Meine weisse Stadt und ich

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Meine weisse Stadt und ich
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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Seit ich in Bern lebe

Die einleitende Frage

Die Frage, die an ­meinen Grundfesten rüttelt

Persönliche Probleme bei der ­Beantwortung der Frage

Jetzt philosophiere ich ein wenig

Warum ich nicht nach Paris ­gegangen bin

Der ernstere Teil

Ein Kapitel, das dem Leser die Unvoreinge­nom­men­heit des Autors vermitteln soll

Warum ich Amsterdam verlassen habe

Warum ich Deutschland verlassen habe

Woran ich unterwegs dachte

Bern

Auf der Suche nach einem Zimmer

Noch immer auf der Suche nach einem Zimmer und warum

Alle, Männer, Frauen, Kinder, Hunde, ­Katzen und andere Tiere, egal ob Wild- oder Haustiere, starren mich an – die ganze Zeit!

Fortsetzung des kurzen Dialogs, der vom vorigen Kapitel unterbrochen wurde

Einige allgemeine ­Veränderungen in meiner Einstellung als Ergebnis meiner ersten Erfah­rungen mit den Bernern

Was in der Thun­­straße geschah

Kirchenfeld

Ich verlasse die ­Thunstraße

Meine neuen Vermieter

Das öffentliche Leben

Und dieses Thema hat eine weitere ­beun­ruhigende Variante

Herzen und Steine: ­Einleitung

Herzen und Steine, die Fortsetzung oder: Eine Barballade

Das Radio

Wodurch ich auf Ideen kam, die meine empfindsame Sicht der Dinge erschütterten

Und was hatten sie dazu zu sagen?

Was in den folgenden Wochen passierte

Paris zum Zweiten

Warum ich deprimiert war und ins Elend stürzte

Die folgenschwere ­Entscheidung

Wie ich das ­Kirchenfeld verließ

Das neue Zimmer

Warum ich nicht arbeitete

Ein Porträt des Sarkasmus als Teilzeitjob

Das Rendez-vous

Die Mädchen, die in den Tea Rooms arbeiten,

Warum die Herren so empfänglich sind

Warum die hübschen ­jungen Leute nicht heiraten

«Aber warum lernen nicht mehr ­Männer und Frauen, die unter solch ­unglücklichen ­Umständen heiraten, sich zu lieben und sich ­aneinander zu gewöhnen – ­gemeinsam?»

«Diese Erklärung kann unmöglich auf alle Berner zutreffen!»

Jetzt höre ich Sie sagen,

Ein Essay über menschliches Verständnis

Was der Tag bringt

Topografie

Flora und Fauna

Die Stadt

Der Hang, sich übertrieben dick ­anzuziehen, beispielsweise

Die Schweizer ­«Bewegung»

Die wichtigsten ­Wörter des Schweizer ­Vokabulars

Trotzdem kann ich es nicht oft genug wiederholen

Die Schweiz ist neutral

Eine fingierte kleine Geschichte der Schweiz, die vieles auf den Punkt bringt und sich von Skeptikern und ­Pedanten durch die Lektüre einer ­offiziellen­Geschichte der Schweiz ­überprüfen ließe, was ich mit Sicherheit noch nie getan habe und ­wahr­scheinlich auch nie tun werde

Eine interessante Auswirkung, die ­dieser Umstand auf Frauen hat

Eine interessante Auswirkung, die dieser Umstand auf das Konzept der Nächstenliebe hat

So wie ich Willis James meine ­Bonbons ­schenkte, als ich ein ­kleiner Junge war

Eine interessante Auswirkung, die dieser ­Umstand auf die Kunst hat

… die meisten Schweizer Künstler die Schweiz ­verlassen, um berühmt zu werden

Aber warum rege ich mich so darüber auf

… bei dessen Auftritt etwas Merkwürdiges ­geschah

Eine Zehn-Zeilen-Kadenz

«Abenddämmerung …»

Ich blickte erneut auf die Stadt

Warum ich mir beim ­Anblick der Stadt vom Hügel der Schosshalde aus Sorgen machte

Nach dem «negativen» ein «positives» Ereignis:

Und kurz darauf ein ­«posi-negatives» Ereignis:

Dann zupfte die ­goldene Ironie wieder an meinem Ärmel

Das Tram nach Wabern,

Eine Parabel

Eine weitere Parabel

Und dann, ein ­Teils-teils-Erlebnis

Vor meinen Augen verwandelte sich die Stadt ständig in etwas anderes!

Der Plan

Und ich sann über ein paar banalere Alternativen nach

Ich hatte an den Vorschlag gedacht

Eine Botschaft an ­General Guisan

Es ist so leicht wie eins, zwei, drei Black Bern Martin Bieri

 

«A city whiter than any American city I know of»

«A mere thought of myself»

«The world is white no longer»

Über dieses Buch

1944/45 hatte er als umjubelter GI Europa befreit; als er Jahre später wiederkommt, um sich in Paris als Schriftsteller niederzulassen, will man ihm nicht mal ein Zimmer vermieten. 1953 lässt er sich in Bern nieder, wo er als Schriftsteller und Englischlehrer arbeitet. Verlässt er das Haus, ist er jederzeit auf die ihm verhasste Frage gefasst: Warum bist du nach Bern gekommen?

Und so macht sich Carter in seinem Buch auf, diese Frage, die an seinen «Grundfesten rüttelt», zu bewältigen. In immer neuen Anläufen erzählt er, warum er nicht in Paris, Amsterdam oder München geblieben ist, erzählt Kindheitserinnerungen aus Kansas City und vor allem von Begegnungen in Bern, wo ihn alle anstarren – Männer, Frauen, Kinder, Hunde, Katzen … –, von Geldsorgen, Liebesgeschichten, Reisen, Wohnungssuche. Mit so unzerstörbarem Humor wie hartnäckigem Engagement und voller Ambivalenz geht er dem Rassismus auf den Grund, der Verschiedenheit der Menschen, dem Fremdsein des Individuums in der Gesellschaft. Und ganz nebenbei zeichnet er ein scharf beobachtetes Porträt seiner Zeit, seiner Gesellschaft und seiner Stadt.


Foto Staatsarchiv des Kantons Bern, FN Baumann 229

Vincent O. Carter (1924–1983) wuchs in bescheidenen Verhältnissen in Kansas City auf. 1944 wurde er in die US-Armee einge­zogen und war in Frankreich stationiert. Zurück in den USA, studierte er mit Un­terbrüchen, in denen er als Koch bei der Union Pacific Railroad und in Detroit in einer Automobilfabrik arbeite­te. Danach kehrte er nach Europa zurück und liess sich nach Aufenthalten in Paris, Amsterdam und München 1953 in Bern nieder, wo er Radiosendungen schrieb und moderierte, Englisch unterrichtete, malte und meditierte.

Pociao studierte Anglistik und Germanistik, Aufenthalte in London und New York, gründete einen eigenen Verlag. Sie übersetzte u. a. Paul und Jane Bowles, Gore Vidal, Zelda Fitzgerald, Patti Smith und Evelyn Waugh. 2017 gewann sie den DeLillo-Übersetzungswettbewerb.

Roberto de Hollanda wuchs in Südamerika und Europa auf, studierte Politikwissenschaften und Soziologie, schreibt Drehbücher, macht Dokumentar­filme, übersetzte u. a. Gonzalo Torrente Ballester, Rodrigo Rey Rosa und Kent Haruf.

Vincent O. Carter

Meine weiße Stadt und ich

Das Bernbuch

Aus dem amerikanischen Englisch

von pociao und Roberto de Hollanda

Nachwort Martin Bieri

Limmat Verlag

Zürich

Für meine Mutter und meinen Vater, denen ich viel zu selten geschrieben habe

Vorwort

Ich habe keineswegs die Absicht, aus meinem Material ein Buch zu machen, Fakten und Eindrücke zu verändern, deren Erwerb mich so viel Mühe und Arbeit gekostet hat, um in den heiligen Gefilden der Kunst zu wildern. Ich möchte ledig­lich einige starke Gefühle zum Ausdruck bringen, die mein Leben so sehr verändert haben, dass ich weder verzweifelt noch optimistisch, sondern ganz realistisch sagen kann, dass ich nie mehr derselbe sein werde. Die Veränderungen, von denen ich spreche, begannen natürlich mit dem Leben selbst. Die Spannungen, die sie erforderlich machten, waren der «Zeit» und dem «Ort» meiner Geburt geschuldet. Hätte sich dasselbe Ereignis in China oder, sagen wir, in Schweden ereig­net, wäre meine Lage eine andere. Hätte ich blondes statt schwarzes Haar, wäre eine völlig andere Geschichte entstanden. Selbst wenn ich ein echter Afrikaner wäre, gerade aus Nigeria eingetroffen, wo meine Vorfahren zur Welt kamen, wie ich glaube (denn ich habe Holzschnitzereien und Elfenbeinfiguren von Leuten gesehen, die von dort kamen und große Ähnlichkeit mit mir haben), würde mein Lied in einer anderen Tonart oder ganz sicher in einem anderen Tempo gesungen. Vor hundert Jahren hätte ich dieses «Buch» vermutlich gar nicht erst geschrieben.

Andererseits ist der kleine Aspekt der Wahrheit, den ich aus meinen Erfahrungen mit anderen Menschen in anderen Ländern gewonnen habe, wahrscheinlich ganz ähnlich, wenn nicht sogar identisch mit dem, was ich möglicherweise gefunden hätte (vorausgesetzt, Wahrheit ist Wahrheit), wenn ich ihn aus einem der oben genannten Umstände abgeleitet hätte. Denn es ist mir klar geworden, dass die potenziellen Handlungen meines Lebens – meine Probleme und Illusionen – gleichsam in die Grenzen meiner Zeit eingebettet sind und diese sich von anderen Epochen der Menschheitsgeschichte nur in punkto Dimension unterscheiden, weil Menschen in allen Zeitaltern und unter allen Gegebenheiten grundsätzlich gleich sind.

Zwar habe ich das fast immer behauptet, aber nicht immer geglaubt. Als Folge einer «rein intellektuellen» Berechnung habe ich versucht, mich von der Gültigkeit der soeben gemachten Feststellung zu überzeugen, wohl wissend, dass mein sogenanntes «Verständnis» nichts anderes war als ein Ausdruck des Glaubens an die abstrakte Hoffnung, dass in der Welt eine Art von Gerechtigkeit vorherrscht, die wir euphemistisch als «poetisch» bezeichnen.

Die Veränderungen in der Einstellung, mit denen ich mich in diesem «Buch» hauptsächlich beschäftige, sind also die Folgenden: der Übergang von dem Geisteszustand, in dem ich mich als von Natur aus anders als andere («weiße») Menschen betrachte, zu einem Zustand, in dem dieser Unterschied verschwand, nur um dann peinlicherweise in Form einer neuen und subtileren Illusion wieder aufzutauchen, nämlich der Illusion von mir selbst als ein von allen anderen unterscheidbares Wesen, und der weitere Übergang in eine Verfassung, in der meine neu entdeckte Besonderheit (die ich hegte und pflegte) sich als die größte aller Illusionen erwies und ich mir schließlich (allerdings nur in seltenen visionären Momenten) lediglich als Bewusstseinszustand offenbart wurde, als bloßer Gedanke von mir selbst, ein Umstand, den ich mit allen anderen Wesen im Universum teilte!

Diese Erkenntnis, so glaube ich, wurde durch meine Reisen befeuert. Schauplatz meiner partiellen (und nach wie vor nicht abgeschlossenen) Metamorphose ist die Stadt Bern – das Objekt, auf das ich meine Aufmerksamkeit richtete und dem ich die fragmentarischen Eindrücke verdanke, die ein Licht auf meine Identität werfen. Es ist also im Wesentlichen ein Reisebuch. Doch da ich die Relativität von «Zeit» und «Ort» geltend gemacht und das erlebende «Ich» auf einen Bewusstseinszustand reduziert habe, muss dies vor allem als Aufzeichnung einer Reise des Geistes angesehen werden. Keinesfalls soll der Eindruck erweckt werden, dass ich mit diesem Buch eine sozialwissenschaftliche Studie der Stadt Bern oder der Schweizer Nation erstellen wollte, denn diese gewaltige Aufgabe wurde bereits von anderen durchgeführt, deren Interesse in diese Richtung ging.

VOC

Seit ich in Bern lebe

Egal, ob ich im Mövenpick oder im Casino bei einem Glas Wein die Zeit vertrödele oder mit Freunden zu Abend esse, selten vergeht eine Woche, in der mich nicht jemand, den ich gerade erst kennengelernt habe, mit einem Schwall von Fragen konfrontiert. Mit den meisten komme ich ziemlich gut zurecht. Er fragt: «Ist dir nicht kalt?», wenn es Winter ist und: «Bist du nicht froh, dass die Sonne scheint?» – wenn sie tatsächlich scheint, was leider nur selten vorkommt. Im ersten Fall antworte ich: «Ja», und im zweiten: «Und ob!» Sie fragt: «Seit wann bist du denn schon in der Schweiz?»

«Oh, jetzt sind es ungefähr dreieinhalb Jahre …», sage ich.

«So lange!», ruft sie aus, und ich versuche, so überrascht zu lächeln, wie es für ihren Ausruf gerechtfertigt erscheint.

Bei weniger günstigen Gelegenheiten fragt Es misstrauisch, mit nervös zuckendem Mund oder einem Lächeln, das so etwas wie eine halbwegs schüchterne Entschuldigung sein könnte: «Wie gefällt es dir denn hier?» Ich halte kurz inne, um die Spannung zu steigern, und das Lächeln verstärkt sich. «Oh … ganz gut …», kommt es aus meinem Mund, als würde Er, Sie oder Es die erwartete spöttische Bemerkung abtun, noch ehe ich sie ausgesprochen habe.

Danach plätschert das Gespräch noch eine Weile weiter, doch entgeht mir nicht, dass mein Gesprächspartner unzufrieden ist. Er ist selten oder noch nie einem echten schwarzen Mann begegnet. Er hat jedoch viel gehört und sich viel gewundert. Er kennt Negrospirituals, hat den einen oder anderen gehört und ist ein glühender Jazzfan. Er mustert mich so unauffällig er kann und vergleicht den klaren eindeu­tigen Eindruck vor seinen Augen mit all den Bildern, die er in seinem bisherigen Leben gesehen oder gehört hat. Schließlich riskiert er eine weitere Frage:

«Bist du Musiker?»

«Nein», erwidere ich – frostig.

«Student?», bohrt er weiter und registriert jetzt auch meine uralte Aktentasche, ohne die er mich nur selten gesehen hat.

«Nein, ich bin kein Student», antworte ich leicht gereizt, aber nicht wirklich unfreundlich. Das ist mir schon oft passiert. Ich bin nur gereizt, weil mir langsam die Fantasie ausgeht und ich befürchte, dass ich meine Geschichte nicht interessant genug erzählen kann. Er ist so neugierig, erwartet offensichtlich so viel, so viel mehr, als ich ihm jemals bieten könnte. Das macht mich traurig.

«War bloß so ein Gedanke. Die Stadt ist ja voll von Medi­zin­studenten.»

«Oh, nein … nein …», entgegne ich mit einem unbehaglichen Lächeln, weil ich das Gefühl habe, dass ich ein bisschen schroff war. Dass ich alles nochmal durchmachen und mir den Kopf zerbrechen muss, um einen anderen Weg zu finden, es ihm zu sagen, und da ich keinen finde, leide ich jetzt selbst, weil er nicht einfach direkt danach fragt.

Das Gespräch plätschert weiter vor sich hin. Er hofft, auf Umwegen dahinterzukommen, denke ich, gerührt von seiner Diskretion. Aber ich will auch nicht selbst indiskret werden, indem ich freiwillig Informationen rausrücke, um die er mich nicht gebeten hat.

«Wie gefällt dir Bern?», fragt er, als das Gespräch zu verebben droht. «Oh, ganz gut», antworte ich, ein wenig dankbar, dass wir endlich zur Sache kommen. Mittlerweile hat er mitbekommen, wie ich mich mit einem der jungen Männer, die an unserem Tisch sitzen, für morgen um zwei Uhr verab­redet habe. Bevor er sich verabschiedete, hatte er zehn Uhr vormittags vorgeschlagen, das Treffen dann aber auf zwei Uhr nachmittags verlegt. Er hatte vergessen, dass er um zehn ein Seminar hat. Nachmittags um zwei sind fast alle Leute in Bern bei der Arbeit.

«Du scheinst ja viel Freizeit zu haben», bemerkt mein neuer Bekannter und lächelt nervös. «Hast du ein Glück, dass du nicht ins Büro musst.» Er meint zum Arbeiten.

«Ich kann ja nicht nur schreiben!», sage ich schließlich.

Da leuchtet sein Gesicht plötzlich auf.

Schreiben? Was schreiben?, höre ich ihn für den Bruchteil einer Sekunde denken; dann fragt er: «Bist du Journalist?»

«Nein», sage ich.

«Er schreibt Geschichten!», erklärt der Freund, der ihn mir vorgestellt hat, ein bisschen ungeduldig. An diesem Punkt zünde ich meine Pfeife an und versuche, mir einen Anfang auszudenken, denn gleich wird die Frage kommen, die ich nicht mag, weil sie so schwer zu beantworten ist. Trotzdem bin ich dankbar für die kurze Zeit, die mir die Beantwortung dieser Frage schenken wird, denn die danach wird an meinen Grundfesten rütteln!

Die einleitende Frage

«Was sind das für Geschichten?» Er klingt wie ein Zollbeamter, der ein verdächtiges Gepäckstück kontrolliert. Er hat nie oder nur selten davon gehört oder gar selbst einen Schwarzen getroffen, hegt aber den leisen Verdacht, dass es welche geben muss, die schreiben. «Was für Geschichten schreibst du?»

Ich hole tief Luft.

«Ach … ich – also, das weiß ich eigentlich selbst nicht. Schwer zu sagen.»

Er lächelt spöttisch. Ich hole erneut Luft, überlege, wie ich präziser werden könnte, und verlagere mein Gewicht von der rechten auf die linke Gesäßhälfte.

«Liebesgeschichten?»

«Äh, nein – eher nicht … Aber natürlich kommt gelegentlich auch Liebe vor. Schließlich ist Liebe … Ich meine, die Men­schen haben …»

«Psychologische?»

«Ganz bestimmt! Menschen haben psychologische Aspekte, nicht wahr? Trotzdem, ich kann wirklich nicht sagen …»

 

«Philosophische?»

«Jede Geschichte hat irgendwas Philosophisches. Klar! Aber …»

«Was schreibst du denn dann?»

«Nun, ich versuche, eine Geschichte zu schreiben, in der jemand ein bestimmtes Problem hat. Und dann einen Zusam­menhang zwischen ihm und – meiner – und einer allgemeinen moralischen Überzeugung herzustellen.»

«Universell.»

«Was?»

«Zeitlos.»

Ich hole tief Luft.

«Das Problem, du meinst …»

«Schreibst du für eine Zeitung?»

«Nein.»

«Zeitschriften?»

«Ich schreibe für niemanden … außer für mich. Das heißt, ich schreibe die Geschichte erst mal auf und versuche sie dann zu verkaufen, egal an wen.»

«Hast du schon was veröffentlicht? Ich würde gern etwas schreiben, das du gelesen hast –»

«Du meinst lesen?»

«Würde ich gern …»

«Du meinst, etwas lesen, das ich … Ich habe aber nichts. Nicht viel. Eine Geschichte. Ich habe eine kleine Geschichte veröffentlicht – nicht mal allzu gut – in der Annabelle …»

«Wo?»

«Annabelle. Letztes Jahr …»

«Krimi?»

«Nein, es war eine Liebesgeschichte.»

«Also doch …»

«Nicht exakt eine Liebesgeschichte. Aber es kam Liebe drin vor.»

«Wie …»

«Sie handelte von einem weißen Mädchen und einem schwarzen Jungen. Sie gingen aufs selbe College.»

«Amerikanische Demokratie!»

Ich atme tief durch.

«Ich habe ein paar Sendungen für das Radio gemacht.»

«Wo?»

«Radio Bern.»

«Wann?»

«Seit ich hier bin. Die letzte lief Weihnachten vor einem Jahr.»

«Davon hab ich nie was gehört.»

«Hörst du denn Radio Bern?»

«Sottens. Es hat ein besseres Programm … Schade. Ich würde gern etwas schreiben, das du gelesen hast …»

Während er mich mustert, fahre ich mir mit dem Handrücken über die Stirn. Sieht gar nicht wie ein Schriftsteller aus, denkt er: Ich fühle es. Und dann, wie sehen Schriftsteller denn aus? Er kneift die Augen zusammen, als würde er mich jeden Moment nach meinem Pass fragen. Ich starre zurück und fühle mich wie eine Hure in einem holländischen Puff.

Dann sehe ich, wie sich sein Gesicht verändert. Die große Ader, die seine Stirn in zwei ungleiche Hälften teilt, schwillt an und pocht so heftig, als würde sie jeden Augenblick durch die Haut platzen. Ich kann buchstäblich sehen, wie er seine Fantasie anstrengt, um die neue Vorstellung, mit der ich ihn konfrontiert habe, mit mir in Einklang zu bringen. Es kommt mir vor, als würde er mich wie ein Puzzlestück aus dem Rahmen seiner bisherigen Auffassung des Universums herauslösen und erst auf diese und dann auf jene Weise in sein Bild von einem Schriftsteller einfügen. Er kämpft mit Goethe, Rilke, Gotthelf, Harriet Beecher Stowe und mir. Plötzlich huscht ein wilder, ja ekstatischer Ausdruck über sein Gesicht. Er zeigt mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf mich, als würde ein befreiter Teil seines Bewusstseins einem unterjochten Teil den erschütternden Widerspruch seiner gesamten augenblicklichen Erfahrung vor Augen führen. Dann fällt der Arm schlaff herab und seine Augen werden trüb und leblos, überwältigt von der Anstrengung, die er aufbringen musste, um seinen Standpunkt zu verändern. Doch nur für einen Augenblick, denn jetzt kommt es mir vor, als hätte er das alte Problem beiseitegeschoben, als würde sein Ausdruck nun durch ein neues Problem wiederbelebt. Meine Brust schwillt an vor Schreck. Gleich wird er mir die verhasste Frage stellen, ich weiß es! Die Frage, die mich seit dreieinhalb Jahren zweimal im Monat ein-, zwei-, manchmal auch viermal pro Woche umbringt.