Was wir wissen könne und was wir glauben müssen

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Volker Ladenthin

Was wir wissen können

und was wir glauben müssen

Eine kleine Erkenntnistheorie für den Alltag

Volker Ladenthin

Was wir wissen können und was wir glauben müssen

Eine kleine Erkenntnistheorie für den Alltag

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2018

© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de (Umschlagbild: René Magritte, Les idées claires

© VG Bild-Kunst, Bonn 2018; Foto: akg-images)

Satz: Crossmediabureau – http://xmediabureau.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim – www.brocom.de

ISBN

978-3-429-04493-0

978-3-429-05003-0 (PDF)

978-3-429-06413-6 (ePub)

Inhalt

Meine Frage

1. Nichts als die Wahrheit? Oder: Warum wir immer schon in postfaktischen Zeiten gelebt haben

2. Gibt es Wahrheit?

3. Wie man sich täuschen kann

4. Wie man sich auf Wahrheitssuche begibt

5. Wann kommt die Wahrheit zur Sprache?

6. Was wir nicht wissen können und daher glauben müssen

7. Was heißt handeln?

Nachwort

Literaturverzeichnis

Meine Frage

Meine Frage ist schlicht: Worauf kann man sich felsenfest verlassen? Wie können wir Politik begründen, die massiv in das Leben von Millionen Menschen eingreift? Warum können wir Menschen verurteilen und ins Gefängnis sperren? Warum sind wir sicher, dass wir Kriege führen oder Frieden schließen dürfen und damit unsere Perspektive auf die Welt als die richtige ansehen und die andere als die falsche? Die eine Perspektive als Wahrheit und die andere Perspektive als Irrtum? Wir müssen uns da ja sehr sicher sein. Es geht immerhin um Leben und Tod. Was ist Wahrheit? Denn, davon meine ich ausgehen zu müssen: Man macht keine Politik, man tötet andere Menschen nicht, wenn man sich seiner Sache nicht ganz sicher ist. Felsenfest überzeugt. Was ist aber die Sache, derer man sich sicher ist? Und wie wird man sich seiner Sache sicher? Wie erkennt man sie?

1. Nichts als die Wahrheit? Oder: Warum wir immer schon in postfaktischen Zeiten gelebt haben

Lohnt sich das? Vielleicht ist es taktisch falsch und rhetorisch unklug, ein Ewigkeitsthema wie die menschliche Erkenntnis mit einer aktuellen Diskussion zu beginnen – aber manchmal bringen aktuelle Diskussionen ein ewig diskutiertes Thema so auf das Grundproblem, dass es der Wahrheitsfindung dient. Ich meine das Schlagwort vom »postfaktischen Zeitalter«.

Leben wir im postfaktischen Zeitalter?

Das Wort vom postfaktischen Zeitalter wird zuweilen als Rechtfertigung benutzt, zuweilen gilt es aber auch als Schimpfwort, verbunden mit der Forderung, endlich vom Postfaktischen ab- und zurückzukehren zu … ja, wozu eigentlich? Zum faktischen Zeitalter?

Schlägt man nun in den Geschichtsbüchern nach, dann sieht man: Das gab es nie, das hat es nie gegeben, und daher ist zu vermuten, dass es das auch nie geben wird, das faktische Zeitalter.

Wir lebten zuvor also gar nicht im faktischen Zeitalter? Ich würde es anders formulieren: Wir leben immer im postfaktischen Zeitalter.

Glas und Maß

Ich möchte den Leser nicht schon gleich zu Beginn mit einem abgedroschenen Beispiel quälen, aber ich werde es zum Einstieg doch machen müssen, weil vielleicht dieses Beispiel in seiner Banalität das gesamte Problem deutlich macht. Sie kennen das Beispiel vom Glas, das manche als halbleer und manche als halbvoll bezeichnen – obwohl es das gleiche Glas ist mit der gleichen Menge an Flüssigkeit, das vor uns steht.

Es gibt keine guten Fakten. Schlechte auch nicht

An diesem läppischen Beispiel können wir erkennen, dass es weder schlechte noch gute Fakten gibt. Nicht das Faktum ist gut oder schlecht. Ob ein Faktum gut oder schlecht »ist« (das Wort »ist« ist hier falsch, wie wir gleich sehen werden), hängt vom Rahmen ab, in den man es stellt. Das gilt auch für die Nachrichten über Fakten, die wir täglich im Radio hören oder auf dem Bildschirm sehen. Sie sind weder gut noch schlecht, sondern erst unser Bezugsrahmen macht sie zu guten oder schlechten Nachrichten. Von diesem Rahmen hängt es ab, ob wir uns von zunehmend schlechten Nachrichten bedroht oder von zunehmend guten Nachrichten ermutigt fühlen.

Verkehrsmeldungen

Ich möchte diese Behauptung an Fakten erläutern, die etwas mehr schmerzen oder freuen als das halbvolle oder halbleere Glas, obwohl sie nur eine Variation des gleichen Prinzips sind: Die Zahl der Verkehrstoten. Ich bediene mich dabei der Angaben, die das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zur Verfügung gestellt hat (https://www.runtervomgas.de/news/artikel/73-prozent-weniger-verkehrstote.html).

Im Jahr 2016 starben 3206 Personen bei Unfällen im Straßenverkehr. Ist das nun ein gutes oder ein schlechtes Faktum? Die Frage allein mag schon unmoralisch klingen, ja fast unmenschlich, und wenn ich nun behauptete, es wäre ein gutes Faktum, riskiere ich, dass Sie verärgert und empört das Buch zuschlagen (und damit postfaktisch reagierten). Aber so positiv sieht es das Bundesministerium, wenn es schreibt: »Das entspricht 253 Getötete bzw. 7,3 Prozent weniger als im Jahr 2015 (3459 Getötete) (Quelle: Destatis). Das ist der bisher niedrigste Wert.« Soll man es nicht als gutes Faktum ansehen, wenn weniger Menschen im Straßenverkehr sterben?

Jetzt bewerten wir die gleiche Zahl, die uns erst mal erschreckt und fassungslos macht (ein ganzes Dorf stirbt jedes Jahr auf der Straße!) plötzlich als gutes Faktum: Endlich ist eine Trendwende eingetreten! Endlich gibt es nicht mehr, sondern weniger Tote im Straßenverkehr. Wir sind auf dem richtigen Weg! Aber bleibt die Zahl nicht dennoch an sich erschreckend? Ist nicht jeder Verunglückte ein Toter zu viel – so dass eben die Anzahl der Toten im Straßenverkehr immer ein schlechtes Faktum ist? Die Zahl spricht doch für sich! Nein, antworte ich, lesen Sie selbst: »2016 starben so wenige Menschen wie noch nie seit Beginn der Erhebung 1953. Im Vergleich zu 1970, mit 21332 Todesopfern das Jahr mit der schwärzesten Bilanz, gab es einen Rückgang von 85 Prozent.« Damals verunglückte eine veritable Kleinstadt pro Jahr im Straßenverkehr. Gutes Faktum? Schlechtes Faktum? Die Zahl des Jahres 2015 ist immerhin die beste Zahl, die wir im Hinblick auf Verkehrsopfer in Deutschland je hatten.

Nicht das Faktum, die Zahl, ist gut oder schlecht. Sondern der Bezugsrahmen oder die Erwartungen bedingen, wie wir die Zahl bewerten. Welchen Bezugsrahmen aber sollen wir nehmen?

Alle reden vom Wetter

Ich glaube, ich muss zur Beantwortung dieser Frage doch noch einmal in die Mottenkiste der Alltagssprüche greifen und eine kleine Geschichte erzählen. Sie spielt im Gebirge, in einer kleinen Pension, in der man leidergottseidank (auch so ein Wort!) die Gespräche am Nachbartisch ohne jegliche Anstrengung mitbekam. Es hatte tagelang geregnet, Schnürlregen, von morgens bis abends und nachts sowieso. Am Nachbartisch beklagten die Eltern zweier Kinder auch an diesem Morgen das Wetter, worauf der sechsjährige Junge, der schon seit Tagen überraschende Ansichten und unkonventionelle Vorschläge vorgetragen hatte, lauthals verkündete: »Ich freue mich, wenn es regnet!« Der Vater blickte sich um und sah, dass die Meinungsbekundung an den Nachbartischen durchaus vernommen worden war und im ganzen Frühstücksraum zu Entsetzen geführt hatte. Die Gäste erstarrten, stoppten das Brötchen kurz vorm Mund, die Kaffeetasse auf halber Höhe, und es wurde atemlos still im Raum. »Was soll das denn jetzt?!«, fragte der Vater. Darauf der Sohn: »Wenn ich mich ärgern würde, würde es ja auch regnen!«

Postfaktisch. Prima. Der Kinderphilosoph hatte es allen gezeigt. Er hatte nicht nur die philosophische Version der alten Hoteliers- und Kuramtsweisheit vorgetragen, nach der es »kein schlechtes Wetter, sondern nur falsche Kleidung« gebe (auch dies eine postfaktische Botschaft!). Der kleine Junge hatte erbarmungslos und heiter die Grundlagen der Erkenntnis bloßgelegt.

Regen an sich ist keine schlechte Sache. Die Bauern im Tal hat der Regen vielleicht mehr gefreut als eine lange Trockenperiode, auch die Bergbauern, die ein Interesse daran haben mussten, dass das Gras für eine ertragreiche Heuernte ordentlich wuchs. Die Staudamm- und Wasserkraftwerksbetreiber wird’s ebenso gefreut haben und die Museumsdirektoren und Gastwirte allemal. Denn wenn es in Urlaubsorten regnet, gehen die Menschen in Museen und gönnen sich einen Kaiserschmarren im »Hirschen«, statt das Gras auf den Wiesen und Weiden plattzutreten. »Wat den einen sin uhl, is den annern sin nachtigal«, sagen die Westfalen: postfaktische Lebensweisheit. Und dass Regen etwas Schönes sein kann, besangen die Beatles (»Rain«) oder Hal David (1921–2012) und Burt Bacharach (*1928, »Raindrops keep falling on my head«). Wer einmal die wunderbare Choreographie von Gene Kelly (1912–1996) im Musical-Film »Singin’ in the Rain« bewundert hat, weiß, dass selbst der Besserwisser-Spruch von der richtigen Kleidung keine Aussage über Fakten ist. Ob der Regenschirm das passende oder das falsche Accessoire ist, entscheidet nicht der Schirm, sondern das, was man mit ihm machen will. Gene Kelly war der Schirm gerade recht, aber nicht deshalb, weil man sich mit ihm vor dem Regen schützen kann, sondern weil er ihn so halten konnte, dass er richtig nass wurde. Und dabei singt er noch in allerbester Laune. Wie hatte es der kleine Junge gesagt: »Ich freue mich, dass es regnet« – und wenn man die Filmsequenz sieht, ist ihm nur zuzustimmen.

 

Wenn wir all diese unsäglichen, grausigen und medialen Beispiele deuten, dann werden wir die These als begründet ansehen müssen, dass es keine guten und keine schlechten Fakten gibt. Vielmehr hängt es vom Bezugsrahmen ab, ob wir ein Faktum als gut oder schlecht bewerten. Ob ein Faktum für uns gut oder schlecht ist.

Erstens

Zuerst einmal hängt es vom sachlichen Bezugsrahmen ab: Wenn wir im Winter Wetterberichte über Blitzeis und dichten Nebel hören, dann ist es ein gutes Faktum, wenn nur Unfälle mit leichtem Blechschaden zu melden sind. Man hätte Schlimmeres erwarten können.

Es gibt unterschiedliche sachliche Bezugsrahmen: Das, was wir erwarten; das, was gewöhnlich zu erwarten ist; das, womit Fachleute rechnen usw. Die gleichen Fakten können nun die unterschiedlichen Erwartungen erfüllen, übertreffen oder unterbieten. Je nach Erwartung wird man das als gutes oder schlechtes Faktum ansehen. Aber nicht die Fakten sind gut oder schlecht, sondern sie bekommen von uns ihre Güte erst anlässlich der Erwartungen zugeschrieben: durch den Bezugsrahmen.

Zweitens

Der Bezugsrahmen aber lässt sich nicht nur sachlich, sondern auch sittlich bewerten. Kann man akzeptieren, dass Menschen für größere Mobilität sterben? Ist es zu akzeptieren, dass unserer Mobilität im Jahr 3206 Menschen zum Opfer gebracht werden? Leben wir in einer humanen Gesellschaft, wenn wir akzeptieren, dass unser Straßenverkehr 3206 Tote fordert? Ist es wichtiger, dass wir schnell unsere Ziele erreichen und dabei das Leben von Menschen und die Lebensgrundlage ganzer Familien riskieren?

Vielleicht wird man, wenn man im Auto zum nächsten Termin mit weit über 130 km/h hetzt, sagen: Das muss jetzt sein. Aber wenn man die Opferfamilien fragt? Ist das einzelne Leben nicht wichtiger? Wird man nicht einen Gesichtspunkt finden müssen, der beiden gerecht wird, dem Rasenden und den Opfern? Wäre das nicht sittlich? Wenn man abwägt, ob jemand zehn Minuten schneller am Ziel ist oder ein Menschenleben bewahrt wird, dann ist die Zahl von 3206 Verkehrstoten nicht zu akzeptieren. Aber nicht die Zahl ist moralisch oder unmoralisch, sondern unsere Entscheidung.

Wir sehen: Das angeblich schlechte Faktum wird vor dem Hintergrund der Statistik kurzfristig zu einem guten Faktum, das aber vor dem Hintergrund der Sittlichkeit zu einem schlechten Faktum wird.

Aber dieses Urteil folgt nicht aus dem Faktum. Vielmehr bewertet es das Faktum und den Bezugsrahmen nicht mehr nur aus der Perspektive der Verkehrswissenschaft, sondern aus sittlicher Perspektive. Müssen wir menschliches Leben nicht höher bewerten als die Verkürzung der Reisezeiten?

Sie sehen, dass wir in postfaktischen Zeiten leben – nicht die Fakten entscheiden, ob sie gut oder schlecht sind. Sondern wir entscheiden es. Unser Bezugsrahmen entscheidet (ich wage es kaum zu sagen), ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Aber auch das ist noch nicht der Wahrheit letzter Schluss. Denn der Vorwurf, wir lebten in postfaktischen Zeiten, meint ja, dass die Beschuldigten sich beim Handeln nicht an die Fakten hielten.

Ach, die Fakten!

Das müssen sie auch nicht! Ja, das können sie gar nicht. Wir handeln nie auf Grund von Fakten. Wir handeln immer nur anlässlich von Fakten. Und der Unterschied zwischen »auf Grund« und »anlässlich« ist fundamental … und macht den ganzen Menschen aus.

Wenn wir auf Grund von Fakten handeln würden, dann ließen uns bestimmte Fakten keine Wahl. Bei einigen Lebewesen ist das auch so: Wenn eine Katze eine Maus sieht, hat sie keine Wahl. Sie muss sie jagen (es sei denn, sie wurde mit Katzenfutter zuvor ruhiggestellt). Wenn ein Hund Hundefutter sieht, dann schießt Speichel ins Maul und die Lefzen werden feucht. Hunde können nicht anders. Die Biologie spricht von Fakten als Schlüsselreizen. Eine Honigbiene schwirrt zum Kaiserschmarren, nicht zur Zigarette, die dicht daneben vor sich hin qualmt. Sie kann nicht anders. Hier sind Fakten der Grund für das anschließende Verhalten, für die Reaktion.

Bei uns Menschen ist das anders: Bei der Alternative zwischen qualmender Zigarette und Kaiserschmarren hätte meine Mutter zur Zigarette und ich hätte zum Kaiserschmarren gegriffen. Die Fakten waren für uns beide gleich – und inzwischen wissen Sie und ich, wie man so etwas erklären kann. Der Bezugsrahmen war anders: Meine Mutter war Genussraucherin, ich mag Süßes.

Anlass und Grund

Aber wir beide mussten nicht so reagieren, wie wir reagiert haben: Als meine Mutter herzkrank wurde, stellte sie das Rauchen ein und hätte, vor die Wahl gestellt, zum Kaiserschmarren gegriffen. Und in der Pubertät hätte ich, vor die Wahl gestellt, zur Zigarette gegriffen, weil das lässig aussah und dazu führte, dass sich die gleichaltrigen Mädchen am Nachbartisch umdrehten und dachten: Hey, der darf schon rauchen. Den wollen wir mal treffen.

Daran ist nun Grundsätzliches zu erkennen: Aus Fakten kann man keinerlei Handlungsregel oder auch nur eine Handlung ableiten.

Drittens

Aber nun folgt die Frage: Was machen wir? Und da helfen uns die Fakten wenig. Ach, ich will hier weniger diplomatisch formulieren als einfach ehrlich: Fakten bleiben Anlass. Mehr nicht. Oder sollen wir sie als Ursache der Entscheidung nehmen, dass wir alle Fahrzeuge verbieten, die schneller als 20 km/h fahren! Die Zahl der Toten würde rapide gesenkt. Vielleicht unter zehn. Geht das?

Es ginge technisch. Sicher. Aber wir wollen es mehrheitlich nicht. Wir wollen unsere Lebensqualität nicht wegen der 3206 Toten senken (so handeln wir doch, auch wenn wir es nicht denken …). Wir sind oft nicht so sehr moralisch, wenn es um andere geht, die sterben. Also suchen wir nach anderen Möglichkeiten, die Zahl der Verkehrsopfer zu senken: Wir machen die Autos sicherer (Airbag). Wir beschränken die Geschwindigkeit (nur nicht auf Autobahnen …, da gilt freie Fahrt). Wir bauen die Straßen sicherer (bessere Beläge, keine engen Kurven, mehr Verkehrsschilder). Wir machen die Menschen klüger (sollen wir alle fünf Jahre überprüfen, ob wir noch fahrtüchtig sind?). Kurz: Ein und dasselbe Faktum kann eine Vielzahl von Überlegungen und Maßnahmen zur Folge haben, aber keine einzige leitet sich allein und ausschließlich aus dem Faktum ab.

Dabei scheinen die Zahlen keineswegs unwichtig: Ohne eine solche Zahl hätten wir gar nicht zu denken begonnen. Ohne Verkehrsstatistik würde man sich nicht um sichere Autos, sichere Straßen und geschulte Autofahrer bemühen. Also sind die Zahlen doch die Ursache?

Viertens

Auch hier lautet die Antwort »Nein!«. Denn die Zahlen haben sich ja nicht selbst erhoben. Sondern wir sind es, die sie erhoben haben. Die Statistik gibt es, wie das Ministerium weiß, erst seit 1953. Verkehrstote gab’s schon vorher. Nicht die Zahlen haben unser Bemühen um Verkehrssicherheit ausgelöst (denn die Zahlen hätte es seit der Erfindung des Autos geben können), sondern wir wollten die Zahlen haben. Unser Bedürfnis nach Sicherheit und sittlichem Anstand war es, das gesagt hat: »Wollen wir nicht mal festhalten, wie viele Tote es im Straßenverkehr gibt?« Unser Wille war es, der die Zahlen gesucht hat. Die Zahlen sind keineswegs Anlass für verkehrspolitische Maßnahmen. Vielmehr ist es unser Wille, Zahlen zu erheben, der uns antreibt. Unser freier Wille ist und war der Grund, die Daten zu erheben.

Es gibt keine Fakten, sondern wir machen etwas zum Faktum. Deswegen heißen Fakten auch so. Das Wort wurde im 17. Jahrhundert von Lateinisch »factum« abgeleitet, das wiederum das Partizip Perfekt Passiv des Verbes »facere« ist. Und »facere« heißt »machen, herstellen« (wie in »factory«)! Wir machen etwas zum Faktum. Unser Handeln ist letztlich vom Willen abhängig. Wir entscheiden, was wir wissen wollen. Und dann, lange oder kurz danach, können wir z. B. Zahlen erheben, die uns bei der Entscheidung helfen.

Rückspiegel

Gleichwohl gab und gibt es in der Geschichte immer wieder Versuche, unsere Handlungsoptionen aus Fakten abzuleiten, ja durch die Fakten bestimmen zu lassen. Die Gedankenfolge lautet so: Die Dinge sind da. Wir können die Dinge erkennen. Die Erkenntnis der Dinge sagt uns, wie wir mit ihnen umgehen sollen. Also sagen uns letztlich die Fakten über die Dinge, wie wir handeln sollen. Wir sehen, dass Bienen Honig produzieren, also ist es gut, diesen Honig zu ernten und zu essen. Gewissermaßen sind die Bienen da, um uns Honig zu liefern. Die Kühe sind da, um uns Joghurt zu liefern, und die Schweine liefern Eiweiß. Tiere essen ist also gut! Wir müssen den Sinn der Dinge erkennen und dann gemäß diesem Sinn handeln.

In der Moderne hat die Verhaltensforschung eine solche Argumentation versucht – die Humanethologie, und da leitet dann ein Biologe aus der Anatomie unserer Organe, dem Aufbau des Körpers oder der Stammesgeschichte des Hirns ab, wie wir leben sollen. So ließ es Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776–1822) seinen sprechenden Hund Berganza sagen: »Zuletzt bin ich ein Mensch und beherrsche die Natur, die Bäume deshalb wachsen läßt, daß man Tische und Stühle draus machen kann, und Blumen blühn, daß man sie als Strauß in das Knopfloch stecken kann« (77).

Ein solches Denken setzt viel voraus:

1. Die Natur hat einen Sinn.

2. Dieser Sinn ist erkennbar.

3. Dieser Sinn ist (für den Menschen) gut.

4. Alle Alternativen sind Unsinn.

Das gab es schon vor langer Zeit, dass man so dachte:

»Denn die Gottheit hat von alters

Uns, den Persern, schon bestimmt,

Daß wir uns erfreuen sollen

An dem Kampf um hohe Türme,

An der Rosse Schlachtgetümmel,

An Zerstörung fester Städte.«

So weit der Chor in der Tragödie »Die Perser« (Vers 99ff.) von Aischylos (525–456). Der Chor glaubt also, dass Menschen nur auf Grund von Fakten handeln. Das soll sagen: Wir tun nur, was die Götter wollen. »Und doch, der Mensch muß tragen, was an Schmerz und Qual / Ein Gott verhängt« (Vers 288f.), sagt die Mutter des Königs. Unser Handeln werde daher nur durch einen fremden Willen bestimmt (»Ich bin nicht schuld …«). Da die Welt von den Göttern gemacht worden sei, müsse man nur die Welt erkennen (d. h. die Fakten bestimmen), um den Götterwillen herauszufinden.

Die Frage ist nur: Wie erfahren die Menschen von dem, was die Götter wollen? Zwei Antworten will ich vorstellen.

Erste Antwort

Die Griechen hatten eine fantastische Erfindung, nämlich das Orakel von Delphi, das eine Art Vermittlung zwischen Menschen und Göttern sein sollte. Hier sollten die Menschen erfahren, was die Götter sich so dachten, um ihr menschliches Handeln nach dem Willen der Götter richten zu können. Ähnliche Erfindungen können viele Völker vorweisen: Die Römer versuchten, dem Gekröse der Tiere zu entnehmen, was zu tun ratsam sei. Die Germanen warfen Buchenstäbchen in die Höhe und lasen die Stäbchen dann »nach ihrer Rückkehr zur Erde« wie Buchstaben.

Das Problem war nur, dass das Orakel in Delphi das Problem noch vergrößerte. Denn selten konnte man verstehen, was es sagte; einmal, weil es zu leise, ein andermal weil es sich in einer bis dato unbekannten Sprache äußerte oder weil es unverständlich oder vieldeutig war. Das Problem war demnach nicht gelöst, sondern erst mal richtig gestellt: Du musst den Götterwillen erfüllen, aber du erfährst ihn nicht! Es mag sein, dass die Götter unser Schicksal bestimmt haben. Aber wie finden wir heraus, worin es besteht? Kurz: Was sollen wir tun?

Deswegen liegt eine andere Deutung des Orakels von Delphi nahe. Grade weil es unverständlich war, akustisch oder semantisch, wies es die Menschen darauf hin, dass sie nie das gesamte Wissen der Welt (oder gar des Weltenplans) erkennen können. Dass sie zwar immer auf sich angewiesen sind und sein werden, aber zugleich bei allem Handeln bedenken müssen, dass ihnen göttergleiche Erkenntnis vorenthalten bleibt. Und zwar auf immer. Das sieht auch die Mutter des kriegführenden Königs ein, die glaubte, ein Traumgesicht als Orakel deuten zu können:

 

»Weh mir, ich Arme! Hingemordet ist das Heer!

O offenkundig Traumgesicht der letzten Nacht,

Wie hast du deutlich mir das Unglück offenbart!

Ihr aber habt es falsch gedeutet, nur zu falsch.« (Vers 513)

Wenn man die Erzählungen davon, dass die Götter das Schicksal der Welt bestimmen, erkenntnistheoretisch liest, dann sind es Warnungen davor, menschliches Wissen schon für das gesamte Wissen zu halten. Das Orakel sät Zweifel an der Allmacht des Menschen, an der Vorherrschaft der Endlichkeit, der Fakten. Die Götter (und damit die Welt) haben (hat) ihren Eigensinn, den die Menschen nie werden einsehen können. Daher sind die Menschen allein auf ihre Erkenntnisinstrumente angewiesen. Die sind allerdings so beschaffen, dass sie nie das ganze Wissen erkennen können.

Die (oft gesungene) Sage davon, dass die Götter das Schicksal der Welt bestimmen, ist als die Warnung davor zu verstehen, menschliches Wissen für absolutes Wissen zu halten. Es wird Zweifel an der Geltung der Endlichkeit gesät. Dem kann man aus aufgeklärter Sicht nur zustimmen. Wir sollten nicht glauben, Fakten sagten uns, was der Fall ist. Unser Erkennen ist wie eine Kerze, eine Fackel, wie eine Kutscherlampe …, wie ein Scheinwerfer in der Dunkelheit. Wir sind vielleicht nicht allein, aber allein auf uns selbst angewiesen.

Zweite Antwort

Aber wenn es so schwierig ist, den Plan der Götter direkt zu vernehmen und daraus Handlungen abzuleiten, dann könnte man doch versuchen, aus den Taten der Götter abzuleiten, wie man die Dinge gebrauchen könnte, wie man somit handeln solle.

Wenn man unterstellt, dass nichts zweckfrei geschieht, dann muss man nur die Dinge erkennen, um sie dann zweckmäßig zu benutzen. Wenn man weiter unterstellt, dass der Zweck von einem guten Prinzip gesetzt wurde, dann liegt in allem, was natürlich ist, ein guter Zweck. Dann handelt man gut, wenn man richtig erkennt.

Nun lassen sich in allen Zeiten Denkmodelle finden, nach deren Deutung die Welt so festgelegt sei, dass die Menschen die Fakten nur noch zur Kenntnis nehmen müssten, um sich nach ihnen richten zu können.

Die unsichtbare Hand

Besonders das 18. und 19. Jahrhundert war fasziniert von dieser Idee. Adam Smith (1723–1790) glaubte, im Marktgeschehen das Prinzip des Fortschritts entdeckt zu haben. Er mühte sich ab, zu zeigen, dass es immer dann besser für die Menschen wurde, wenn Wettbewerb und freier Markt eingeführt worden waren. Erkenntnis führt zu richtigen und moralischen Handlungen. Der Mensch ist frei dazu, das zu erkennen, was auch ohne ihn da ist und ihn bestimmt.

Einsicht in die Notwendigkeit

Ein anderes (zu Adam Smith spiegelverkehrtes) ökonomisches Modell, das des »dialektischen Materialismus«, ist so ausgelegt worden: Der Mensch ist frei dazu, das zu erkennen, was auch ohne ihn da ist und ihn bestimmt. Wir finden es in einem halboffiziellen Wörterbuch der DDR, in dem die Autoren aus der »Lehre von den allgemeinen Entwicklungsgesetzen des Seins« abzuleiten versuchen, was die Partei auf dem nächsten Parteitag beschließen sollte. Im »Philosophischen Wörterbuch« (Berlin [Ost] 1972) der DDR ist auf S. 470 zu lesen:

»Andererseits aber kann das Handeln in philosophisch-soziologischer Sicht nur innerhalb seiner sozialen Determination durch den Gesellschafts- und Geschichtsprozeß und in seiner Wirksamkeit in diesem Prozess verstanden werden.«

Und zur Absicherung zitieren die Verfasser den russischen Journalisten und Philosophen Georgi Walentinowitsch Plechanow (1856–1918), der die »Grundprobleme des Marxismus« (dt.: 1910) aufzulösen versucht hatte:

»Wenn eine bestimmte Klasse im Streben nach ihrer Befreiung eine gesellschaftliche Umwälzung durchführt, so handelt sie dabei mehr oder weniger zielbewußt, und jedenfalls erscheint ihr Handeln als Ursache dieser Umwälzung. Allein dieses Handeln samt all den Bestrebungen, durch die es hervorgerufen wurde, ist selbst Folge eines bestimmten Verlaufs der ökonomischen Entwicklung und wird daher selbst durch die Notwendigkeit bestimmt. Die Soziologie wird zur Wissenschaft nur in dem Maße, in dem es ihr gelingt, das Entstehen der Zwecke beim gesellschaftlichen Menschen (die gesellschaftliche »Teleologie«) als notwendige Folge des gesellschaftlichen Prozesses zu begreifen, der in letzter Instanz durch den Gang der ökonomischen Entwicklung bedingt wird.«

Wer den Gang der bisherigen Entwicklung erkennt, der weiß, was er künftig tun muss. Sein Handeln ist die »Folge« der Entwicklung und wird »durch die Notwendigkeit« der Sachanalyse bestimmt. Der Mensch ist »in letzter Instanz« »bedingt« – also determiniert. Friedrich Engels (1820-1895) hatte allerdings recht vieldeutig geschrieben:

»Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. ›Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird.‹ Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen. Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern Natur wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein des Menschen selbst regeln – zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können. Freiheit des Willens heißt daher nichts andres als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können« (S. 106).

Das hätten die griechischen Philosophen der Antike kaum anders formuliert. Denn ohne Sachkenntnis kann man nicht frei entscheiden und handeln, sondern sich nur beliebig verhalten. Weiter mit Engels:

»Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiednen und widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie grade beherrschen sollte« (S. 106).

Dann freilich wird Friedrich Engels undeutlich, weil er sich selbst widerspricht:

»Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung« (S. 106).

Was heißt »gegründet«? Anlässlich oder verursacht? Müssen wir angesichts von Fakten (mit Sachkenntnis) handeln oder können wir unser Handeln aus den Fakten ableiten? Einmal meint Engels dies, einmal meint er das.

Hier unterscheiden sich die Systeme grundlegend. Das eine ist mit dem anderen nicht kompatibel und kombinierbar. Entweder sind wir in unseren Entscheidungen frei oder nicht. Ein bisschen frei geht nicht. Engels erläutert nun seine These am Beispiel; vielleicht bringt diese historische Rekonstruktion Klärung:

»Die ersten, sich vom Tierreich sondernden Menschen waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst« (S. 106)

… was heißt: »in allem Wesentlichen«? Wenn die Menschen »wesentlich« unfrei waren wie die Tiere, waren sie … (Verzeihung) … Tiere. Entweder waren sie »in allem Wesentlichen« (also dem, was das Wesen des Menschen ausmacht) frei, dann waren sie keine Tiere. Oder sie waren wesentlich unfrei, dann waren sie keine Menschen.

Vielleicht meint Engels, dass man von den Dingen abhängig ist, wenn man die Dinge nicht kennt. Klar: Wer seinen PC nicht mit dem WLAN verbinden kann, muss einem Techniker glauben, der ein wenig zaubert und – zack – die Verbindung herstellt. Gegen Honorar selbstverständlich. Wenn man weiß, wie es geht, kann man es selbst machen. Mehr freies Wissen führt zu mehr Handlungsfreiheit. So ähnlich sagt es auch Engels: » … aber jeder Fortschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit« (S. 106).

Allerdings: Ist es nicht (auch) umgekehrt? Mit der Entdeckung der Freiheit entstand erst Kultur? Wenn man dem zustimmt, dann folge ich Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) wieder: Je mehr man weiß, desto mehr Entscheidungen kann man fällen. Es geht demnach um drei Freiheitsbegriffe: erstens die Freiheit des Menschen, instinktfrei zu handeln, also frei zu denken. Zweitens die gesellschaftliche Möglichkeit, diese vorauszusetzende Freiheit auch zu gestalten. Drittens die Freiheit, nach Erkenntnis von Naturgesetzen mit diesen (und nicht gegen sie) frei zu handeln (z. B. Medikamente oder tötende Gifte zu entwickeln), die Einsicht in den Zwang (der Naturgesetze) als Möglichkeit anzusehen, sie »planvoll« zu unserem Nutzen einzusetzen.