Die Wiedergewinnung des Heilens

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Wiedergewinnung des Heilens
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN E-Book 978-3-95779-138-2

ISBN gedruckte Version 978-3-95779-052-1

Diesem E-Book liegt die Erste Auflage 2017 der gedruckten Ausgabe zugrunde.

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH

© 2017 Info3-Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG,

Frankfurt am Main

Umschlag: Frank Schubert, Frankfurt am Main

Titelabbildung: Christus heilt einen Gelähmten. Byzantinisches Mosaik aus der Kathedrale von Monreale, Sizilien.

Über dieses Buch

In diesem Buch übt Volker Fintelmann leidenschaftliche Kritik an dem heutigen, durchgehend ökonomisierten Gesundheitssystem. Weil diesem eine ethische Grundlage fehlt, will Fintelmann der Medizin aus seinem Verständnis des Christentums heraus Impulse für eine neue Moral der Verantwortlichkeit und Liebe geben.

Im Mittelpunkt stehen dabei die Heilungsgeschichten der Evangelien, die Fintelmann in einem neuen Licht interpretiert. Das von ihm in Anknüpfung an Rudolf Steiner entwickelte Verständnis christlichen Heilens wird darüber hinaus auf überraschende Weise konkret, wenn etwa Zirkulationsvorgänge im Organismus mit der Christus-Kraft in Verbindung gebracht werden. Imposante Patientengeschichten aus der eigenen lebenslangen Praxis-Erfahrung runden dieses Plädoyer für ein vertieftes Verständnis des Heilens ab.

Ein Leitsatz Volker Fintelmanns lautet: „Eine Krankheit heilen heißt, ihren Sinn zu erfüllen.“

Über den Autor


Dr. med. Volker Fintelmann

geboren 1935, war nach seinem Studium unter anderem Ärztlicher Direktor am Hamburger Klinikum Rissen und baute dort eine anthroposophisch ergänzte Medizin auf. Über 20 Jahre leitete er die von ihm gegründete Carl Gustav Carus Akademie. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

Inhalt

1. Was ist mit „christlicher Medizin“ gemeint?

2. Der Arzt als Leibsorger

Menschenverständnis

Menschenliebe

Beispiele für eine ethikunabhängige Medizin

Änderungen tun not

3. Vom Heilen

Zweierlei Kranksein

Die Realität des Bösen

Was ist Gesundheit?

Techniken des Heilens

Tätige Nächstenliebe

Heilmut

Therapiegemeinschaft

Die Heilungen in den vier Evangelien

Die Auferweckung des Lazarus

Der Aussätzige

Die verdorrte Hand

Die Gelähmten

Die Blinden, Stummen und Tauben

Heilung der Besessenen

Konsequenzen für eine zukünftige Medizin

4. Glaube und Wissen

5. Die Menschenkunde des Johannes-Evangeliums

Die sieben ICH-BIN Worte

Die Weltenkraft der Liebe

6. Vom Schweigen

7. Die heilende Arznei

8. Raphael, der christliche Merkur

9. Das Lukasevangelium als innere Anweisung für den Heilwillen

Das exoterische Studium von Natur und Mensch

Die esoterische Vertiefung

Die Ausbildung moralischer Fähigkeiten

Herzdenken und Heilwille

10. Medizin als Schule zur Selbstlosigkeit

Schenken und Danken

11. Christi Wirken in unserem Leib

Die leiblichen Wirkungsstätten Christi

Der physische Leib

Der Lebensleib

Der Empfindungsleib

Der Ich-Leib (Ich-Organisation)

12. Rudolf Steiner und die Medizin

13. Ausklang

Zur Person des Autors

Anhang: Die Heilungsgeschichten in den Evangelien im Überblick

Anmerkungen

„Das grund-christliche Motiv ist die Nächstenliebe, und aus ihr kann ich eine neue Medizin entwickeln.“

Volker Fintelmann

Ich werde gehen den WEG,

der die Elemente in Geschehen löst.

Und mich führt nach unten zum VATER,

der die Krankheit schickt zum Ausgleich des Karma.

Und mich führt nach oben zum GEISTE,

der die Seele in Irrtum zum Erwerb der Freiheit leitet.

CHRISTUS

Führt nach unten und nach oben,

harmonisch Geistesmensch in Erdenmenschen zeugend.

(Rudolf Steiner im Pastoralmedizinischen Kurs)

1.
Was ist mit „christlicher Medizin“ gemeint?

Das für dieses Buch gewählte Motto ist ein Meditationstext aus dem Kurs zur Pastoralmedizin1, den Rudolf Steiner im Herbst 1924 in Dornach für Ärzte und Priester der noch jungen Bewegung zur Erneuerung einer christlich-sakramen talen Religion, der „Christengemeinschaft“ hielt. Die Ärzte wiederum waren Mitglieder der auch gerade erst begründeten Medizinischen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum in Dornach. Die Texte der neun Vorträge wurden lange Jahre nur auf Anfrage persönlich übergeben, ehe sie im Rahmen der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) der Öffentlichkeit zugänglich wurden. Dieser Pastoralmedizinische Kurs (GA 318), wie er in Kurzform genannt wird, war Steiners Grundlegung für eine zukünftige Medizin, deren Grundkomponenten er mit den Begriffen „spiritualisiert“ und „durchchristet“ bezeichnete. Trotz Anerkennung einer zu dieser Zeit neu gefassten, ganz auf die modernen Naturwissenschaften gestützten Medizin, die alles sinnlich Beobachtbare zum ausschließlichen Gegenstand ihrer Wissenschaftsmethodik machte, sah Steiner die unverzichtbare Notwendigkeit einer Ergänzung durch eine Geisteswissenschaft, die er „Anthroposophie“ nannte. Deren Hauptanliegen ist die bewusste Verbindung des Geistigen im Menschen mit dem Geistigen im Weltall. Anthroposophie kann so auch als Wissenschaft des Unsichtbaren in Ergänzung der Wissenschaften einer sinnlich-erfassbaren, „sichtbaren“ Welt bezeichnet werden, die wir gemeinhin Naturwissenschaften nennen. Dieser auch von mir erlebten gedanklichen Verbindung von dualen Erkenntniswegen bzw. -methoden, das Miteinander von Stoff und Geist oder – wie es im vorangestellten Meditationstext heißt – „Erdenmensch und Geistesmensch“ begegnete ich in einem Vortrag des schon hochbetagten Thure von Uexküll im Ärztlichen Verein der Ärztekammer Hamburg in dessen Worten: „Die Medizin hat im 20. Jahrhundert den Geist aus sich herausgetrieben. Und es wird höchste Zeit, dass sie ihn wieder hereinbittet“.2

 

In dem umfangreichen Werk Rudolf Steiners bin ich einer Christologie oder auch Christosophie begegnet, die mir immer deutlicher verstehbar machte, was ich in mir als „christlich“ erlebte, das mich jedoch in große Schwierigkeiten mit den verschiedenen christlichen Konfessionen brachte. Mein zunächst kindlich-jugendlich erlebtes Christsein fand keinen Widerhall im Protestantismus, in den ich durch meine Eltern hineingeboren wurde und in dessen Rahmen ich auch in der Dahlemer Dorfkirche in Berlin christlich getauft wurde. Schon im Vorkonfirmandenunterricht rieb ich mich an der weitgehend gedanklich vermittelten Hinführung zur göttlichen Trinität, am Katechismus, an der Mittelpunktorientierung auf die Kreuzigung und das Karfreitagsgeschehen hin und an dem Mangel, Ostern und die Auferstehung als das Zentralereignis real zu erfassen. Stattdessen wurden gerade durch einige Berliner Theologen die Evangelien entmythologisiert, es wurde das Bild vom einfachen Menschen Jesus von Nazareth gezeichnet und die göttliche Einwohnung in diesem durch Christus mit der Jordantaufe wie an den Rand gedrängt.

Noch schwerer hatte ich es mit dem Katholizismus, insbesondere mit dem dort gelebten Dogmatismus, der grauenvollen Geschichte der Christianisierung heidnischer Völker und der Inquisition. Dostojewskis Geschichte vom Großinquisitor, eingefügt in sein Monumentalwerk „Die Brüder Karamasow“, bestätigte mich in meiner inneren Distanz, auch, was ich als Flüchtling im Sudetenland an meinen überwiegend katholischen Klassenkameraden erlebte, die mich zum Beispiel baten, ihnen zu helfen, für die allfälligen Beichten Ideen zu entwickeln, die sie dem Beichtvater vortragen könnten. Und von beiden Konfessionen entfernte mich das Erleben der ihnen gemeinsamen, mächtigen Intoleranz sowohl untereinander als auch gegenüber Nichtchristen und Andersdenkenden, ebenso wie ihre Toleranz gegenüber dem Nationalsozialismus oder auch anderen Diktaturen. Die Diskriminierung der Frau in der Katholischen Kirche, der Einfluss der Psychoanalyse in der Protestantischen, die Glaubenskriege – alle diese Elemente erlebte ich als Kontrast zu dem, was in mir als Empfindung eines Christentums lebte, für das Toleranz, Mitgefühl (Empathie), der Blick auf meinen Nächsten und seine Bedürfnisse, vor allem jedoch Wahrheitssuche und Freiheit so entscheidende Elemente bilden, dass ihr Fehlen oder Negieren mich denken ließ: „Ohne sie kein Christentum“!

In der modernen Medizin, der ich zunächst im Studium und dann in den Lehrjahren des Arztberufes täglich begegnete und deren Teil ich zunehmend wurde, begegneten mir viele der Verhaltensweisen und Auffassungen, die ich eben mit Blick auf die christlichen Konfessionen schilderte:

– die Dogmatik einer Wissenschaft, in der nur akzeptiert wurde und wird, was sie zu denken oder praktizieren erlaubt („wissenschaftlich anerkannt“);

– die Aussonderung anderer medizinischer Systeme, die oft getragen sind von jahrhunderte-, ja jahrtausende alten Traditionen und als Alternative oder Glaubensmedizin, ja zum Teil auch als Paramedizin diskriminiert wurden;

– eine immer analytischere Auffassung vom Menschen als Zusammensetzung unglaublich vieler Teile, also ein Puzzle bild statt eines Gemäldes seiner Ganzheit;

– der immer deutlichere Verlust verbindlicher Ethik, beispielhaft gekennzeichnet am Ablegen des „Nil nocere“, dieser wesentlichen Aussage im Eid des Hippokrates, der einmal für den Arztberuf verbindlich war: „Du darfst deinen Patienten keinen Schaden zufügen“.

Dazu zählt auch die immer sichtbarere Haltung, an der Krankheit eines Menschen so viel als möglich zu verdienen, die Medizin also als Markt (miss-) zu verstehen; und schließlich auch die immer größere Distanz des Arztes zum Kranken, sein Verdrängtwerden durch Apparate. Das alles erlebte ich als ein zunehmendes Erkalten und ein ungeheures Missverständnis meiner Wahl des Arztberufes.

Ivan Illich, Jesuitenpater und Soziologe, hat die oben genannten Elemente einer aus seiner Sicht zur Kirche gewordenen medizinischen Wissenschaft mit größter gedanklicher Schärfe und zum Teil beißender Kritik in seinem Buch „Die Enteignung der Gesundheit“ ausführlich dargestellt.3

Ich schreibe das alles, um deutlich zu machen, was in mir im Gegensatz dazu durch Steiners Forderung einer „Durchchristung der Medizin“ angeregt und belebt wurde – und um anzudeuten, was ich mit „christlicher Medizin“ meine. Es geht mir dabei gerade nicht um eine konfessionelle Medizin, sondern um eine durch und durch freiheitliche, in der die Einzigartigkeit jedes Menschen erfahren und zum Ausgangspunkt allen Handelns gemacht wird. Eine weitere Aussage Steiners, wonach „Christus unabhängig von konfessionellen Religionen für alle Menschen gekommen ist“ wurde mir Leitbild: ER hat helfend in die Evolution der Menschheit eingewirkt, sie neu belebend und mit dem Freiheitsimpuls verbindend. Es ging ihm nicht um die Stiftung einer neuen Religion – das haben Menschen aus seinem Wirken gemacht – es ging ihm um das Heil der Menschen in ihrer Begegnung mit dem Göttlichen und den Gegenkräften, auch das Böse genannt (Steiner sprach auch von Widersachern). Christus begründete ein Menschenbild, indem er sich selber zum Bild des Menschen machte. Pontius Pilatus hat das in seinem „Ecce homo“ wahrgenommen, kaum vollbewusst, eher ahnend-intuitiv. Christliche Medizin beginnt daher aus meiner Sicht mit dem Schaffen eines Menschenbildes, das die Gliederung in Leib, Seele und Geist neu entdeckt, differenziert beschreibt und zugleich die göttliche Schöpfung in ihm erlebt.

Der erste Schritt ist somit ein Erkenntnisakt. Steiner nannte das in Vorträgen über „Die Geheimnisse der menschlichen Organisation“ „Menschenverständnis“. Christliche Medizin begründet jedoch auch eine ethisch-moralische Handlungswelt. Diese nannte Steiner an gleicher Stelle „Menschenliebe“. „Es gilt als die eigentliche Quelle des Moralisch-Geistigen in der Menschheit nur dasjenige, was man Menschenverständnis nennen kann, gegenseitiges Menschenverständnis, und die auf dieses Verständnis der Menschen gebaute Menschenliebe.“4

Achtmal habe ich zusammen mit meinem Freund Johannes Lenz, Pfarrer der Christengemeinschaft, ein dreitägiges Seminar „Wege zu einer Christlichen Medizin“ kontinuierlich Jahr für Jahr in der Carl Gustav Carus Akademie Hamburg durchgeführt. Die dort vorgetragenen Inhalte und das in Gesprächen aller Teilnehmer erlebte Verbindende bilden die Grundlage dieses Buchs. Es ist ein sehr bewusst persönlich gehaltenes Buch, es birgt die Essenzen meines eigenen Weges als Arzt, wo ich immer im Austausch mit Pfarrern oder Priestern stand, also ganz im Sinne von Steiners Pastoralmedizin. Es möchte den Leser Fragen erleben lassen, die vielleicht auch in ihm existieren, bewusst oder noch unbewusst. Es möchte Denkanstöße statt fertiger Antworten vermitteln und es möchte Wege aufzeigen, auf welchen die Medizin den Menschen in seiner Ganzheit wiederfindet, den sie methodisch durch ihr zergliederndes Denken aus dem Blick verloren hat. Und es möchte vor allem auch wieder eine Perspektive des Heilens eröffnen, das der modernen Medizin ebenso wie die Ganzheit Mensch verlorenging. Der Kardiologe Bernard Lown, der die Klassifikation der Herzrhythmusstörungen schuf und die Elektrostimulation des Herzens (Kardioversion) entwickelte, hat diesen Aspekt in seinem Buch „Die verlorene Kunst des Heilens“5 ausführlich und auch sehr persönlich beschrieben. Denn Heilen ist mehr und auch etwas anderes als Gesundmachen. Eine Orientierung sollen dafür die Heilungsgeschichten der Evangelien geben, verbunden mit dem Blick auf die Entwicklungsgeschichte, in welcher die Menschen das Heilsein verloren haben.

Christliche Medizin ist also eine begriffliche Benennung eines Wegs, der die Medizin und vor allem alle in ihr beruflich Tätigen aus der Sackgasse führen möchte, in die sie durch die einseitige Festlegung auf eine rein naturwissenschaftliche, „objektivierende“ Wissenschaft geraten sind. Das wird natürlich auch große Konsequenzen für alle Menschen haben, die sich der Medizin anvertrauen oder oft auch ausliefern müssen, für jene Menschen, die wir im Allgemeinen „unsere Patienten“ nennen. Deshalb hoffe ich, dass dieses Buch auch von letzteren gelesen wird. Denn meine Hoffnung auf eine veränderte, „menschengerechtere“ Medizin ruht darauf, dass sie aus den Forderungen der Patienten entsteht. Es ist in der gegenwärtigen Zeit schwer vorstellbar, dass sich das festgefahrene System der Medizin aus sich heraus metamorphosiert. Zu stark scheinen mir die selbstangelegten Fesseln, als dass nicht Hilfe von außen kommen müsste, um sie zu lösen. Zu schwach sind auch Einsicht und Wille der Ärzte, im Blick auf die Bedürfnisse ihrer Patienten etwas zu ändern. Wenn die Ärzte rebellierten, was selten genug geschah, dann eigentlich immer nur, wenn es um die Neufassung ihrer Gebührenordnung und eine befürchtete Schmälerung ihrer Einkommen ging. Ich habe nicht erlebt, dass Ärzte einmal für ihre Patienten auf die Straße gingen, zum Beispiel dann, als weitgehend alle Arzneimittel der Komplementärmedizin von der Erstattung gesetzlicher Krankenkassen ausgeschlossen wurden. Wie anders das einmal gedacht wurde, zeigt die 1982 bei der Generalversammlung des Weltärztebundes in Lissabon verabschiedete Deklaration:

„Ein Arzt sollte immer, auch angesichts faktischer, ethischer und rechtlicher Schwierigkeiten, seinem Gewissen folgen und nur dem Wohle des Patienten dienen. Die folgende Deklaration enthält einige der wesentlichen Grundrechte, welche die Ärzte für die Patienten sicherstellen wollen. Wenn die Gesetze oder die Regierung eines Landes dem Patienten diese Rechte durch Maßnahmen vorenthalten, sind die Ärzte gehalten, geeignete Mittel und Wege zu suchen, diese Mittel dennoch zu gewähren.

– Der Patient hat das Recht auf freie Arztwahl.

– Der Patient hat das Recht, von einem Arzt behandelt zu werden, der seine klinischen und ethischen Entscheidungen frei und ohne Einfluss von außen treffen kann.

– Der Patient hat das Recht, einer Behandlung nach angemessener Aufklärung zuzustimmen oder sie abzulehnen.

– Der Patient hat das Recht, zu erwarten, dass der Arzt über seine medizinischen und persönlichen Daten Schweigen bewahrt.

– Der Patient hat das Recht, in Würde zu sterben.

– Der Patient hat das Recht auf geistige und moralische Unterstützung, die er auch ablehnen kann; das schließt das Recht auf den Beistand eines Geistlichen seiner Religion ein“.

2.
Der Arzt als Leibsorger

So sehr man versucht sein kann, das Körperliche, den Leib des Menschen als vergänglich und damit weniger bedeutsam für sein ewiges Leben als die unsterbliche Seele und den über alle Zeiten andauernden Geist anzusehen, so sehr ist in Wirklichkeit der Leib der vollkommenste Aspekt der Schöpfung Mensch. An ihm haben die schöpferischen oder eben göttlichen Kräfte von Beginn an gearbeitet, er wurde immer im Bild eines Tempels gesehen. Und ihn neiden die Widersacher den Göttern, weil sie Vergleichbares nicht schaffen können. Alle Versuche im Ausdruck von Technik und Kunst sind stümperhaft im Vergleich mit dem Menschenleib, und das ist den widerstrebenden Mächten bewusst. Deshalb versuchen sie auch, sich dieses Leibs zu bemächtigen. Die moderne Medizin ist einer ihrer großen Helfer dieses Ansinnens.

„Der Körper ist nicht des Menschen, der Körper ist Gottes“, sagt Steiner in Vorträgen zu jungen Ärzten und Medizinstudenten.6 Er beschreibt schon früh in Vorträgen zu einer geisteswissenschaftlich („okkult“) erforschten Darstellung des gesunden Menschen („Physiologie“)7 und dann ganz am Ende seiner Vortragstätigkeit 1924 im Pastoralmedizinischen Kurs8 den Beruf des Arztes als einen Gottesdienst. Was überhaupt nicht heißt, als Priester oder Pfarrer zu wirken, sondern im Dienste der Schöpfung am Gesundsein und Gesunderhalten (Salutogenese) des menschlichen Leibes verantwortlich mitzuarbeiten. So wie der Priester oder Pfarrer Seelsorger sein soll, ist der Arzt berufen zur Leibsorge. Und das ist eine tief bedeutsame und hoch verantwortungsvolle Berufung. Denn: „Der Leib hat einen dem Denken entsprechenden Bau“.9 Dieser Satz aus Steiners „Theosophie“ macht die Bedeutung unseres Leibes klar. Alles Erkennen, das in unser Denken mündet, braucht einen ihm entsprechenden, das heißt „gesunden“ Bau. In unserem Denken ist unser Ich tätig, mit ihm reflektiert es seine Begegnungen mit der Welt und mit sich selbst (Selbsterkenntnis). Der Leib bildet dem Ich die Werkzeuge („organon“, griechisch Werkzeug), die es zu seinem differenzierten Denken braucht. Alle Organe und die Organsysteme wie Blut, Muskulatur, Zentralnervensystem, Knochen- und Bindegewebe sind vielgestaltige Werkzeuge für das Ich, damit es erkennend tätig sein kann. Und jedes Organ hat für das Denken einen ganz eigenen Aspekt. Wir brauchen für das Denken nicht nur das Gehirn, wir denken mit dem ganzen Körper. Dieser, als Organismus bezeichnet, kann – um im Bilde zu bleiben – als die Werkstatt des Ich angeschaut werden, in welcher jedes Organ ein bestimmtes Werkzeug bildet, mit dem das Ich seine Erkenntnis der Welt, seine „Weltanschauung“ schöpferisch bildet, so wie der Tischler seine Möbel oder der Schuhmacher die Schuhe. Dieses schaffende Ich, das im Erkennen die Welt mitschafft und auch verändert, braucht gleichermaßen den ihm entsprechenden Bau seines Leibes, ebenso wie das empfindende und fühlende Ich, das als Kern oder auch Frucht in der Hülle der Seele lebt und wirkt. Solcherart muss eine wirkliche Psychosomatik angeschaut werden, und eigentlich kann es keine Medizin vom Menschen geben, die nicht psychosomatisch ist.

 

Immer stärker schieben sich heute Erkrankungen in das soziale Leben, die als „psychisch“ bezeichnet werden, weil äußerlich erkennbare krankhafte Veränderungen an den Organen nicht feststellbar sind. Und doch sind auch sie „organisch“, weil das gesunde Wechselverhalten, die Interaktion von Seele und Leib gestört, nicht gesund ist. Dazu zählen auch sogenannte Verdauungsstörungen („Funktionelle Dyspepsie“), Unverträglichkeiten gegenüber Nahrungsmitteln, Reizmagen und Reizdarm, kurz alle Erkrankungen, die wir heute funktionell nennen, und die immer noch nicht wirklich ernstgenommen werden. Das Gestörtsein des Leibes entzieht sich hier weitgehend einer sinnlich-manifesten Objektivierung. Und so werden sie gerne als „nicht-organisch“ oder als Befindlichkeitsstörungen abgetan. Nimmt man jedoch ernst, dass auch in diesen leiblichen Störungen das Ich in seiner Tätig keit behindert wird, dass sein Erkennen der Welt, der Mitmenschen und auch seiner selbst dadurch verzerrt oder verfälscht werden kann, bekommen auch diese scheinbar nur funktionellen Erkrankungen für den Arzt die Aufgabe, sie zu heilen, um den gesunden Organismus als Voraussetzung für ein frei wirkendes Ich wiederherzustellen und zu befestigen.

Der Leib ist schon dem Verständnis der naturwissenschaftlichen Medizin nach ungeheuer komplex. Wie ist doch jedes Gewebe von besonderer Art („Parenchym“), wie staunenswert sind die Architekturen z.B. eines Leberläppchens, eines Nierenglomerulums oder auch die Knochenstrukturen. Welche Welt voller Wunder betreten wir mit der Betrachtung des Leibes, makroskopisch wie mikroskopisch. Welche Schönheit begegnet uns durch ihn, welche Weisheit der Schöpfung. Wie kann ich es als selbstverständlich nehmen, in welcher Weise der gesunde Organismus in allen Vorgängen geregelt ist, wie er sich auch begrenzt, wie Vergehen und Entstehen im Gleichmaß geschehen. Ich kann das nur staunend erfassen, und mich ergreift tiefe Ehrfurcht vor dieser Vollkommenheit. Diese beiden Eigenschaften, Staunen und Ehrfurcht, als notwendige Voraussetzungen der Begegnung des Arztes mit dem Leib des Patienten müssen neu entdeckt und auch geschult werden, will der Arzt seiner Berufung als Diener in der Mitarbeit an der Schöpfung Leib gerecht werden.10 Denn diese ist nicht abgeschlossen, ihre Wirklichkeit ist das Werden, nicht das Gewordene. Nur scheinbar ist ein Schienbein immer das gleiche. In Wirklichkeit befindet es sich in dauerndem Abbau und Wiederaufbau, es ändert sich in seiner Stofflichkeit, in seiner Struktur und letztlich auch in seiner Form oder Gestalt. In der Kindheit und Jugend kann man dem geradezu zusehen, später sind die Vorgänge äußerlich so verlangsamt, dass sie als unverändert erscheinen. Doch im Feinstofflichen, mikroskopisch erfassbar, dauert die Veränderung an, setzen sich Abbau und Aufbau fort. Und im Alter werden die Vorgänge wieder anschaulicher in den vielfachen Deformationen, dem Schrumpfen oder der stark verlangsamten Regeneration.

Wir stoßen auf die allem zugrundeliegenden Funktionen, die wir schon Abbau und Aufbau oder auch Regeneration nannten, die als Stoffwechsel bezeichnet werden, als Bildung von „Säften“, Zellen oder Hormonen. Auch hier erleben wir eine staunenswerte Fülle von Tätigkeiten, die wir dem Leben zuordnen, weil es sie im Leichnam so nicht mehr gibt. Sie äußern sich quantitativ, wenn wir lernen, dass unsere Nieren weit mehr als 100 Liter Primärharn bilden, von dem durch Rückresorption der größte Teil wieder in den Organismus aufgenommen wird und von dem wir nur etwa ein bis zwei Prozent wirklich ausscheiden; oder dass die Speicheldrüsen etwa 1,5 Liter Speichel täglich bilden; wir mehr als 25 000 Atemzüge der Ein- und Ausatmung in 24 Stunden tun, und das Herz noch viermal mehr Pulsschläge als Ausdruck seiner Arbeit im Zusammenziehen (Systole) und Wiederausdehnen (Diastole) leistet, also rund hunderttausend Schläge in 24 Stunden. Sie äußern sich auch qualitativ, z.B. in der Elastizität unserer arteriellen Gefäße, des Knorpels, ja auch der Knochen; in der Kontraktilität der Muskulatur, die in der sogenannten glatten Muskulatur eine dauerhaft an- und abschwellende Form z.B. als Peristaltik des Magens und der Därme annimmt; oder als weiteres Beispiel der Viskosität des Blutes, das in einem ständig labilen Gleichgewicht von Gerinnung und Verflüssigung gehalten wird.

Und der Leib bildet in sich Empfindsamkeit. Bekannter Ausdruck hiervon ist der Schmerz, aber auch die große Welt unserer Emotionen, von Leidenschaft, Antrieb, Instinkten oder Begehren. Für alles Empfinden findet sich kaum noch sinnlich Beobachtbares in organischen Veränderungen, durch die Empfindung bildet sich Subjektivität, die sich dem Mess-, Zähl- und Wägbaren und deren Objektivität entzieht. Und doch liegen auch dem Empfinden organische Vorgänge zugrunde, die wir noch angedeutet in Redensarten erleben, wenn uns das Wasser im Munde zusammenläuft, etwas an die Nieren geht, einem die Galle überläuft. Der Empfindungsleib ist der leibliche Ort, an dem sich Leib und Seele begegnen, sich kurz verschmelzen, sich wieder trennen, was als Ein- und Ausatmen anschaulich wird. Nur müssen wir die Atmung viel umfassender denken als nur reduziert auf Lungenatmung. Denn jedes Organ atmet, ist differenzierender Träger der Empfindung, Ort des Erlebens der Seele in der Begegnung mit dem Leib. Die Organe sind Tore der Seele zur Welt, aber auch Spiegel für ihr Selbsterleben.

Dreifach also ist der Leib gegliedert: stofflich, lebendig und empfindend. Und mittels der Wärme durchdringt ihn das Ich, jeden Ort bis zur einzelnen Zelle prägend und ihn sich „entsprechend“ zu machen, wie es durch die Immunologie auch längst entdeckt und beschrieben wurde. So ist der gesunde Leib ich-geprägt, nichts in ihm ist fremd oder darf sich verfremden, alles in ihm ist auf Integrität veranlagt, bildet über das Ich Individualität. Der schwedische Immunologe Prof. Hans Wigzell formulierte es einmal auf einem Kongress in Järna/Schweden so deutlich: „Alle Fakten zeigen, dass das Immunsystem jedes Menschen einzigartig ist. Und es gibt keine Kopie von ihm“. Die Individualität schafft sich ein äußeres Erscheinungsbild in der Biografie. Auch in ihr wird die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit jedes Menschen deutlich. So müsste sie wesentlicher Bestandteil der Medizin werden, im individuellen Verständnis von Kranksein, dem ganz speziellen Weg einer Heilung, der individuellen Art einer Gesundheit. Jeder Versuch einer kollektiven Erkenntnis führt vom Menschen weg, schafft Illusionen.

Christliche Medizin heißt also immer auch individualisierende Medizin. Was durchaus erlaubt, Artmäßiges oder Typisches vom Menschsein in den forschenden Blick zu nehmen, doch immer im Bewusstsein, dass hiermit Grundsätzliches festgestellt wird, seine Anwendbarkeit auf den konkreten Menschen jedoch stets überprüft werden muss und ihm nicht einfach übergestülpt werden darf. Hier liegt die Einschränkung einer Evidenz-basierten Medizin, die sich als sogenannter Goldstandard der erkennenden Medizin weit von der Wirklichkeit Mensch entfernt hat, sich jedoch als dogmatisch geprägte Haltung wie in einer geschlossenen Burg gegen jede Öffnung verteidigt. Der englische Arzt David Sackett, der diesen Begriff bildete, wusste das und stellte der äußeren Evidenz eine innere gegenüber. Sie zusammen bildeten für ihn erst eine Wirklichkeit ab.11

Der zukünftige Arzt muss sich also in zweierlei Richtung neu ausrichten, um den Leib und seinen Anteil an der Ganzheit Mensch wirklich anschauend zu erfassen. Er muss eine Physiologie als Ausdruck des gesunden Menschen erarbeiten und so in sich zur Anschauung bringen, dass er die Veränderung zur Krankheit als Abweichung oder Vereinseitigung erfasst und im Durchschauen dieser krankhaften Vorgänge sogleich entdeckt, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um wieder geordnete bzw. gesunde Verhältnisse herzustellen. Und er muss sich zugleich in seiner ethisch-moralischen Tätigkeit schulen, um Diener seiner Berufung sein zu können.

Beides soll nur kurz erläutert werden. Wieder wird dabei das Verständnis einer hier gemeinten christlichen Medizin zugrundegelegt und die eigene Erfahrung dieses Weges miteinbezogen.