht zum Preis von zehn Euro. Unterwegs hatte ich mit der Wirtin telefoniert, die jedoch erst ab 17.30 Uhr anwesend sein wollte. Sie kam allerdings erst um 18 Uhr. Mittlerweile hatte in der der Nachbarschaft bei den katholischen Schwestern wegen eines Zimmers nachgefragt. Leider ohne Erfolg. Im Stammhaus war kein Zimmer mehr frei, warum hatte mir die Wirtin das nicht gesagt? Ich stellte fest, dass es eine seine geschäftstüchtige Witwe war, die auch gerne mein Geld nehmen wollte. Mit weiteren sechs Personen, alles Monteure, wurde ich im Gästehaus für 20 Euro untergebracht. Eine Etagendusche gab es für alle. Seife und Handtücher wurden nicht gestellt. So hatte ich einen ersten Eindruck von Monteurszimmern. Ab 6 Uhr am Morgen hatte ich den Eindruck, die Flugzeuge flögen direkt übers Dach. Nach einer Katzenwäsche verließ ich um 6.30 Uhr das Haus, um im nahe gelegenen Supermarkt das Frühstück einzunehmen. Es war kühl am Morgen, Nebel lag über dem Wasser, als ich den Main bei Raunheim überquerte. Eine lange Allee durchlief ich in Rüsselsheim, ehe ich mich wieder in freier Natur befand. In Nauheim besuchte ich einen ehemaligen Horresser Bürger, dessen Partnerin einen Friseurladen besitzt. Alle Plätze waren besetzt, so sollte ich ein paar Minuten warten, dann bekämme ich die Haare geschnitten, so die Aussage der Chefin. Doch ich wurde nicht erkannt in meiner Wanderkleidung und hatte doch nur „Guten Tag“ sagen wollen. Jede Kundin spendete zwei Euro; einschließlich des Personals. Danach staunte ich über die vielen Gemüseplantagen vor Groß Gerau. Viele verschiedene Sorten finden sich später in den Supermärkten wieder. In der Altstadt von Groß Gerau sind die Fachwerkhäuser sehr sehenswert. Zum Teil über 300 Jahre alt sind sie, Zeugen der Vergangenheit. Ich kam dann an die Autobahn A 67, stand auf der Brücke und dachte folgendes: Hier bist du jahrelang beruflich entlang gefahren und jetzt läufst du hier vorbei! Nie hätte ich damals daran gedacht, einmal ein „Wanderer“ zu werden. Im Industriegebiet von Pfungstadt sprach ich einige Passanten an, ob es eine Empfehlung in Pfungstadt wegen einer Übernachtung gäbe. Gut und preiswert sollte sie sein. Über 100 Prozent musste ich mehr gegenüber gestern bezahlen. Dafür war die Unterkunft besser und es gab ein Frühstück dazu.

„Was wird mich morgen erwarte?“, so meine Gedanken. Mein Bruder Kurt mit seiner Frau Helene hatten sich angekündigt, den nächsten Tag mit mir einen Solidaritätsmarsch zu gehen. Nun fing es an zu regnen und ich verließ nicht mehr mein Quartier.

Zurück zur Kindheit.

Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich nicht mehr mit der linken Hand schreiben können. Sie war geschwollen und ständig voller Schmerzen. Als ich es wieder einmal probierte und die Schläge unbeschreibliche Schmerzen verursachten, trat ich der Lehrerin die neuen Nylonstrümpfe kaputt. Durch das mittlere Klassenfenster sprang ich und trat die Flucht an. Ich ging jedoch erst nach Schulschluss nach Hause, es sollte ja nicht auffallen, dass gegen 9 Uhr dieser Vorfall in der Schule passierte. Doch ich hatte mich geirrt.

Bereits um 13 Uhr gab es auch Schläge zu Hause. Warum nur? Ich war nun mal als Linkshänder geboren! Als es dann noch hieß, dass die Strümpfe fünf D-Mark kosten sollten, war die Stimmung auf dem Nullpunkt.

Wieder auf dem Weg.

Es musste in der Nacht längere Zeit geregnet haben, denn überall auf den Straßen waren große Pfützen. Ein kräftiger Wind begleitete mich auf dem Weg zum Bahnhof. Hier hatte ich mich mit meinem Bruder und Schwägerin verabredet. Vorher nahm ich noch ein kräftiges Frühstück ein.

Ein Stau auf der Autobahn verzögerte die Ankunft um eine Viertelstunde. Die Begrüßung war so herzlich, als ob wir uns wochenlang nicht mehr gesehen hätten. „Was hast Du alles im Rucksack?“, fragte ich, als ich diesen vor dem Auto stehen sah. Kurt hatte Proviant mitgebracht, als wolle er drei Tage mit mir unterwegs sein. Jetzt ging es zielstrebig aus der Stadt auf den „Odenwälder“ Wanderweg. Ich hatte mein Handy-GPS eingeschaltet, das uns auf den richtigen Weg brachte. Wir hatten absichtlich diesen Weg bis Heppenheim gewählt, denn er führte uns durch sehr schöne, historische Orte. Seeheim-Jugenheim passierten wir, später Alsbach-Hähnlein. Hier machten wir unsere erste Pause und frühstückten in einem herrlichen Park. Eier, Käse, Wurst, Obst und Getränke, alles haben die beiden mitgebracht.

Hier hatten wir auch Gelegenheit, über meine bisherigen Tage zu berichten. In Bensheim angekommen, staunten wir über die vielen Menschen in der Fußgängerzone. Schnell hatten wir festgestellt, dass ein Bürgerfest stattfand. Weinstände und Wurstbuden luden alle Vorbeikommenden zum Verweilen ein. Wir genossen den Altstadtbummel in vollen Zügen. Herrlicher Sonnenschein begleitete uns, obwohl es am Morgen nicht danach ausgesehen hatte. Durch Weinberge, mit Blick auf Mannheim und die Vorderpfalz, wanderten wir in Richtung Heppenheim. Im hiesigen Dom nutzten wir unsere „guten“ Stimmen und sangen ein Danklied. Einfach toll! Nach einem ausgedehnten Altstadtbummel wurde ich zu einer Eisdiele eingeladen. Mit Freude verzehrte ich einen großen Eisbecher. Jetzt kam der Zeitpunkt, an dem wir uns verabschieden mussten. Ich begleitete die beiden noch zum Bahnhof. Dass es hier emotional zuging, ist sicherlich nicht verwunderlich. Nach der Verabschiedung war ich nun wieder allein.

Zurück zur Kindheit!

Auf dem Weg zum Quartier kamen wieder die Gedanken. Als Brüder waren wir oft in der Kindheit getrennt. So baute sich in dieser Zeit auch keine direkte Bruderliebe auf. Ja, ich hatte zu keinem meiner Geschwister ein tolles Verhältnis in dieser Zeit. Wenn ich mal wieder bei der „Familie“ war, hatte ich mit der Feld und Stallarbeit nicht viel am Hut. Ich drückte mich, wo ich nur konnte. Lieber suchte ich die Backstube in der Nachbarschaft auf. Hier fühlte ich mich wohl, hier war ich „zuhause“. Meine Mutter schimpfte zwar immer, wenn sich die anderen beschwerten, doch meistens duldete sie es. In der Backstube fand ich auch den väterlichen Freund, der mich auf mein späteres Leben vorbereitete. Jetzt werden viele fragen: Was sagte dein Vater dazu? Später habe ich es erst verstanden, dass dieser nie viel Zeit für uns aufgewendet hatte. Die Familie zu versorgen, das war seine Berufung. In der Fabrik mehrmals zwei und drei Schichten nacheinander zu machen, um das nötige Geld zu verdienen, das war ihm wichtiger. Welchen Mut hatte er aufgebracht, als er 1958 ein neues Haus plante und wir am Nikolaustag 1959 dort einzogen.

Auf dem Weg.

Meine Tochter Eva hatte sich etwas Besonderes ausgedacht, und mir ein Zimmer im Hotel „Am See“ in Heppenheim gebucht. Als ich diesen Palast am Wasser sah, fragte ich mich: Bin ich im Urlaub oder mache ich eine Pilgerreise? Ich fühlte mich zwar wohl, aber das war nicht mein Wunsch. Toll war es, dass ich meine Kleidung waschen und das Bad als Trockenraum nutzen konnte.

Meine Gedanken beim Schlafengehen: einen so angenehmen Tag wie heute mit meinem Bruder Kurt und Schwägerin Helene hätte ich mir vorher nicht vorstellen können.

Herzlichen Dank dafür!

Die Nacht am See war ruhig, nur Vogelstimmen meldeten den nächsten Tag an. Bereits um 6 30 Uhr zog es mich förmlich aus dem Bett. Die Wäsche war getrocknet und ich war sofort mit dem Rucksackpacken zu Gange.

Überall hatte ich in dem großen Zimmer meine Sachen ausgebreitet. Ich war mir sicher, alles ordnungsgemäß verstaut zu haben, als ich mich zum Frühstück begab. Zurück auf dem Zimmer nahm ich meine Utensilien und verabschiedete mich an der Rezeption. Meine Route führte mich an Ladenburg vorbei, ich durchquerte Hemsbach und machte in Weinheim Station.

Hier genoss ich den Gang durch die Altstadt. Weiter ging es nach Hirschberg-Großsachsen. Im historischen Gasthaus saß ich in der Mittagszeit in der dortigen Weinlaube. Oh, welch ein Schreck! Beim Öffnen des Rucksacks stellte ich fest, dass das Kabel vom Zusatz-Akku fehlte, weiter auch das geschenkte Umhängekreuz von Bruder Kurt.

Ich hatte es vorsorglich an die Stehlampe im Hotel gehängt und nun doch vergessen. Zu guter Letzt wurde auch noch ein T-Shirt im Zimmer gefunden. Wie konnte das alles passieren? Jetzt startete ich mehrere Telefonate. Mit Tochter Eva, die das Zimmer ja geordert hatte. Dann mit dem Hotel. Was tun? Ich war ja schon über 20 Kilometer von Heppenheim entfernt. Zurückgehen kam nicht in Frage. Also akzeptierte ich ein vom Hotel vermitteltes Taxi zum Preis von 35 Euro. Das Geld, das ich für das Zimmer gespart hatte, war nun doch weg. Hauptsache, ich hatte die Sachen wieder. Froh war ich dann später, als meine Tochter Ute und mein Enkel Valentino anriefen, um sich über mein Wohlbefinden zu informieren. Als ich dann gegen 16 Uhr in Dossenheim ankam, begab ich mich zur Kirche, um mit dem Pfarrer zu sprechen. Ich hatte mir unterwegs überlegt, falls es eine Messe am Samstag gab, den Pfarrer um eine Spende zu bitten. Nun kam ich am Pfarrhaus an, klingelte und musste feststellen, dass der Pfarrer im Urlaub war. Neben der Kirche saß eine ältere Dame und war sehr traurig.

 

Höflich fragte ich, ob ich mich kurz zu ihr setzen dürfte. Sie hatte mich vorher schon beobachtet und mir dann bestätigt, dass der Pfarrer im Urlaub war. Ohne weitere Fragen zu stellen, berichtete sie mir, dass ihr Mann erst vor kurzem gestorben sei. Nachdem sie gefragt hatte, was mich hierhin führte, berichtete ich ihr, dass ich auf dem Weg nach Rom war, und eine Übernachtungsmöglichkeit suchte. „Ich kann ihnen den Heidelberger Hof empfehlen, der liegt direkt hinter der Kirche“, sagte sie. Das Haus öffnete erst gegen 17 Uhr und ich musste deshalb eine Telefonnummer anrufen, ob noch ein Zimmer frei war. Der junge Wirt bestätigte mir am Telefon ein Zimmer und bot mir im Nachbargebäude die Übernachtung an, welches ich auch bezog. Doch als ich mich duschen wollte, stellte ich fest, dass kein Wasser lief. Nun musste ich mich wieder anziehen, den Wirt anrufen, um ihm das Problem mitzuteilen. Es war ja noch keine 17 Uhr. Mit einer Codenummer konnte ich mir dann einen anderen Schlüssel besorgen und somit ein anderes Zimmer beziehen. Später stellte sich heraus, dass schon lange niemand mehr im Zimmer gewesen war, und der Wasserlauf gesperrt war. Ein verrückte Geschichte, oder? Nun kam ich doch noch rechtzeitig zur 18-Uhr-Messe. Der Nachbarspfarrer hielt den Gottesdienst.

Nach Beendigung ging ich in die Sakristei und erzählte ihm von meinem Vorhaben. Als ich im Gespräch erwähnte, dass ich für die Straßenkinder in La Paz/Bolivien unterwegs sei, war ich erstaunt, dass er den dortigen Pfarrer Josef Neuenhofer kannte. Über eine Spende mochte er jedoch nicht entscheiden. Schade! Jetzt ging ich doch etwas enttäuscht zum Zimmer zurück.

Die Vorkommnisse des Tages beschäftigten mich noch den ganzen Abend.

Der Sonntag begann um 6 Uhr mit Regen, Regen um 7 Uhr, Regen um 8 Uhr, ja, bis um 10 Uhr hatte ich meinen ersten Regen auf meinem Weg. Beim Frühstück um 8 Uhr war es mir noch egal. Ich hatte mir am Vortag vorgenommen um 8 30 Uhr loszugehen. Jetzt verschob ich den Zeitpunkt auf 9 Uhr. Die Regenjacke hatte ich schon bereitgelegt, angezogen und machte mich dann auf den Weg in Richtung Heidelberg.

Ich musste mich erst einmal mit dem Regen anfreunden. Doch nach 20 Minuten war es mir egal. Es geht kein Wasser durch die Jacke, hörte ich meine Tochter Eva noch sagen. Sie sollte Recht behalten. Als ich Heidelberg erreichte, hörte es auf zu regnen. Ich merkte schnell, dass Sonntag war, denn es war sehr ruhig in der Stadt. In Bahnhofsnähe konnte ich mehrere Menschen sehen, die entweder kamen oder weg wollten. In Richtung Leimen lief ich mehrere Kilometer die Berta-Benz-Allee entlang. In Leimen machte ich in einem Café Pause und unterhielt mich mit den Bedienungen.

Auch über Boris Becker, den Ausnahmetennisspieler, dessen Heimatort Leimen ja ist. Da oben, ziemlich am Waldrand, stehe seine Villa. Später, als ich den Ort Wiesloch verlassen hatte, überquerte ich die Autobahn in Richtung Heilbronn, auf dem Weg in den Kraichgau. Unterwegs riefen mich meine Familie und einige Freunde an und erkundigten sich nach meinem Weg. Als ich gegen 17 Uhr in Östringen ankam, hier beendete ich meine Tagestour, versuchte ich im einzigen Gasthaus, dem Östringer Hof, ein Zimmer zu bekommen. Auf der Hausklingel war ein Zettel angebracht, dass man sich in der Nebengaststätte – einer kleinen Bierkneipe – wegen einer Übernachtung melden sollte. Zehn Minuten später kam die Wirtin, und ich besprach mit ihr den Zimmerpreis.

Schnell wurde eine Einigung erzielt. Ich erhielt noch einen Rabatt wegen des Spendenlaufs. 35 Euro mit Frühstück bezahlte ich am nächsten Morgen. Nun war ich der einzige Gast im Haus, die Wirtsleute wohnten in einem anderen Haus. Da ich einen Fernseher auf dem Zimmer hatte, war es mir nicht langweilig geworden. Der Hausherr hatte mir persönlich das Frühstück bereitet, als ich am Morgen im Speiseraum ankam.

Er hatte ein Bein verloren und konnte nur bedingt laufen. Das hatte mir die Chefin schon am Vorabend erzählt. Die Kinder sind alle aus dem Haus und keiner hat Interesse, das Haus weiter zu führen, lautete die Aussage auf meine Frage hin. „Solange meine Frau und ich das noch können, machen wir weiter.“ Und das, obwohl sie längst das Rentenalter erreicht haben. Das Wetter war immer noch nicht stabil. Regenwolken zogen auch in der Nacht durch. Im Schirmständer waren fünf gelbe Schirme. „Schenken Sie mir einen?“, fragte ich. Es ist sicherlich ratsam, einen Schirm dabei zu haben, wenn es regnet, kam mir in den Sinn. Nach anfänglichem Zögern stimmte er zu. Ich hörte ihn noch sagen: „Wenn meine Frau nachher kommt, sagt sie sofort, es fehlt ein Schirm.“ Nach der Verabschiedung dachte ich bei mir: ein sehr angenehmes Ehepaar, das leider nur noch auf absehbare Zeit Touristen, Wanderer und Gäste bewirten wird. Ich hatte am Vorabend gelesen, dass die Gegend, das Kraichtal, das ich heute durchlaufen musste, das Land der 1.000 Hügel heißt.

So kamen mir beim Laufen wieder Erinnerungen, besonders an das Jahr 1955. Drei große, für mich bedeutende Ereignisse, wurden mir wieder bewusst. Zuerst an meine Erste Heilige Kommunion am Ostermontag. Dabei stand ich zum ersten Mal im Mittelpunkt. Der Jahrgang war so schwach, dass wir nur vier Kinder waren, an unserem Ehrentag. Ich war mal wieder bei der „Verwandtschaft“ in Ferien, als am 4. August mein Geburtstag war. Meine Mutter war während dieser Zeit in Kur. Als Kind freust du dich doch über Geschenke, auch wenn diese noch so klein sind. Was mir meine Tante schenkte, kann ich nicht mehr sagen. Doch gegen Mittag kam ein Päckchen per Post, an meinen Namen adressiert. Beim Auspacken schlug das Herz mir bis zum Hals. Meine Mutter hatte mir die ersten Turnschuhe aus der Kur geschenkt. Es waren schwarze Stoffschuhe, mit einer Gummisohle versehen, die nun mir gehörten.

Herbst 1955!

Mittlerweile war ich schon mal ab und zu in der Backstube beim Meica. Dann kam der letzte Sonntag im November. TuS Neuendorf spielte gegen 1.FC Kaiserslautern. Kaiserslautern hatte fünf aktuelle „Weltmeister“ in seinen Reihen, mit dem überragenden Fritz Walter. Willst du mit nach Koblenz fahren? Dann nehme ich dich mit. Ich war noch nie im Stadion, geschweige denn in Koblenz. Meine Mutter erlaubte mir mitzufahren, zumal Herbert alles bezahlte. Zu Fuß ging es auf den Horresser Stock und dann weiter mit dem Bus. Zum ersten Mal sah ich so viele Menschen auf einem Platz.

„Halte dich an meinem Mantel fest“, sagte Herbert. Nach dem Spiel wollten alle noch die „großen“ Spieler von Nahem sehen. Mit der Mannschaft des TuS speisten die Kaiserslauterer in den Rheinlandpfalzstuben. Hunderte Menschen drängten sich vor dem Lokal. Immer näher an den Eingangsbereich schob mich Herbert vor sich her, bis wir an der Türe angekommen sind. „Wenn die Tür aufgeht, musst du sofort rein laufen.“ Ich wollte dem in meinen Kinderaugen übermächtigen Fritz Walter ganz nahe sein. Mittlerweile hatte sich auch Herbert Einlass verschafft.

Wie das ging, bei dieser Absperrung, weiß ich heute noch nicht. Er sagte zu mir, Fritz Walter ist gerade auf die Toilette gegangen, wenn er zurückkommt, kannst du ihm die Hand geben. Gesagt, getan! Mit zittrigen Beinen ging ich auf ihn zu, machte einen Knicks, wie ihn sonst nur Mädchen machen, und gab ihm die Hand. Ordner drängten mich dann wieder zurück. Ein unbeschreibliches Gefühl!

Jetzt hatte ich wieder nur die Augen für den Kraichgau.

Schon beim Start musste ich kräftig durchpusten. An die ersten 200 Höhenmeter sollte ich mich erst noch gewöhnen. Manchmal hatte ich einen guten Blick auf das Umland. Im Westen musste Bruchsal liegen und im Osten wird Heilbronn sein, so meine Gedankengänge. Kleine Orte wie Zeutern durchlief ich, immer stetig auf und ab. Unterwegs fing es an zu regnen, und ich setzte mich auf einen Unterstand. In meinen Unterlagen las ich nochmals, dass meine Strecke heute 25 Kilometer lang war, Auf einer großen Anzeigetafel wird die Landschaft beschrieben. „Hohlwege im Kraichgau“ heißt die Überschrift. Sehr interessiert habe ich die Geschichte gelesen, was die Natur vor ungefähr 15.000 Jahren nach der Eiszeit geschaffen hat. Obwohl die Gegend hier sehr hügelig ist, sind die Felder alle bestellt. Von Weizen und Korn bis Kartoffeln, und Zuckerrüben, alles wird hier angebaut. Herrlich ist es immer wieder, wenn du aus einem Waldstück kommst und in die weitläufige Landschaft blickst. Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen, und ich konnte die Konturen des Kraichtal besser erkennen. Leider kam ich nur durch sehr wenige Orte. Auf einem Grillplatz in der Nähe von Büsching machte ich nochmals eine Pause. Sehr interessiert beäugte mich ein Eichhörnchen. Ich hatte den Eindruck, als ob es mit mir spielen wollte. Einmal kam der Blick rechts vom Baum dann wieder von links. Das dauerte ungefähr fünf Minuten. Die Ruhe, die ich hier genießen durfte, entschädigte mich für das Laufen. Als ich durch Gondelsheim lief, ich hatte einen kleinen Umweg gemacht, las ich, dass ich nur noch drei Kilometer bis zum Ziel hatte. Gegen 17 Uhr erreichte ich dann Bretten. Im Gasthaus Hirsch quartierte ich mich ein. Gut erholt in der Nacht und mit einem normalen Frühstück ging es bereits um 7 30 Uhr Stadtauswärts. Immer in Nähe der B 294 folgte ich dem Wegweiser. Felder, so weit das Auge reichte, durchschritt ich heute. Froh war ich mal wieder, wenn ich etwas abseits der Bundesstraße ging und mich in einem Waldstück befand. Bereits um 13 Uhr überquerte ich die Autobahnbrücke Karlsruhe – Stuttgart in Richtung Pforzheim. In der Stadt verweilte ich bis 15 Uhr und genoss unter anderem eine gute Tasse Kaffee in der Fußgängerzone. Mein Akku im Handy war fast leer, als ich in einem T-Punkt-Laden eine Überprüfung des Zusatzakkus machen ließ. Hier wurde festgestellt, dass der Akku, den mir mein Freund Theo besorgt hatte, sich für mein Handy nicht eignet. Im nahe gelegenen Touristenbüro informierte ich mich über den weiteren Weg in Richtung Süden. Es gibt ab Pforzheim den mir bekannten Westweg, dann noch den Mittelweg und den Ostweg. Die Wanderkarte –Mittelweg- gefiel mir so gut, dass ich mir diese auch kaufte.

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