10 Mordprozesse aus Deutschland

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10 Mordprozesse aus Deutschland
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Walter Brendel

10 Mordprozesse aus Deutschland

Impressum

Texte: © Copyright by Walter Brendel

Umschlag: © Copyright by Gunter Pirntke

Verlag:

Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag

Gunter Pirntke

Altenberger Straße 47

01277 Dresden

gunter.50@gmx.net

Inhalt

Impressum

Vorwort

Mord um eine Hure (1957)

Ich will nur töten (1962)

Es geschah in Lebach (1969)

Mord aus Eifersucht (1977)

Die Mutter als Rächerin (1981)

Tod in der Eifel (1982)

Mord aus Habgier (1984)

Der Killer von St. Pauli (1986)

Eltern unter Verdacht (1986)

Liebe mit Mordabsicht (2012)

Vorwort

Der Mord an einem Menschen ist durch ein großes Unrecht charakterisiert. Dieses größere Unrecht wird nach geltendem Recht durch die Verwirklichung der sogenannten Mordmerkmale angezeigt. Es hat zur Folge, dass der Mord mit dem höheren und grundsätzlich zwingenden Strafmaß der lebenslangen Freiheitsstrafe bedroht wird. Folgende Mordmerkmale werden in drei Fallgruppen unterschieden. Die erste Fallgruppe umfasst die niedrigen Beweggründe. Dazu zählen Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier und sonstige niedrige Beweggründe. In der zweiten Fallgruppe werden die sogenannten verwerflichen Begehungsweisen wie Heimtücke, Grausamkeit und gemeingefährliche Mittel unterschieden. Schließlich gibt es in der dritten Fallgruppe die deliktische Zielsetzung, welche Ermöglichungsabsicht und Verdeckungsabsicht umfasst. In den folgenden Fällen wird anhand von zehn aufsehenerregenden Mordprozessen gezeigt, dass auch mehrere Fallgruppen ein Mordmotiv umfassen können. Oftmals eine schwierige Aufgabe für die Gerichte, die entsprechende Zuordnung zu treffen und letztlich über Schuld oder Unschuld des oder der Täter entscheiden zu können.

Folgende Fälle werden hier näher betrachtet:

1. Mord um eine Hure

Die Frankfurter Edel-Prostituierte Rosemarie Nitribitt wurde 1957 im Alter von 24 Jahren ermordet. Der Fall konnte nie aufgeklärt werden. Zu den vielen Spekulationen rund um den Fall trägt bei, dass Prominente aus Wirtschaft und Politik zu den Kunden von Nitribitt gezählt haben sollen. Ermittlungspannen der Kripo nährten den Verdacht einer planmäßigen Vertuschung. Der „Fall Nitribitt“ dient als Ausgangspunkt, um die spießige deutsche Nachkriegsgesellschaft der 50er Jahre zu charakterisieren.

2. Ich will nur töten

Der „Kirmesmörder" Jürgen Bartsch hat zwischen 1962 und 1966 vier Jungen getötet. Auf Kirmesplätzen in Nordrhein Westfalen hielt er Ausschau nach „geeigneten" Opfern. Am 21. Juni 1966 wurde Jürgen Bartsch verhaftet. Der „Kirmesmörder“ hatte vier Jungen abgeschlachtet. Die bestialischen Morde erschütterten Deutschland. Doch was machte den 21-Jährigen zum Killer?

3. Es geschah in Lebach

Sie kommen morgens um kurz vor drei Uhr: Zwei bewaffnete Männer dringen in der Nacht zum 20. Januar 1969 in ein Munitionslager der Bundeswehr ein, töten drei der fünf Wachsoldaten und verletzen zwei schwer. Einer der schwerverletzten Soldaten stirbt kurz danach, nur einer überlebt den Angriff. Die Täter entkommen mit Waffen und Munition. Ein Gewaltverbrechen, das in der Öffentlichkeit ungewöhnliches Aufsehen erregte.

4. Mord aus Eifersucht

Am 3. Februar 1977 geht bei der Polizei in Starnberg ein Anruf ein. Ein Mann sei angeschossen worden. Die Anruferin ist keine Geringere als Schauspielerin Ingrid van Bergen. Der Verletzte ist ihr Geliebter Klaus Knaths. Drei Mal hat sie geschossen, zwei Mal trifft sie. Der letzte Schuss ist tödlich. Klaus Knaths stirbt vor der Starnberger Villa. Am 20. Juli 1977 beginnt der Prozess gegen Ingrid van Bergen. Die Verhandlung soll nun die Wahrheit ans Licht bringen.

5. Die Mutter als Rächerin

Am 5. Mai 1980 wird die siebenjährige Anna Bachmeier in Lübeck erwürgt. Ein knappes Jahr später erschießt ihre Mutter Marianne Bachmeier den mutmaßlichen Mörder im Gerichtssaal. Der Akt der Selbstjustiz schreibt Rechtsgeschichte. Der mutmaßliche Täter, ein vorbestrafter Sexualstraftäter sitzt in Saal 157 des Lübecker Landgerichts, als sich von hinten Marianne Bachmeier nähert. Sie zieht eine Pistole aus ihrer weiten Manteltasche, zielt auf Grabowskis Rücken und drückt ab. Sechs Schüsse treffen. Der 35-jährige Fleischer stirbt noch im Gerichtssaal. „Hoffentlich ist er tot", sagt Marianne Bachmeier kurz nach der Tat. Die 31-Jährige lässt sich widerstandslos festnehmen.

6. Tod in der Eifel

Am 4. November 1982 verschwindet die 18-jährige Lolita Brieger. Zeugen sagen aus, sie sei aus dem Eifeldorf Frauenkron auf dem Weg zu ihrem Freund gewesen und sie war schwanger. Die Polizei sucht mehr als 30 Jahre lang erfolglos nach dem Mädchen. Dann nimmt sich ein neuer Ermittler des Falles an. Schließlich bricht ein Dorfbewohner das jahrzehntelange Schweigen. Denn eines ist klar: In Frauenkron wussten viele, was geschehen war. Eine Frau aus dem Dorf Frauenkron berichtet von einem Gerücht, das sie über mehrere Ecken gehört habe: Ein gewisser Michael S. – der beste Freund von Lolitas damaligem Freund – sei am Abend von Lolitas Verschwinden erst spät nach Hause gekommen. In einer langen, zermürbenden Vernehmung erzählt der Mann dem ermittelnden Kommissar schließlich die ganze Wahrheit. Es kommt zum Prozess, doch ein Mord ist dem Mann nach so langer Zeit nicht mehr nachzuweisen, und Totschlag ist längst verjährt.

7. Mord aus Habgier

Es ist eine der Grundfragen unseres Strafrechts: Kann sich ein Täter tatsächlich frei entscheiden zwischen Gut und Böse? Die Meinungen schwanken hier sehr stark. Viele glauben, dass Erlebnisse in der Kindheit, das soziale Umfeld und viele andere Faktoren einen Menschen zum Mörder „machen“. Es geht um den Hammermörder. Norbert Poehlke war in den 80er Jahren ein unauffälliger Polizeibeamter im Mittleren Dienst. Keine Vorstrafen, keine ungewöhnliche Kindheit. Dann auch noch ein Glücksfall: Poehlke gewinnt im Lotto – mehr als 30 000 Mark. Es ist der Beginn einer bis heute unfassbaren Tragödie. Poehlke will seiner Familie was bieten: Er kauft ein Eigenheim, übernimmt sich dabei finanziell aber. Um den Lebensstandard zu halten, braucht er ständig Geld: Er begeht drei Raubmorde und vier Banküberfälle. Weil der Täter die Scheiben der Kassenschalter mit einem Vorschlaghammer einschlägt, nennt die Presse ihn: der „Hammermörder“. Am Ende hat Poehlke vier Banken überfallen und sechs Menschen getötet. Auch seine Familie löscht er 1985 aus: seine Frau und die beiden Söhne – anschließend richtet er sich selbst.

8. Der Killer von St. Pauli

Werner „Mucki“ Pinzner beteiligte sich 1975 an einem Raubüberfall, bei dem ein Mann erschossen wurde. Pinzner wurde gefasst und kam in Haft. Noch im Gefängnis besorgte er sich eine Waffe. Er beging erste Auftragsmorde als Freigänger im offenen Vollzug – Mitte der Achtziger versuchten Banden aus dem Rotlichtmilieu in Hamburg ihre Reviere neu aufzuteilen. Pinzner liquidierte bis zu seiner erneuten Verhaftung kaltblütig vermutlich elf Menschen. 1986 wählte Pinzner einen aufsehenerregenden Abgang……

9. Eltern unter Verdacht

Im August 1986 verschwinden Melanie und Karola Weimar spurlos. Schnell fällt der Verdacht auf die Eltern. Ist die Mutter eine eiskalte Mörderin, oder hat der Vater die beiden Kinder getötet? Der Fall Weimar ist als eine Familientragödie in die deutsche Kriminalgeschichte eingegangen. Zwei Mädchen aus dem kleinen Ort Philippsthal an der Werra werden erst vermisst, mit einem Großeinsatz der Polizei gesucht und schließlich tot aufgefunden. Die Ermittler stehen zunächst vor einem Rätsel, doch dann geraten die Eltern der Kinder, Monika und Reinhard Weimar, in Verdacht. Ihre Aussagen widersprechen sich, Eheprobleme und eine Affäre kommen zutage, aber kein Geständnis. Am Ende müssen die Richter in einem Indizienprozess entscheiden.

10. Liebe mit Mordabsicht

Am 21. Juni 2012 wurde die 21-jährige Christin R. tot in einem Gebüsch am Freibad Berlin-Lübars tot aufgefunden. Sie wurde feige und hinterhältig ermordet. Das junge, hübsche Mädchenfiel einem äußert kaltblütig geplanten Mordkomplott zum Opfer. Das Mordmotiv war Habgier. Acht Lebensversicherungen mit einem Gesamtwert von 2,5 Millionenwurden auf den Namen des Opfers abgeschlossen. Einziger Begünstigter im Todesfall war ihr Freund Robin. Außer ihm und seiner Mutter, die bereits einen Mordversuch auf Christin durchführte, stehen noch drei weitere Personen vor dem Berliner Landgericht wegen gemeinschaftlichen Mordes. Erst 2016 wurde die juristische Aufarbeitung abgeschlossen.

Mord um eine Hure (1957)

Sie war sehr aktiv im Stadtgeschehen und hat die Männer aus dem Auto heraus angesprochen und abgeschleppt, was für die damalige Zeit etwas Unerhörtes war. Eine sogernannte Edelhure, war die schöne Rosemarie Nitribitt. Ihre Freier waren Bänker, Manager und Wirtschaftsbosse. Sie war für ihre Zeit im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Deutschland ein Statussymbol. 1957 wird die 24jährige in ihrer Wohnung erwürgt aufgefunden.

 

„Es sind mehrere Minuten des Würgens erforderlich, die dem Täter endlos vorkommen müssen und man fast verzweifelt, weil das Opfer nicht stirbt.“

***

Mordsache Nr. 68331/57 war nicht der „ganz normale Prostituiertenmord“, als den ihn die Polizei verzeichnete. Die Fallakte Nitribitt legte Seite für Seite, Aussage für Aussage den ersten handfesten gesellschaftspolitischen Skandal der Nachkriegszeit frei. Es ging um Sex, Macht, Geld. Der Wirbel zog weite Kreise, Nitribitts Kundenkartei sich hoch bis in die höchsten Kreise der neu- und noch immer reichen Frankfurter Wirtschaftsbosse und sonstigen sogenannten besseren Gesellschaft hinein.

Ein mutmaßlicher Täter wird festgenommen und angeklagt. Was war geschehen?

Der 1. November 1957, am späten Nachmittag. Die Stiftstraße ist in den 50igern eine der teuersten Adressen Frankfurts (Main). Polizeibeamte lassen die Wohnungstür von Rosemarie Nitribitt in der Stiftstraße 36 öffnen. Die Putzfrau hatte einige Tage nichts von ihr gehört, hat die Wohnung dann aufgesucht du hat bemerkt, dass Brötchentüten vor der Wohnungstür standen. Sie wurde argwöhnisch. Die Putzfrau Erna Krüger zählt später selbst zum Kreis der Verdächtigen. Noch am Tattag hatte sie einen heftigen Streit mit Rosemarie Nitribitt.

Doch nun macht sie sich Sorgen, ruft die Polizei und bittet die Beamten, in der Wohnung nachzuschauen. Die Tür war nicht abgeschlossen, sondern nur zugezogen wurden. In der Küche finden die Polizisten einen Topf mit den Resten von Reisbrei. Der Pudel „Joey“ ist im Schlafzimmer eingesperrt. Die Tür zum Bad steht offen, an der Wand lehnt ein Rohrstock.

Im Wohnzimmer stoßen die Beamten auf Rosemarie. Sie liegt tot auf dem Boden, ein Bein auf dem Sofa, dass andere darunter. Neben dem Kopf ein blutiges Frottiertuch. Das Blut rührte von einer Platzwunde am Kopf her. Das Telefon ist von der Kommode gefallen, der Hörer blutverschmiert, daneben ein zerbrochener Aschenbecher.

Die Todesursache war erwürgen. Sie hat sich furchtbar gewehrt, es hat ein erbitterter Kampf stattgefunden, den sie letztlich verloren hat. Der Mörder wurde nie gefunden.

Die Stiftstraße in Frankfurt. Hier hat Rosemarie zwei Jahre bis zu ihrem Tod gelebt. Damals ein nobles Haus für wohlhabende Mieter, heute lässt sich das nur noch erahnen.

Es ist es immer wichtig, am Tatort gewesen zu sein, wenn ein Verbrechen analysiert werden soll. Wie hat Rosemarie gelebt und gewohnt, wie kann man sich die Situation vorstellen?

Im Staatsarchiv Wiesbaden lagern rund 70 Ordner zu diesem Fall. Wer war diese Rosemarie Nitribitt eigentlich und wie wurde sie zur Edelhure?

Am 1. Februar 1933, kurz nach Hitlers Machtergreifung, kommt Rosemarie Nitribitt in Düsseldorf zur Welt. Ihre Mutter ist erst 18 Jahre alt und als Putzfrau tätig. Die Behörden des Dritten Reichs stuften Maria als „schwachsinnig“ ein. Ihren Vater, einen Arbeiter aus Düsseldorf, der später Unterhaltszahlungen ablehnte, lernte Rosemarie vermutlich nie kennen. Rosemaries jüngere Halbschwestern Irmgard und Lieselotte hatten jeweils einen anderen Vater; vernachlässigt wurden alle drei gleichermaßen. So war es gut und richtig, dass das Jugendheim die fünfjährige Rosemarie 1937 „wegen Verwahrlosung“ ins Heim steckte. Im Nachhinein war es ein Glück: Im Frühjahr 1939 kam das Kind zu Pflegeeltern nach Niedermending in der Eifel. Bei dem 69-jährigen Pflegevater Nikolaus Elsen und seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Anna Maria erlebte Rosemarie zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben Liebe und Geborgenheit. Während 1942 die leibliche Mutter mal wieder eine Haftstrafe verbüßte, feierte Rosemarie ihre Erstkommunion.

Zeugen dieser kurzen Zeit sagen, Rosemarie sei fröhlich, aufgeweckt und lebhaft gewesen. 1944 vergewaltige ein 18-jähriger Nachbarsjunge die elfjährige Rosemarie. Der Vorfall blieb nicht unbemerkt, aber in dem kleinen Eifeldorf, auch bei den Elsens, schwieg man das Verbrechen tot. Der Junge ging zur Wehrmacht. Rosemarie blieb zwei Wochen der Schule fern und geriet dann auf die schiefe Bahn. Die Vergewaltigung bleibt ungesühnt. Das hat sich ein Trauma bei dem Kind ausgelöst, irgendetwas war zerbrochen. Es lässt sich auch in den Jugendamtsunterlagen, die lückenlos erhalten sind, nachlesen, dass mit dieser Vergewaltigung der große Bruch mit und in ihrem Leben zustande kam. Danach gab es keine Kontakte oder enge Beziehung mehr zu ihrer Umwelt. Nichts prägt uns mehr als unsere Kindheit, die Zeit, in der wir arglos und verletzlich sind. Vier behütete Jahre vermochten nicht den Schmerz einer jungen Seele zu heilen, die immer wieder im Stich gelassen wurde. Je härter es das Leben mit Rosemarie meinte, desto härter wurde sie selbst. Sie wurde zur Einzelkämpferin und ab ihrem 12. Lebensjahr verhaltensauffällig.

Kurz nach Kriegsende befreundete Nitribitt sich mit zwei Prostituierten. Mit knapp 13 Jahren bot sie sich zum ersten Mal französischen Besatzungssoldaten an. Mit 14 Jahren hatte sie eine Abtreibung, die fast tödlich endete. Es war Anfang 1947, die Pflegeeltern waren längst überfordert und ließen Rosemarie einmal mehr in ihrem Leben im Stich. Erstmals lässt sie sich für Sex bezahlen. Der Pfarrer meldet das dem Jugendamt. Von geschlechtlichen Ausschweifungen ist in ihrer Akte die Rede und das sie sich wahllos mit Männern einlasse. Die Heranwachsende wird nun in diverse Erziehungsheime gesteckt, wo sie immer wieder ausreist. Rosemarie zieht es in die nahe Großstadt, über Koblenz nach Frankfurt. Das war die heimliche Hauptstadt der alten Bundesrepublik, eine Stadt voller enormer Wirtschaftskraft, mitten im Wiederaufbau, schon vorhandenes Nachtleben und gleichzeitig liberal geprägt. Hier arbeitet Rosemarie – immer noch minderjährig – bald als Prostituierte.

Eine Odyssee durch Erziehungsheime und Verwahranstalten begann, immer wieder schaffte Rosemarie es, abzuhauen. Mit 18 Jahren wird sie am Hauptbahnhof mehrfach von der Polizei aufgegriffen. Bis zur Volljährigkeit fehlen noch drei Jahre, doch kein Heim will sie aufnehmen. Nachdem die 18-Jährige im Sommer 1951 wegen „Landstreicherei“ drei Wochen Jugendstrafanstalt Frankfurt-Preungesheim verbüßt hatte, wollte kein Heim mehr den hoffnungslos renitenten Fall bei sich aufnehmen. Im April 1952 sperrte man die junge Prostituierte für ein Jahr in die berüchtigte Nazi-Arbeitsanstalt Brauweiler und ließ sie Tüten kleben. Das saß Rosemarie Nitribitt also in der Ära Adenauer am selben Ort, an dem in der Ära Hitler Konrad Adenauer eingesessen hatte.

Man wollte sie aus der Fürsorge entlassen, weil man einfach festgestellt hat, dass die junge Frau so problematisch ist und nichts mehr durch die Fürsorge getan werden konnte. Man hatte die Möglichkeit, sie nun als volljährig zu erklären und das tat man. Man wollte sie schlichtweg aus der Fürsorge loswerden.

Rosemarie versucht, wieder in Frankfurt, ihren Körper zu Geld zu machen. Als Tischdame zieht sie amerikanischen Soldaten das Geld für überteuerte Drinks aus der Tasche und regelmäßig lässt sie sich nun für Sex bezahlen. Sie wäre vielleicht gern noch was anderes geworden, was Bewerbungen als Mannequin dokumentierten und sie hatte auch einen diesbezüglichen Kurs besucht. Ihre derben Manieren, die arge Lese- und Rechtschreibschwäche und den breiten Eifel-Dialekt schliff sie in Kursen für Mannequins und gutes Benehmen zurecht. Zum bemühten Hochdeutsch kamen ein paar Worte Englisch und Französisch, man weiß ja nie, wer und was kommt. Stundenlang blockierte sie das Gemeinschaftsbad ihrer Pension am Stadtrand und ging anschließend in hochgeschlitzten Kleidern, glänzenden Nylons, hochhackigen Schuhen und Pudel Joe auf dem Arm auf Frankfurts Prachtboulevard im Bahnhofsviertel schaulaufen.

Rosemarie Nitribitt war der lebende Beweis dafür, dass das Laster mitten unter ihnen war. Zwischen ihren Heimaufenthalten tauchte sie immer wieder in Frankfurt am Main ab und träumte im Schatten von Bankenbauten und gen Himmel wachsenden Häusern von Geld und Ansehen. Einer Kollegin aus dem Milieu sagte Nitribitt, sie wolle eine reiche, anerkannte Ehefrau werden und einen großen Salon führen. Eine Weile arbeitete sie als Hausmädchen bei einer Bäckersfamilie, in einem Familiencafé und auf einer Hühnerfarm. Das meiste Geld verdiente die unbelehrbare Schulabbrecherin aber auf dem Strich.

„Keineswegs besonders attraktiv“ fand der Journalist Erich Kuby die Nitribitt, die postum in dessen Buch als „Des deutschen Wunders liebstes Kind“ auferstand. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ meinte später gnadenlos, „ihr durchschnittliches Gesicht mit der kurzen, etwas plumpen Nase und der leicht zynisch geschürzten Oberlippe wäre hinter keinem Ladentisch und keiner Ausschanktheke aufgefallen.“

Für Frauen gibt es in der Wirtschaftsmetropole nicht allzu viele Möglichkeiten, am Aufschwung teilzunehmen. Die verheiratete Frau arbeitet nicht, bleibt also nur ein Job als Sekretärin oder Verkäuferin. Rosemarie entschließt sich also, eine der 1200 Prostituierten Frankfurts zu sein.

Auf einer Polizeifoto von 1951 wirkt die damals 18-Jährige wirklich kein bisschen glamourös, eher mausgrau, aschfahl und sturzunglücklich. Aber Rosemarie Nitribitt mauserte sich. Wenn schon Hure, dann wollte sie keine billige sein. Sobald Nitribitt als volljährig galt und offiziell keinen Vormund mehr brauchte, erfand sie sich nagelneu. Den Aufstieg der Nitribitt kann man sehr gut anhand der Statussymbole verfolgen, mit denen sie sich stückweise aufwertete, offen kokettierte und klarstellte: Ich bin nicht für jedermann zu haben.

Schon der Teenager Rosemarie versuchte, seine ärmliche, erbärmliche Herkunft zu überspielen. In einer der wenigen stabilen Phasen ihrer Jugend entstand ein Foto, auf der sie in einem figurbetonten Kostüm, mit Schirm und breitkrempigem Hut als Requisiten die Grande Dame mimt. Anfangs steckte Nitribitt jeden Cent in ihre Inszenierung als mondäne Mätresse. Wenig Geld gab sie für Essen aus.

Auch wenn Ehebruch noch offiziell unter Strafe steht, ist das kein Hinderungsgrund für Männer, die es sich leisten können, sich im Nachtleben der Stadt zu amüsieren. Rosemarie fand sehr schnell Kontakt zu höheren Kreisen, weil sie eine gute Gesprächspartnerin war. Sie konnte zuhören und sich durchaus kultiviert unterhalten.

Ein wichtiges Statussymbol war in dieser Zeit das Auto. In Frankfurt findet jährlich die internationale Automobilausstellung statt. Die Menschen bestaunen Wagen, die die meisten sich gar nicht leisten können. Rosemarie aber schon.

Ihr größter Coup aber war also ein Auto. Bevor es ihr Markenzeichen wurde, bedeutete das Auto für Nitribitt die ultimative Freiheit. Darin entkam sie dem Rotlichtmilieu, machte sich unabhängig von einem Zuhälter. Nitribitt stand nicht am Bordstein und wartete auf vorbeifahrende Freier. Das „Rehlein“, so einer ihrer Kosenamen, ging selbst auf die Jagd.

Anfangs fuhr Nitribitt einen Ford, das Fahrzeug der unteren Mittelklasse. Nachdem sie ihren Taunus 12 M zu Schrott gefahren hatte, schenkte ein türkischer Unternehmer ihr 1954 das Geld für einen Opel Kapitän. Man gab ihr den Namen „Käpt’n Lady“. Eine Lady! Damals ein außergewöhnlicher Besitz für eine Frau Anfang der 21. Mit dem noblen 6-Zylinder tourt die Prostituierte durch Frankfurt und Umgebung auf der Suche nach Kundschaft.

In den fünfziger Jahren, als Westdeutschlands Wirtschaft wieder Fahrt aufnahm, symbolisierte vor allem das Auto den Wiederaufstieg des Landes. Der Mercedes-Stern war die Krönung dieses Symbols. Schnittige Karosserien der Oberklasse . Bereits Mitte 1956 erwarb Rosemarie Nitribitt den berühmten schwarzen Mercedes-Benz 190 SL mit roten Ledersitzen, für schlappe 18 000 DM, was sie sich in der Frankfurter Mercedes-Zentrale mit vielen Sonderwünschen bestellt und bar bezahlt hat und mit dem sie in Frankfurt sehr viel Aufsehen erregte und der ihr Markenzeichen wurde. Der Wagen ist geradezu eine Provokation. Einen „Nitribitt“ nannte der Volksmund das 190er Cabrio. Ein deutscher Arbeitnehmer verdient zu dieser Zeit im Schnitt 6 000 DM brutto im Jahr. Bis heute ist der Name von Rosemarie Nitribitt mit dem Modell von Mercedes verknüpft. Am 18. Mai 1956 registrierte die Kfz-Zulassung Frankfurt ein schwarzes Mercedes Cabrio 190 SL unter dem Kennzeichen H 70 6425. Chefärzte fuhren damals VW Käfer.

Nun ging es mit diesem Glanzstück von Auto auf Kundenfang. Trotz seiner sportlichen Erscheinung brachte es der kleine Roadster gerade mal auf 170 km/h, aber Nitribitt schaltete meistens ohnehin nur in den ersten oder zweiten Gang. Zur Kundenakquise fuhr sie langsam um den noblen „Frankfurter Hof“ herum oder an anderen Luxusschlitten vorbei. Deutsche Industrielle und ausländische Geschäftsleute passte sie am Flughafen Frankfurt ab. Bei schönem Wetter mit offenem Verdeck, oft mit einer dunklen Brille, manchmal mit Lichthupe. Sie pflegt ihre Prostitution ganz öffentlich und wird zu einer Sehenswürdigkeit der Großstadt. Sie blieb dann auch manchmal vor den „Frankfurter Hof“ stehen, täuschte irgendeine Panne vor, klappt die Motorhaube hoch und schaute unschuldig drein. Nun hielten gut betuchte Herren an und man kam ins Gespräch. So und ähnlich schaffte sie es in wenigen Jahren zur Edelprostituierten. Ein Frau, über die Frankfurt spricht und die ganz offensichtlich Männer zu faszinieren weiß. Diese zahlten bei ihr, je nach Einkommen, zwischen 50 und 250 DM für ein intimes Treffen. Sie hat am Tag zwischen sechs und neun Freier gehabt und hat das Geld sehr hart und gnadenlos zu sich selbst verdient.

 

In die Geschichte ging die Edelprostituierte aber weniger wegen ihres rasanten Untersatzes ein, sondern wegen der feinen Herren, die sie damit abschleppte. Unvergessen machen sie ihr mysteriöser gewaltsamer Tod im Jahr 1957 und der große Lärm, der ihm folgte. Es war, als hätte ihre Ermordung der Ära Adenauer jäh die Maske von ihrem zweiten Gesicht gerissen.

Im September 1955 zog Nitribitt, die längst mehr als 4000 DM im Monat einnahm, in die Stiftstrasse 36. Apartment Nr. 41, 4. Stock. Zwei Zimmer, Küche, Bad, 75 Quadratmeter, Parkettboden und Fußbodenheizung. Wer an der Türsprechanlage ihren Codenamen „Rebecca“ nannte, dem drückte sie die Tür auf. Im Telefonbuch bezeichnet sie sich als Mannequin, ihren Kindheitstraum. So stand die 1 Meter 60 kleine Prostituierte als nun zwischen einer Textilien- und Lederbekleidung und zwei Ärzten. Nitribitts Täuschung war zuletzt so vollendet, dass sie sich der Maklerfirma „Dröll und Scheuermann“, die über jeden neuen Mieter umfassende Erkundigungen einholte, als selbständiges Mannequin mit einem Monatseinkommen von 800 DM „einwandfrei“ verkaufte.

Dann taucht ein neuer Name in Rosemaries Leben auf. Heinz Christian Pohlmann, ein Handelsvertreter, geboren am 21. Mai 1921 in Wuppertal. Er wird später für die Polizei der Hauptverdächtigte sein. Der Mann ist mehrfach vorbestraft und immer in Geldnot.

Heinz Pohlmann lud sie eines Tages zum Tee in seine Junggesellenwohnung ein und blieb ein „platonischer Freund“. Das homosexuelle „Pohlmännchen“, stellte Nitribitt einmal resigniert fest, konnte ihre „Liebe nicht erwidern“. Wie es genau zu der Bekanntschaft kommt, bleibt unklar. Pohlmann bekam von Rosemarie kleinere Aufträge, kümmerte sich um das Auto, wartete in der Küche, wenn ihr die Kundschaft nicht ganz geheuer vorkam, hat den Pudel ausgeführt und hatte die Fähigkeit, gut Reisbrei zu kochen. Das war eines der Gerichte, die Rosemarie regelmäßig aß und er kochte auch den letzten Reisbrei, der dann bei der Obduktion in der Rechtsmedizin im Magen der Toten noch vorgefunden wurde.

Pohlmann liebt, wie seine Freundin Rosemarie, teure Autos. Allerdings fehlt ihm das nötige Geld dazu. Zwar ist er als Handelsvertreter durchaus erfolgreich, doch an das Einkommen der Prostituierten kommt er nicht ansatzweise heran. Ihr Kundenkreis wird immer exklusiver und prominenter. Sie hatte zwar ein elegantes, aber elitäres Auftreten und wenn sich die Fotos vom Tatort und der gesamten Wohnung anschaut, war immer noch ein Rest von Bürgerlichkeit im Spiel. Womöglich war es für die Herren, die zu ihr kamen, eine Mischung aus deutscher Gemütlichkeit und prickelnder Erotik.

Das geht auf. Rosemarie Nitribitt verdient bis zu 8 000 DM im Monat. Da sie keine Steuern zahlt und auch keinen Zuhälter aushalten muss, gehört sie zu den Top-Verdienern der jungen Bundesrepublik. Offenbar weiß keiner so gut wie sie, die Marke Sex zu vermarkten. Ihr Auftreten ist keineswegs verschämt, sondern offensiv und selbstbewusst. Sie lässt sich vor oder während des Sexes von ihren Kunden fotografieren. Häufiger lädt die noch Kolleginnen ein, um auch Gruppensex zu bieten und dabei wird gegenseitig fotografiert. Diese Fotografien werden quasi als Trophäen beim nächsten Treff wieder präsentiert.

Die Polizei findet Unmengen von solchen Fotos im Nachlass der Prostituierten. Sie werden über Jahrzehnte weggeschlossen, um betroffene Männer zu schützen. Einige bisher unveröffentlichte Bilder zeigen Rosemarie Nitribitt, wie man sie bisher noch nicht sah, im vertrauten Umgang mit älteren Herren. Händchenhaltend bei einer Abendveranstaltung oder ganz intim zu zweit in ihrer Wohnung.

Auch einer der prominentesten Männer seiner Zeit findet sich in der Fotosammlung. Harald von Bohlen und Halbach, einer der sechs Söhne von Gustav von Bohlen und Halbach. Aufgewachsen in der legendären Villa Hügel in Essen. Er gehört einer der reichsten industriellen Familien in Europa an. Der Krupp-Konzern ist über Jahrzehnte die bedeutendste Stahl- und Eisenschmiede. Wäre seine Beziehung zu Rosemarie damals bekannt geworden, wäre es für die Familie und die Firma ein unglaublicher Skandal gewesen, zumal er nicht einfach nur ein Freier ist.

Nitribitt sprach den 41-Jährigen im März 1957 in der Nähe des „Frankfurter Hofes“ aus ihrem Cabrio heraus an. Nach einer kurzen Spritztour durch die Stadt hatten sie laut seiner späteren Aussage „G. V.“, also Sex. 200 DM gab er ihr danach.

Die Nitribitt sei ihm einfach „sympathisch“ gewesen, sagte von Bohlen und Halbach später. Die Anlagen des Vernehmungsprotokolls der „Spur 32“ beweisen: Harald war verliebt. Bei den „Korrespondenzunterlagen“ handelt es sich um 19 stark romantisierte Liebesbriefe und Gedichte. Er schickte Blumen und Küsse und eine Christophorus-Plakette für ihr Mercedes-Cabrio, die sie erinnern sollte, vorsichtig zu fahren. Er schrieb seiner Postkarten mit Bergmotiven aus St. Moritz, aus Tirol, aus dem „Ritz Carlton“ in Montreal, rief sie vom Apparat seiner Mutter Bertha aus an, oder besuchte sie in ihrer Wohnung. Auf einem Foto sitzt er auf ihrem Chippendalesessel. „Seiner Seele Seligkeit“ wollte von Bohlen und Halbach für eine Nacht auf ihren „mondscheinblassen“ Brüsten dahingeben. Er schenkte Rosemarie Schmuck, Perlenohrringe, eine Pferdegruppe aus Porzellan, bald besaß sie einen Schmuckkoffer aus Leder, Schweizer Uhren, Wein aus der Kruppschen Hauskellerei.

Aber was sie wirklich wollte, bekam sie nicht. Das Leben verläuft nicht nach „Pretty Woman“-Drehbuch. Nitribitts Spitzname „Gräfin Mariza“ ließ sie in der Hierarchie unter ihresgleichen aufsteigen - aber die deutschen Familiendynastien waren moralische Instanzen. Und Nitribitt war keine, die man heiratet. Er hat sie unterstützt, gefiel sich in der Rolle des Gönners, pflegten sehr enge Beziehungen. Aber es war eine Liebesbeziehung ohne Zukunft, den er schrieb auch: „Zum Heiraten müssen wir wohl auf dem Mond fliegen“. Von dem alleinstehenden Krupp-Spross hatte Nitribitt silbern gerahmtes Foto auf ihrem Musikschrank stehen. Sie bezeichnete ihn als ihren festen Freund. Von Bohlen und Halbach machte sich kaum Illusionen. Sein „Fohlen“, dem er „1000 Zuckerstücke ins Maul stecken“ wollte, musste er auf „Rehchen“ umtaufen, weil schon ein anderer sie „Fohlen“ rief.

Einmal überredete Nitribitt ihn, mit ihr das Haus zu verlassen, sie gingen zu „Betten Raab“, wo er ein Muster für Steppdecken und Kopfkissen ihres Doppelbetts aussuchen sollte. Klingt, als habe Nitribitt ein wenig Nestbau betrieben. Noch vor der Angst vor Aids und der Selbstverständlichkeit der Pille sorgte von Bohlen und Halbach immer für Präservative, damit Nitribitt ihm kein Kind anhängen konnte.

Vor dem jungen Krupp empfängt Rosemarie Nitribitt 1957 einen weiteren Harald in ihrer Wohnung. Und der nannte sie „Fohlen“. Ebenfalls ein prominenter Industrieller. Dieser ist im Gegensatz zum Krupp-Sohn sogar verheiratet. Harald Quandt, ein Mann mit bewegter Geschichte. Seine Mutter Magda lässt sich früh scheiden und heiratet 1931 Joseph Goebbels. 1945 tötet sie sich im Führerbunker nicht nur selbst, sondern auch Haralds sechs Halbgeschwister.

Eines Samstagabends tauchte Rosemarie Nitribitt im November 1956 im drei Stunden entfernten Bad Homburg auf dem feudalen Anwesen der milliardenschwere Industriellenfamilie Quandt auf. Sie trug ein hautenges Cocktailkleid, stellte sich dem 35 Jahre alte Harald Quandt auf der Geburtstagsparty von dessen 28-jähriger Frau als Rebecca Wolf vor, nippte am Sekt und ging wieder, denn sie lernte auf dieser Party auch Gunter Sachs kennen, was auch einen Einblick in die Partykultur dieser Zeit gibt. Rosemarie verschwand mit Gunter Sachs und kehrt am frühen Morgen zur Party zurück. Sie erzählte, wie sie die Zwischenzeit verbracht hat und das wurde beifällig zur Kenntnis genommen. Sie verkaufte sich geschickt - dem millionenschweren 24-jährigen Mathematikstudenten Gunter Sachs verrechnete sie die ersten beiden Treffen inklusive Dreier und Mundverkehr nicht, was ihm schmeichelte (ihre Freundin Irene verlangte 50 DM).