Rabengelächter

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Rabengelächter
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Rabengelächter

1. Auflage, erschienen 12.2020

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Viona-Maria Victoria Kagerer

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-850-0

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Kaarst

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Rabengelächter

Prolog

Eine einzelne Träne rann aus seinen Augen, bahnte sich den Weg und fiel zu Boden. Sanft bettete er ihren Kopf auf seinen Schoß und strich dem Mädchen mit zitternder Hand ein paar verirrte Haarsträhnen aus dem blassen Gesicht. Er schüttelte den Kopf langsam, sie durfte nicht sterben, nicht hier, nicht jetzt, nicht durch seine Hand. Ein Druck baute sich in seinem Inneren auf, als sie mit zitternden Lidern versuchte, ihre Augen zu öffnen. Ein Schrei, unheilvoll und panisch, peitschte über das Schlachtfeld. „Wo ist sie?“ Er wollte dem verzweifelten Mann antworten: „Hier, bei mir! Hier, und ich habe sie zum Tode verurteilt!“ Doch in diesem Moment öffnete sie ihre Augen und blickte ihn mit einer solchen Intensität an, dass sein Atem stockte. Ein Lächeln zierte ihre blassen Lippen. Die einzige Farbe in ihrem Gesicht war das dünne Blutrinnsal, welches aus Nase und Mund floss. Ihre Augen, diese eisigen Augen, wanderten weiter und blieben an dem dämmrigen Himmelszelt hängen. Pfeifend holte sie Luft, er lauschte diesem Pfeifen. Doch dann erstarb es. Mit dem Gefühl, nicht mehr seinem Körper zugehörig zu sein, musste er mit ansehen, wie ihr Blick brach und diese eisigen Augen den roten Schimmer am Himmel widerspiegelten.

Kapitel 1


„Krah-krah“, hallte es über die Lichtung. Nebelschwaden hingen über den Bäumen, wie ein zweiter grauer Himmel. Die Bäume waren groß, und wenn ich groß sage, dann meine ich auch groß. Nicht diese Art von Baum, wo man den Kopf in den Nacken legt und die Krone sieht, sondern diese Art von Baum, wo man den Kopf in den Nacken legt und die Krone immer noch nicht sieht. Okay, zugegeben, das war jetzt ein wenig verwirrend formuliert. Aber das war ich nun mal: verwirrt …

Warum zum Geier stand ich mitten im Wald, mitten in der Pampa? Bei dem Wort Pampa durchzuckte mich ein Gedanke, gewürzt mit einem Hauch Panik. Wie komme ich je wieder mit meinem nicht vorhandenen Orientierungssinn nach Hause? Ich wusste ja nicht mal, wie ich hergekommen war! Ich drehte mich noch einmal um mich selbst. Märchenwald, tanzte es durch meinen Kopf, als ich meine Umgebung genauer inspizierte. Das Moos zu meinen nackten Füßen war dick und hatte ein saftiges Dunkelgrün. Da war sogar ein … Moment mal, nackte Füße? Spätestens als ich sah, was ich anhatte, wurde mir klar, dass ich träumte.

Ich trug etwas Korsettartiges, das an den Seiten mit Leder zusammengeschnürt war. Auf meinen sonst nackten Schultern lag ein weißes Fell. Ein kurzer Rock aus Leder bedeckte meine Beine, und glaubt mir, der war so kurz, dass ich fast eine zarte Röte angenommen hätte. Das ganze Outfit war ziemlich knapp und erinnerte mich irgendwie an eine Wikingerkriegerin; nicht dass es welche gegeben hätte … Sexisten.

Vielleicht würde hier auch noch irgendein heißer Typ auftauchen, mit so einem Oberkörperpanzer, wo die einzelnen Muskeln eingegossen waren … Suchend blickte ich zwischen die Bäume. Ich meine, hey, wenn du die Chance hast, deinen Traummann zu treffen, dann spielt Schüchternheit ja wohl keine Rolle mehr. Und wenn er dann mit seiner tiefen Stimme deinen Namen wie ein Gebet spricht. Obwohl … stopp, das wäre gruselig. Sagen wir, er nennt ihn lässig, aber bitte nicht mit so einem Schnalzen danach. Ist in der Männersprache wahrscheinlich eine Art unwiderruflicher Liebesschwur; aber ganz ehrlich, so was kommt nur in Rosamunde-Pilcher-Filmen gut an, und diese Filme kamen bei mir nicht gut an.

„Anouk, komm zuuuuu miiiir!“

Stirnrunzelnd fragte ich mich, was mein Unterbewusstsein unter einer tiefen, attraktiven Stimme verstand. Denn diese Stimme, die mich zu sich rief, klang wie aus einem Horrorfilm entsprungen. Aus einem sehr, sehr schlechten, wo man noch keinen Stimmverzerrer hatte und sich einfach einen Becher von den Mund gehalten hat.

Die darauf folgende Stille jagte mir einen Schauer über den Rücken; also, das hatte jetzt echt Horrorfilmpotenzial. Wie um meine These zu bestätigen, krächzte in der Nähe ein Rabe. Unbehaglich rieb ich mir über die Arme, so sollte der Traum jetzt echt nicht laufen!

„Anouk!“

Ein drängender Unterton lag in dem kurzatmigen Gekrächze. Und dann passierte das, was in den ganzen Büchern und Filmen immer so schön ausführlich, bis ins letzte Detail, beschrieben wird: Ich hatte keinen Einfluss mehr auf meinen Traum, falls ich das je gehabt hatte. Mein Körper ging einfach in die Richtung von Mr. Stimmverzerrer. Ich ließ die kleine Lichtung hinter mir und ging und ging. Plötzlich stoppte ich. Jetzt, wo ich wieder die Kontrolle über meinen Körper hatte, fing ich erst mal an zu niesen. Kein wunder bei dem Plunder! Da hatten wir den Salat! Denn wie auch in der Realität war es hier Herbst, und ich wage mal zu behaupten, dass das, was ich trug, nicht gerade wettertauglich war. Ich schlang die Arme um meine Mitte und guckte mich zitternd um. Ich stand in einem Kreis aus Birken. Träge trudelte etwas vor meinem Gesicht zu Boden. Reflexartig griff ich danach; als ich die Faust öffnete, lag darin eine schwarze Feder. Langsam sah ich nach oben und begegnete den klugen Augen eines Raben.

Er breitete seine Schwingen aus und ließ sich wenige Meter vor mir zu Boden gleiten. Ich schnappte nach Luft und stolperte ein paar Schritte nach hinten. Jetzt, wo er vor mir saß, konnte ich sehen, wie riesig er war. Er reichte mir mit dem Kopf wahrscheinlich bis zur Hüfte. Und als wäre das nicht genug, öffnete er den Schnabel und begann zu sprechen (ja, ich sollte womöglich mal an so was wie Psychotherapie denken!).

„Naaa endliiiichhhh! Seiiii willkommmmen, Tochter!“

Er legte den Kopf schief und beobachtete mich. Erwartete er etwa, dass ich ihn „Papa“ nannte und ihm um den Hals fiel? Demonstrativ presste ich meine Lippen aufeinander. Gab es in diesem Traum vielleicht eine Art Stopptaste? Als das Schweigen mir auf das Trommelfell zu drücken begann, gab ich das Nicht-reden-Wollen auf und räusperte mich.

„Äh, hi, du“, oder sollte ich ihn doch lieber siezen? „Ich meine, Sie haben da was verloren. Äh, ja, hier!“

Ungelenk fuchtelte ich mit der Feder vor meiner Nase herum. Beeindruckt von meinen unglaublichen Redekünsten, hielt das Schweigen weiter an. Ich beugte mich also langsam zum Boden und legte die Feder vor meine Füße, dann trat ich einen Schritt zurück. Als hätte ihm diese Geste wieder das Leben und seine wirklich scheußliche Stimme eingehaucht, neigte er den Kopf leicht, wie eine angedeutete Verbeugung, und lispelte: „Behalten sollssst du sie, als Zeichen unserer unbegrenzten Loyalität, die sonsssst niemandem außßßer dem Vater selbsssst gebührt.“

„Äh.“(Ja, ich weiß, ich spürte meine Intelligenz.)„Danke, schätze ich mal.“ Wieder neigte er den Kopf – abgedrehter Vogel! Ich wollte schon den – wahrscheinlich nutzlosen – Versuch starten, krampfhaft aufzuwachen, als der Rabe von Neuem ansetzte. Bei seinen Worten rollten sich meine Fußnägel auf (im übertragenen Sinne, versteht sich …). „Vater sssagte, du bissst besssonders, er schickteee michh zu dirrrrr, Anouk. Wir werrrden dich finden, wir werrrden dich hooolen, weeeg von den Mensschen!“ Der Traum war echt abartig.

„Bitte lass mich aufwachen, hol mich von diesem paranoiden Raben weg, der mir gerade eine Stalking- und Entführungsdrohung gemacht hat!“, betete ich in Gedanken und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, den Kopf in den Nacken gelegt, hatte ich Mühe, ein entsetztes Aufstöhnen zu unterdrücken. Von überallher wurde ich angestarrt, ich fühlte mich wie auf einem Präsentierteller.

Die Bäume waren voller Raben, als prangten dort lauter schwarze Früchte. Sie saßen still und reglos da und starrten mich aus glanzlosen Augen an. Doch dann kam Bewegung in die Reihen und einer nach dem anderen stieß sich von den Ästen ab und flog in spiralförmigen Bögen nach oben.

Nach und nach wurde aus den Raben ein in den Himmel fliegender schwarzer Strudel. Immer noch nach oben blickend, bekam ich nicht mit, wie der große Rabe sich der wogenden Masse anschloss, und meine Welt wurde schwarz, schwarz wie die Feder, die er fallen ließ.

 

Kapitel 2


Der schrille Ton des Weckers riss mich schließlich aus meinem Dämmerzustand. Und wie jeden Morgen verfluchte ich den Erfinder dieser Höllenmaschine, die beschlossen hatte, mich in den Wahnsinn zu treiben. Wüst fluchend, die Augen immer noch geschlossen, befreite ich meine Hand aus dem Deckengewühl und leerte mit einem Wisch mein Nachtkästchen. Zufrieden grummelte ich, als das Piepsen mit einem Mal erstarb. Das war dann wohl Wecker Nummer sieben gewesen. Aber es half alles nichts, na ja, außer ein überzeugendes Schauspieltalent, mit dem ich mich hätte krank stellen können, und wenn ich was nicht hatte, dann das.

Ich strampelte mich von der Bettdecke frei, setzte mich auf, pustete mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und wankte, wie ein Betrunkener nahe dem Tod, ins Bad. Der Blick in den Spiegel stellte sich wie jeden Morgen als eine Mutprobe heraus. Auf alles gefasst, hob ich den Kopf, als ich mir die Hände wusch, und schaute in den kleinen angelaufenen Spiegel. Ich hätte mir vielleicht davor doch die Haare kämmen sollen, aber was soll’s, es war zu spät. Ich quiekte entsetzt auf. Herrgott! Das würde meine Haarbürste unter die Erde, oder besser gesagt, in den Müll bringen. Meine Haare hingen wie ein bronzefarbener Vorhang bis zu meinen Hüften. Wie ein lockiger Vorhang mit einer Reihe von Knoten. Vielleicht sollte ich doch auf meine Mutter hören und mir über Nacht Zöpfe flechten, wie sie es mir jeden Morgen von Neuem predigte.

Die Badezimmertür flog auf und meine Mutter stob hinein, wie ein kleiner Wirbelwind. Schon am Morgen hatte sie Farbkleckse im Gesicht und strahlte so, als hätte sie eine Packung Sonnen gefrühstückt. Dieser Morgenenthusiasmus musste wohl von den Genen von Mr. Unbekannt überlagert oder aufgefressen worden sein, denn das Einzige, was ich am Morgen ausstrahlte, war miese Laune, die man tonnenweise hätte verpacken können. „Guten Morgen!“

„Moin“, murmelte ich zurück. Ekelhaft, diese Morgenmenschen, ganz widerlich.

„Ach Ano! Deine Haare, ich hab dir doch schon tausend-, nein, zweitausendmal gesagt …“

Und so ging das jeden Morgen. Ich wandte mich von meinem finster dreinschauenden Spiegelbild ab und schlurfte zusammen mit Mum aus dem Bad, die kleine pastellgelb angestrichene Wendeltreppe hinunter in die Küche, machte hin und wieder zustimmende Laute und schüttete mir eine Ladung Schokolade, Hafer, Bananenchips und Honig in eine Schüssel und stellte alle Gläser wieder zurück in die Regale. Selbst die Schokolade war in Gläsern, ich meine, hallo?! Das war ja wohl gegen die Naturgesetze! Alles stand voller Einmachgläser mit Schnappverschlüssen. Auf den Schränken, in den Schränken. Ich hatte schon oft mit meiner Mutter darüber diskutiert, warum wir nicht einfach alles so, wie es war, in die Schränke packen konnten, aber nein! Dann könnte ja nicht vorhandenes Ungeziefer rankommen. Na schön, wenn es ihr Spaß machte … Sie war so fanatisch, dass sie sogar die Metallverschlüsse in ihrem Atelier zu filigranen, kleinen Schnörkeln umschmiedete. Die überall aufgehängten Kräuter brachten die kleine hellblaue Küche fast zum Platzen.

Ich griff, ohne hinzuschauen, in den Kühlschrank, der durch die ganzen Gläser zum Bersten voll war, holte die Milch heraus, ließ den Verschluss des Milchglases aufschnappen und goss die Milch langsam über das bis jetzt ganz gesund aussehende Frühstück. Und ich habe nicht umsonst bis jetzt gesagt.

Wie von selbst fielen mir die Augen wieder zu. Blind holte ich ein Glas Mini-Marshmallows und ein Glas Kakao aus dem Apothekerschrank und kippte beides bis zum Rand der Schüssel hinein. Mums schrilles „Ano, musst du denn immer so viel ungesundes Zeug in der Früh essen!“ unterbrach mein Frühstücksritual schließlich. Ich schlurfte zu dem bunt gefliesten Esstisch, hockte mich auf einen der zusammengewürfelten Stühle und schaufelte mir meinen, heute wahrscheinlich einzigen, Lichtblick rein. Zwischen einer Löffelladung mampfte ich mit vollem Mund, die Milch noch schnell runterschlürfend. (Hinreißend, nicht wahr?)

„Das ist kein …“, ich ahmte ihren Tonfall nach, was jedoch in einem unverständlichen Gekrächze endete, als ich mich hoffnungslos an einem Marshmallow verschluckte und zwischen zwei Atemzügen „… ungesundes Zeug“ hervorstieß. Besorgt stellte meine Mutter ein neues Glas (keine Ahnung, wo sie das noch hinstellen wollte) auf den kleinen Tresen, um mir auf den Rücken zu klopfen.

„Geht’s?“, fragte sie, als sie mir zweimal so heftig auf den Rücken geschlagen hatte, dass ich jetzt wirklich keine Luft mehr bekam. „Jaja“, würgte ich unter tränenden Augen hervor, um einer weiteren gut gemeinten Schlägerattacke zu entgehen. Ja, auf den ersten Blick würde man meiner Mutter so eine Kraft wohl gar nicht zutrauen, so klein und elfenhaft wirkte sie. Und wieder einmal fragte ich mich, warum ich nicht auch so aussehen konnte wie sie: klein, zierlich, große, kornblumenblaue Augen. Wären die Haare nicht gleich, wäre ich ganz ehrlich nicht sehr überrascht gewesen, wenn mir jemand gesagt hätte, ich sei adoptiert.

Im Gegensatz zu ihr war ich mit meinen eins sechsundsiebzig geradezu ein Riese. Meine Haare waren noch unbändiger als ihre.

„Da siehst du mal, dass das Zeug nicht nur ungesund, sondern auch noch gefährlich ist. Probiere doch mal dieses neue Obstmüsli, das ich gekauft habe!“ Missmutig starrte ich sie an; musste ich ihr jetzt ernsthaft erklären, dass ich selbst an Obstmüsli ersticken könnte? Ungehalten erwiderte sie meinen Blick, und das mag bei meinen Augen was heißen! Die meisten wandten sich immer unangenehm berührt unter meinem Blick ab.

„Solange Kakaobohnen auf Bäumen wachsen, ist Schokolade für mich Obst!“ Während meine Mutter im Stillen Argumente suchte, die meine gar nicht so unlogische These entkräften könnten, wandte ich mich wieder meinem Musil zu.

Genervt blickte ich mich in dem kleinen lindgrünen Badezimmer um; alles bei uns war irgendwie klein und bunt. Wo war denn nur dieser lästige Concealer? Mit diesen Augenringen konnte ich mich auf gar keinen Fall unter Menschen wagen. Also, wo verflixt noch mal war denn … Ah, da war er ja, bedeckt von schwarz verschmierten Wattepads, die von meinem letzten missglückten Schminkversuch zeugten. Mit spitzen Fingern klaubte ich ihn unter diesen hervor. Ich wandte mich wieder dem Spiegel zu, aus dem mich jetzt ein blasses Mädchen mit dunklen Augenringen anstarrte. Umso mehr stachen seine eisblauen Augen aus seinem feinen Gesicht hervor. Wie ich verzog es seinen vollen Mund zu einer genervten Grimasse. Diese Augen. Das war eigentlich immer das Erste, worauf ich angesprochen wurde, und es störte mich. Es störte mich, wenn man mich auf sie ansprach, sie faszinierend nannte.

Meine Augen waren groß und in ihrer Mitte war ein weißer Ring, in dem ein kräftiges Hellblau zu Eis erstarrt schien. Weiße Linien zogen sich wie Lichtstrahlen zu der Pupille hin. Ich fand sie … gruselig. Abnormal, ja, das ist wohl der richtige Begriff für so was. Nachdem ich meine Augenringe bis ins Unkenntliche übermalt hatte, schaute ich noch einmal prüfend in den Spiegel. Erfreut erkannte ich, dass die Rötung auf der Spitze meiner geraden Nase verschwunden war, die ich immer bekam, wenn es kalt war. Wenigstens musste ich nicht auch noch meine Geheimidentität als Rudolph das Rentier verschleiern.

Ich streckte mich und zog eine Grimasse, als es an meiner Hüfte unangenehm knackte. Nein, ich war nicht neunzig und auf Pflegestufe fünf, sondern sechzehn mit massivem Bewegungsmangel (nicht dass ich vorgehabt hätte, etwas dagegen zu unternehmen …). Das große Handtuch um meinen Körper gewickelt, ging ich in mein Zimmer und suchte meine Unterwäsche zusammen. Ich wühlte in meinem kleinen gelben (ja, meine Mutter hatte auch hier gewütet) Bauernschrank, bis ich eine schwarze Hose und einen schwarzen Pullover mit silbernen Stickereien gefunden hatte. Im Gegensatz zu meiner Mutter war mein Motto, was Farben betraf: Je neutraler, desto besser! Denn schwarz, schwarz, schwarz sind alle meine Farben …

Kapitel 3


Ein Blick durch das Fenster neben der Haustür verriet mir, dass es immer noch regnete. Seufzend wickelte ich mir einen Schal um den Hals, knöpfte meinen Mantel zu, schulterte den mit verwaschenen Blumen verzierten Rucksack und nahm einen Regenschirm. Die Welt draußen offenbarte sich als grau, grau und noch mal grau. Und nass. Die Bäume des Waldes hinter unserem Haus wogen sich leicht im Wind. Und natürlich musste es passieren, dass ein Windstoß unter meinen Schirm fuhr und ihn nach oben stülpte. Seufz. Ein Regenschwall traf mich mitten im Gesicht. Na, wenigstens hatte ich keine Mascara drauf. Ich bog das nichtsnutzige Ding um und ging über unsere matschige Einfahrt zu dem kleinen Schuppen, an dem sich gemalte Sonnenblumen hochrankten. Ich steckte meinen Kopf durch die Tür. „Mama?“

Sie stand hinter einer Staffelei, die Augen konzentriert zusammengekniffen, die Zunge zwischen den Zähnen. Sie blickte auf. „Ano, Schatz, gibt’s was?“ „Ach, ich wollt’ nur Tschüss sagen. – Hast du einen neuen Auftrag?“ Die Aufmerksamkeit wieder völlig auf die Leinwand vor ihr gerichtet, nickte sie nur. Das würde jetzt Tage so weitergehen.

„Na dann, tschau!“

„Tschüss, Anouk-Schätzchen!“

Der Schulbus war wie gewöhnlich ernüchternd leer, na ja, ich glaube, außer mir wohnte wohl keiner im Wald. Auch das war so eine abgedrehte Idee meiner Mutter gewesen, als wir vor einem Jahr in diese niederbayrische Hinterprovinz gezogen waren. Von der Nordsee weg in ein kleines bayrisches Dorf, wo die Menschen praktisch ihre eigene Sprache sprechen. Nichts gegen Bayrisch, aber ich fand es erschreckend grausam, wenn ein gut aussehender Junge in dem extremsten Bayrisch, das man sich vorstellen kann, loslegte und dann auch noch versuchte, einen sexy Tonfall hinzubekommen. Ja, ich spreche da aus Erfahrung. Der Typ ging in meine Klasse und bei unserem ersten und einzigen Date – Gott sei Dank (!) – konnte ich nur anhand der Tonlagen und der Mimik erkennen, wann es mein Part war, empört zu nicken, zustimmende Laute und verblüffte „Ohs“ zu machen. Hans-Quirin – ja, er heißt wirklich so – fand, dass wir uns nach dieser, aus seiner Perspektive, auf beiden Seiten geglückten Kommunikation wiedertreffen sollten. Ich war da anderer Meinung. Da ich im Bereich Taktgefühl viel mit der Spezies Trampeltier gemein hatte, gab ich ihm einfach eine falsche Nummer und mied es, ihn in der Schule näher als zehn Meter ranzulassen. Ja, ich weiß, dass es fies war, ihm eine falsche Nummer zu geben und einfach so zu verduften, aber ganz ehrlich, ich war nun mal direkt, sehr direkt.

Meine Abfuhr hätte ungefähr so ausgesehen: „Nein, Hans-Quirin, ich möchte mich nicht noch mal mit dir treffen. Die Gründe sind folgende: a) Ich kann kein Wort von dem, was du sprichst, verstehen. b) Du hast Mundgeruch. c) Ich habe ich nicht vor, mein ganzes Leben auf einem Bauernhof mit lauter Landpomeranzen um mich herum zu verbringen, wie du es mir in naher Zukunft wahrscheinlich in unverständlicher Süßholzraspelei ankündigen wirst. Ich glaube, du kapierst, dass da kein zweites Treffen drin ist.“ Sein ach-so männlicher Stolz hätte danach wohl in Trümmern gelegen und er würde in die Ich-mache-Anouk-das-Leben-zur-Hölle-Phase kommen, die gleich auf die: Ich-bettel-so-lange-bis-sie-Ja-sagt-Phase folgt. Nicht, dass ich das brauchen könnte, wo ich ja hier als exotisches Wesen aus einer anderen Welt schon genug ungewollte Aufmerksamkeit bekam. Ehrlich, manchmal fragte ich mich, ob die hier keine eigenen Probleme hatten, wie zum Beispiel einen Pickel oder eine schiefgegangene Mathearbeit. Aber nein, es zählten ja die Pickel der anderen und die verhauenen Mathearbeiten der anderen. Ich seufzte. Warum mussten wir ausgerechnet hier hinziehen? Warum konnten wir nicht einfach auf Amrum bleiben, ein Ort, an den ich mich so gut gewöhnt hatte? Ich hatte mich da wirklich wohlgefühlt, abseits des Touristentrubels. Wieder seufzte ich. Meine Mutter und ich waren in meinem Leben schon so oft umgezogen, dass ich mich gar nicht mehr richtig an all die einzelnen Orte und Gesichter erinnern konnte.

Mittlerweile war der Bus zum Bersten voll. Glücklicherweise hatte sich Marie, ein stilles, ebenfalls neu hinzugezogenes Mädchen, neben mich gesetzt. So konnte Hans-Quirin mich nur vom anderen Ende des Busses mit Welpenaugen beobachten. Ich tat es Marie gleich, steckte mir meine Kopfhörer rein und verlor mich in einem Album von Milky Chance. Ich ließ meinen Blick über die schwatzende Menge gleiten. Schließlich blieb er irgendwo kleben und verharrte dort. Naiv wie ich war, achtete ich nicht darauf, wo mein Blick haften blieb, und träumte von meinem letzten Zuhause, von dem kleinen hellblauen Haus mit dem Stroh- und Binsendach, von dem Rauschen der Wellen, von dem Gekreische der Möwen … In dieses gottverdammte Kaff zu ziehen, konnte man praktisch mit dem Rausschmiss aus dem Garten Eden vergleichen. Ich seufzte. Als sich mein Blick wieder klärte, bemerkte ich, dass sich meine Augen etwas unterhalb von … oh bitte, Erde tu dich auf und verschling mich … der Mitte eines Jungen befanden. Und als ob das nicht genug wäre, musste es natürlich der Hosenstall von, na, wem sonst, Hans-Quirin sein. Zu meiner großen Beschämung hatte er mein Starren auch noch mitbekommen, und wenn ich mich nicht irrte, dann sollten die bis zum Gehtnichtmehr verzogenen Lippen wohl ein anzügliches Lächeln sein. Ich wandte den Blick rasch ab, ehe ich noch schreiend auf ihn losgehen oder aber aus dem fahrenden Bus springen würde.

 

Fünf Minuten bevor der Bus hielt, machte ich mich schon zur Flucht bereit und schoss dann mit gefühlten hundert Metern pro Sekunde aus dem Businneren. Ich scherte mich nicht um die verwirrten Blicke der anderen, das war mir komplett schnuppe; was mir allerdings nicht egal war, war, dass ein vertrottelter Junge, der mir täglich öfter Paarungssignale (igitt!) schickte, sich jetzt auch noch bestärkt in seiner Mission fühlte, mir mit der Keule eins überzubraten und mich in seine Höhle von Bauernhof zu ziehen. Mir schauderte bei diesem Gedanken und ich beschleunigte meine Schritte noch mehr.

Als ich das quadratische Backsteingebäude erreichte, drosselte ich mein Tempo auf das der anderen Kids. So unauffällig wie nur möglich mit meinen eins sechsundsiebzig in einer Herde von – aus meiner Perspektive – Liliputanern, erreichte ich mein Schließfach, wühlte darin herum, ohne zu wissen, was ich eigentlich suchte, nur um wenigstens mit der Hälfte aus dem Sichtfeld der anderen zu verschwinden. Halbherzig zog ich also meine Physikbücher aus dem Spind und schaute gerade in den Stundenplan an der Tür, als mir jemand auf die Schulter tippte. Ich hatte mich noch nicht umgedreht, da fing die Person an zu reden. Mir gelang es nur mühsam, den Reflex zu unterdrücken, in mein Schließfach zu springen und die Tür hinter mir mit einem Bunsenbrenner zu verschweißen. Also drehte ich mich zu der Quelle des platten Bayrischs um und versuchte einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren.

Anscheinend gelang es mir, denn anstatt beleidigt oder verschreckt abzuziehen, lehnte, oder besser gesagt, hing er mit der Schulter an dem Nachbarspind, die Arme vor der Brust verknotet, zwanghaft lässig grinsend. Ich unterdrückte ein genervtes Aufstöhnen und nahm mir vor, nächstes Wochenende Sprinten zu trainieren. Klar hätte ich ihm auch einfach die Wahrheit sagen können, aber sein Fanklub war einfach zu groß, um der Rache der anderen zu entgehen. Nicht dass ich davor Angst gehabt hätte, nur würde ich die Beleidigungen, die man mir dann definitiv an den Kopf werfen würde, auch gerne verstehen.

„Hi, ähm, wie heißt du noch mal?“ Ich versuchte ihn durch das Ich-kenn-dich-nicht-auch-wenn-wir-schon-ein-Date-hatten zu verschrecken. Doch anscheinend war er zu blöd, um das als Abschreckung zu verstehen. Stattdessen grinste er ein Tausend-Watt-Lächeln, sodass ich einen tieferen Einblick in seinen Mund bekam, als mir lieb war.

„I bins meine gloae Maus, da Hansi! Woasst scho! Mia hatdn doch a Date!“ Meinen entgeisterten Blick schien er als Zuspruch zu nehmen und blinzelte mir kokett zu. Mir klappte fast die Kinnlade herunter. Wie konnte man nur so empathielos sein?

Na gut, dann pass mal auf, HANSI, dachte ich grimmig, wenn du blöd sein kannst, dann kann ich das mit meinem Eins-Komma-null-Notendurschnitt auch! Also fragte ich in meinem naivsten Tonfall, den ich draufhatte: „Oh, hast du was im Auge?“, und stellte zufrieden fest, wie er verwirrt die Stirn runzelte. Als er jedoch – auf ungeschickte Art und Weise – seine Arme entknotete, doch leider nicht um einen Abgang zu machen, nein, sondern um sich in seine blond gelockten Haare zu fassen, hätte ich heulen können. Die waren wirklich umwerfend. Meine Güte, entweder hatte der Junge ein unerschütterliches Selbstvertrauen oder seine Dummheit übertraf einfach alles, was ich bisher gesehen hatte. Ich glaube eher Letzteres. „Na, Mausi, so bandelt ma hier a Madl o’.“

Ich überhörte beflissentlich das Mausi und den Rest, also eigentlich alles, und versuchte all meine Aggressionen auf die Bücher in meinem Arm zu lenken, leider nicht, indem ich sie ihm kurzerhand über sein unfassbar leeres Oberstübchen zog, sondern indem ich sie als eine Art eckigen, unnachgiebigen Antiaggressionsball benutzte.

„So, äh, ja, du, ich muss jetzt auch mal in den Unterricht. Man sieht sich.“ Das nicht fügte ich ganz still und leise in Gedanken hinzu. Ich knallte meine Spindtür laut zu, um wenigstens ein bisschen Dampf ablassen zu können. Mit einem Hauch Zufriedenheit sah ich noch, wie er den Kopf erschreckt zurückzog und mehrmals blinzelte. Doch leider hielt auch das ihn nicht auf, mir hinterherzudackeln und mir zu erklären zu versuchen, dass „mia“ zusammen Unterricht hatten. Ich machte große, überraschte Augen „Echt jetzt, wir haben zusammen Unterricht? Ich habe dich bisher gar nicht bemerkt!“ Das würde seinen Egoluftballon hoffentlich endlich platzen lassen. Und tatsächlich, meine Methode schien zu fruchten. Ich beobachtete, wie sich ein Schatten der Unsicherheit über sein Gesicht legte. Nicht, dass es mir Freude bereitete, ihn auf den Boden der Realität zu katapultieren und dabei wahrscheinlich sein ganzes Selbstbewusstsein und seine Arroganz zu zertrümmern; ich hatte einfach einen gesunden Selbsterhaltungstrieb und dieser Typ mit seinen elenden Tiervergleichen und seinem Landei-Bayrisch ging mir einfach wahnsinnig auf die Nerven.

Mein letzter Schachzug gegen das Landei war vielleicht doch nicht so gelungen, wie ich zunächst gedacht hatte, denn er hatte sich nun fest in den Kopf gesetzt, mir zu zeigen, dass wir zusammen in einem Kurs waren. Als hätte ich sein stilles Anschmachten nicht schon zwei Kilometer gegen den Wind gerochen, flogen die ganze Physikstunde Zettel zu mir herüber. Ich machte mir nicht mal die Mühe, sie aufzuheben. Himmel, Arsch und Zwirn, war der denn wirklich so dumm oder tat er nur so? Stur starrte ich an die Tafel, schrieb mit und starrte wieder an die Tafel. So verlief der ganze Schultag von acht Uhr bis um eins. Als er mir dann auch noch auf dem Parkplatz hinterherhechelte und mich seinen „siassa Hos“ nannte, platzte mir der Kragen. Ich wirbelte im Laufen herum und stoppte. Stolpernd kam auch er zum Stehen.

„Pass mal auf, Hans-Quirin! HÖR gefälligst auf, mir hinterherzurennen wie ein Küken der Henne. Ich kann dich verdammt noch mal nicht riechen und es wird sich auch nichts daran ändern, wenn du versuchst, mir wie mein Schatten überallhin zu folgen! Tu mir den Gefallen und lass mich einfach in Frieden, ja?“ Ich hatte es ja kommen sehen, aber zu beobachten, wie er immer verletzter schaute, fühlte sich dann doch sehr, sehr mies an. Ich hoffte, dass er jetzt einfach Leine zog, doch er brachte es fertig, mich mit seinen nächsten Worten in den reinsten Sprengsatz zu verwandeln. „Spatzl, i spür do, dass mia mitanand kean! Kämpfe doch ned so gegn dei Gfuie an!“

Meine Augen verengten sich und ich spürte, wie ich explodierte. Es war, als hätte ich mein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet, und all der Frust über das andauernde Umziehen, die Einsamkeit und ihn entlud sich nun wie eine Gewitterwolke.

„Ja, ich werde jetzt nicht mehr gegen meine Gefühle ankämpfen, also bitte bring mir einen Eimer, ich kotze nämlich gleich. Was ich für dich empfinde, ist nämlich Ekel, Unverständnis und Genervtsein! Kannst du dir vorstellen, wie lästig es ist, nein, wie lästig du bist? Verdammte Scheiße, lass mich einfach in Ruhe! Ich will mit dir nicht das Geringste zu schaffen haben, genauso wenig wie mit diesem verratzten Ort von Dorf! Warum kannst du dich nicht einfach vom Acker machen! Bist du zu blöd, zu engstirnig oder zu eingebildet, um ’ne Abfuhr zu kapieren? Wenn ja, dann hier noch mal extra für dich zum Mitschreiben: ICH WILL MEINE RUHE HABEN! Such dir ein Mädchen, das deine Sprache spricht!“