Von der Freiheit des Migranten

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Von der Freiheit des Migranten
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Der Autor

Vilém Flusser, geboren 1920 in Prag, 1991 bei einem Verkehrsunfall nahe der tschechisch-deutschen Grenze gestorben, floh 1940 vor den Nazis nach London und wanderte kurze Zeit darauf mit seiner späteren Frau Edith nach Brasilien aus. Bis 1972 blieb er in São Paulo, wo er zuletzt als Professor für Kommunikationsphilosophie lehrte. 1972 ging er nach Europa zurück und ließ sich schließlich in der Provence nieder, verbrachte dort zuletzt aber nur noch die Hälfte des Jahres. Die andere Hälfte war der gefragte und streitbare Redner unterwegs, um Einladungen zu Vorträgen und Symposien zu folgen, die ihn in die ganze Welt, bevorzugt aber in den deutschsprachigen Raum führten.

Die Texte des Bandes wurden zusammengestellt von Stefan Bollmann.

Vilém Flusser

Von der Freiheit des Migranten

Einsprüche gegen den Nationalismus


© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020

© 2000 Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin/Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign

eISBN 978-3-86393-558-0

Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-041-7

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im

Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Vorwort

Vilém Flusser und die Freiheit des Denkens

von Maria Lília Leao

Von der Freiheit des Migranten

Nationalsprachen

Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit

Für eine Philosophie der Emigration

Um entsetzt zu sein, muß man vorher sitzen

Planung des Planlosen

Wohnwagen

Vom Gast zum Gastarbeiter

Nomadische Überlegungen

Häuser bauen

«Wie schön sind deine Zelte, Jakob»

Er-fahrung

Wiedervereinigung oder Vernetzung

Gibt es die französische Nation noch immer?

Ein aktuelles Thema

Barbareneinfälle

Exil und Kreativität

Anhang

Brief an Linda Reisch und Peter Glotz

Vilém Flusser im Gespräch mit Patrik Tschudin

Nachweise

Vilém Flusser und die Freiheit des Denkens

von Maria Lília Leao

In der «Phase des Lebens, in der sich der Geist endgültig bildet», lernte ich Vilém Flusser kennen: eine eindrucksvolle menschliche Gestalt, eine von jenen, die im Kern unserer Persönlichkeit einen prägenden Eindruck hinterlassen.

Flusser liebt die Herausforderung, die hautnahe intellektuelle Auseinandersetzung, die er selbst auslöst, fast im Gestus eines Initiationsritus. «Ein Markstein der deutschen Kultur», «eine philosophische Respektlosigkeit, von Plato bis Wittgenstein» – das waren zwei diametral entgegengesetzte Kritiken, die in Hamburg anläßlich eines Seminars über sein Buch Für eine Philosophie der Fotografie formuliert wurden. Flusser lachte laut heraus beim Schildern der Szene, ein typischer Zug dieses wahrhaftigen Homo ludens, eines jüdisch-tschechisch-brasilianischen Macunaíma. *

Bei einem seiner Aufenthalte in São Paulo hörte ich ihn zu dem Thema «Text und Bild» sprechen. Die Sätze, destilliert aus der Strenge von Vernunft und Leidenschaft – nur wenige konnten das so amalgamieren wie Flusser –, waren wie Peitschenhiebe, die uns aus der Lethargie aufrüttelten, zu der uns ein lärmendes Zeitalter verdammt; er wollte unbequem sein, damit keiner die Illusion hegen könne, man sei nicht verantwortlich, und es lohne sich nicht, über alles immer wieder neu nachzudenken.

Flusser veranlaßt immer zum Denken. Und Denken tut weh. Er hat sich nicht verändert, unser Freund und Philosoph; er bemüht sich weiterhin, das Nachdenken für uns zur lebenswichtigen Nahrung werden zu lassen, zur körperlichen Geste des Seins, zum erotischen Vergnügen. Es gibt keinen Zweifel, daß für ihn der ganzheitliche Mensch das denkende Wesen ist.

Als wir ihn kennenlernten – ich spreche von einer Gruppe junger Universitätsleute in den sechziger Jahren, einer Generation, die den Gestus eines lockeren intellektuellen Umgangs mit der Angst kultivierte und deren Ironie noch nicht gänzlich abgeglitten war –, waren wir alle in der großen Leere der Sinnsuche versunken. Flusser, der Fremde in der Welt, vaterlandslos par excellence, von vielen als der «genuine Philosoph Brasiliens» angesehen, sollte an allem teilnehmen und alles fördern. Aber bald stellte sich eine subtile Dialektik zwischen seinem Engagement in der brasilianischen Kultur und unserer Distanzierung von eben diesem gemeinsamen Hintergrund ein.

Wir Migranten sind die Fenster, durch die die Einheimischen die Welt sehen können.

Sollte er für uns dieses Fenster sein?

Ein tieferes Geheimnis als dasjenige der geographischen Heimat ist das der Suche nach dem anderen. Die Heimat des Heimatlosen ist der andere.

Sollten wir für ihn diese Heimat sein?

Philosophisch war die intellektuelle Jugend Brasiliens von Sartre, Camus und anderen Existentialisten geprägt, obwohl die große Mehrheit keinen freien Zugang dazu hatte (und auch heute noch nicht hat). Unsere Gruppe jedoch war privilegiert: Wir gingen im Haus von Flusser aus und ein. Da strömten die Wirbelstürme, Winde und Brisen der philosophischen Welt zusammen, auf Gesellschaften, die ganze Wochenenden dauerten, und auf denen immer wieder Anatol Rosenfeld, João Guimarães Rosa, Milton Vargas, Mira Schendel, Samson Flexor, Vicente und Dora Ferreira da Silva auftauchten. Für uns Jungen und Mädchen entpuppte sich Flusser als «peripatetischer» Lehrer (obwohl er immer auf seinem Stuhl im Wintergarten in der Tiefe seines Hauses im Jardim America saß, eingehüllt in eine Wolke von Rauch aus seiner unvermeidlichen Pfeife). Nichts kann die ersten Schritte einer solchermaßen gelehrten und übermittelten Philosophie behindern: Paideia, aufgebaut auf dem konkreten Boden des Umgangs mit einem lebenden Existenz-Modell. All das formte unsere Köpfe und ist heute in unseren jeweiligen Kontexten wirksam. Ein klassischer Fall des mächtigen Einflusses des intellektuellen Patriarchen, so wird man sicher sagen. Einige, die das Gewicht dieser starken Information nicht ertragen konnten, leugnen sie heute, flüchten sich in die tückischen Gesänge des Unbewußten und entziehen sich der Konfrontation. Erinnert Flusser in dieser Hinsicht nicht ein wenig an Freud? Wie dieser – subversiv, Jude, Emigrant – wurde er vom akademischen Establishment nicht angenommen, und doch rief er Zuneigung und Abneigung und eine Schar von schmerzlich stigmatisierten Schülern hervor.

Während der 31 Jahre, die er unter brasilianischen Umständen lebte, entwickelte Flusser seine Art zu denken mit einer Kraft und einer Originalität, die einen seiner unverwechselbaren Züge ausmachen – was ihm ein mystifiziertes Bild eintrug und sogar die Gelehrten, die häufig mit ihm fochten, aus der Fassung brachte.

Wie Nietzsche, Kierkegaard und viele andere nahm sich Flusser nicht vor, ein philosophisches System aufzubauen. Sein Denken ist ein großzügiges fließendes Gewebe, gewoben aus alten und neuen Maschen, im Vertrauen auf die Kette, die die Sprache bildet – das Haus des Seins, wie sie Heidegger nennt. Seine Vertiefung in die verschiedenen Strömungen der Phänomenologie brachte ihn zur Sprachphilosophie, der er viele Aufsätze, Bücher und Vorlesungen widmete. Schließlich wurde ihm sogar die Kolumne «Posto Zero» in der Tageszeitung Folha de São Paulo eingerichtet, wo er von 1969 bis 1971 eine Art phänomenologische Analyse des brasilianischen Alltags vorführte.

Wenn Flusser schreibt, und er tut es mit der Leichtigkeit des Atmens, übersetzt und rückübersetzt er denselben Text in die Sprachen, die er beherrscht: Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Französisch.

 

Max Planck sagt in seiner Autobiographie, daß für die Entstehung eines originalen Gedankens zwei Bedingungen gegeben sein müssen: daß der «Schöpfer» dieses Gedankens frei ist und daß eine ganze Generation ausstirbt; denn erst die nächste wird in der Lage sein, ihn zu verstehen. Die Zeitgenossen sind festgelegt und versklavt, deshalb erschrecken sie vor dem Neuen. Das ist, kurz gesagt, Flussers Sünde: das Neue zu denken und dazu frei zu sein. Jeder, der in Kontakt mit seinen Ideen kommt, merkt, wie sehr sie mit dem in Beziehung stehen, was ihm täglich widerfuhr. Er kann sich nicht auf die Grundlagen seines Denkens beschränken, weil es ständig mit Fakten, welcher Art auch immer, konfrontiert wird. Die Fähigkeit, die Welt scharf zu beobachten und die Aktualität zu erfassen, wobei er beides durch klassische Konzepte filtert und eigene Konzepte entwickelt, machen Vilém Flusser zum Denker unserer «posthistorischen» Epoche. Es ist genau dieses Zusammenstimmen der Beobachtung der Fakten mit der darauf aufbauenden Reflexion, die uns den Eindruck des Wahrhaftigen vermittelt.

Was fehlt noch, damit dieser Eindruck zur Wahrheit führt? Isaías Kirschbaum antwortet: Erst die Zustimmung vergibt den Wahrheitsstempel.

Die Migration ist eine kreative Situation. Und eine schmerzhafte. Wer die Heimat verläßt (aus Zwang oder aus freier Wahl, und beides ist schwer zu unterscheiden), leidet. Denn tausend Fäden verbinden ihn mit der Heimat, und wenn diese durchschnitten sind, ist es, als hätte ein chirurgischer Eingriff stattgefunden. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder als ich die mutige Entscheidung traf zu fliehen), durchlebte ich den Zusammenbruch des Universums. Ich verwechselte mein Inneres mit der Welt da draußen. Ich litt unter dem Schmerz der durchschnittenen Fäden. Aber dann, im London der ersten Kriegsjahre und beim Vorahnen der Schrecken der Lager, begann ich, mir darüber klar zu werden, daß es nicht die Schmerzen eines chirurgischen Eingriffs waren, sondern die einer Entbindung. Ich merkte, daß die durchtrennten Fäden mir Nahrung zugeführt hatten und daß ich jetzt in die Freiheit geworfen war. Ich wurde vom Schwindel der Freiheit erfaßt, der sich darin zeigt, daß sich die Frage «frei wovon?» in die Frage «frei wozu?» verkehrt. Und so sind wir alle Migranten: Wesen, die vom Schwindel ergriffen sind.

Vilém Flusser hat uns etwas zu sagen. Etwas, um uns zu beunruhigen. Seien wir frei, ihn zu hören. Und nehmen wir frei das Recht zu denken wahr.

* Macunaíma, o Herói sem Nenhum Caráter (Macunaíma – der Held ohne jeden Charakter) ist der Titel des berühmtesten Romans des brasilianischen Schriftstellers Mário de Andrade.

Nationalsprachen

Längst totgeglaubte Ungeheuer beginnen, sich im befreiten Osteuropa zu recken und zu strecken. Als ob nach jahrzehntelanger Vereisung die Drachenbrut des Nationalismus aus ihren Sauriereiern schlüpfen wollte, um sich in der Sonne des freien Marktes zu tummeln. Albanier in Kosovo, Ungarn in Transsilvanien, Armenier in Georgien werden umgebracht (und bringen wohl auch um), weil sie eine andere Sprache als jene ihrer Mitbürger sprechen. Und das ist nichts als zögernde Einleitung zu weiterem linguistisch fundiertem Gemetzel. Die Sache wäre unglaublich, hätte sie nicht Präzedenzen. Man würde meinen, Linguisten (Sprachtheoretiker und -praktiker) seien vonnöten, um diese Schlangenknäuel zu entwirren. Die Präzedenzen zeigen jedoch, wie hoffnungslos derartige linguistische Interventionen sind, selbst wenn sie sich selbst «Esperanto» nennen. Der vorliegende Aufsatz hat vor, darüber nachzudenken, warum übernationale Sprachen (nicht nur Zamenhofs «Esperanto», sondern auch «Interlingua» eines so gewaltigen Denkers wie Peano es war) scheitern müssen.

Angenommen, alle Leute würden überall die gleiche Sprache sprechen. Das würde voraussetzen, daß sie einander nichts Neues zu sagen hätten. Denn wo immer irgend etwas gesagt wird, das vorher noch nicht ausgesprochen wurde, dort verändert sich entweder der Wortschatz (neue Worte werden geschaffen), oder die Syntax (neue Sprachregeln entstehen); oder beides. Die Folge ist, daß an jenen Stellen, wo etwas Neues gesagt wird, Sprachveränderungen vor sich gehen, die sich langsam in der Gegend verbreiten, und sehr bald (in weniger als einer Generation) wird die Universalsprache in eine Reihe von einander zwar überschneidenden, aber doch sich verzweigenden Untersprachen zerfallen. Dagegen ist einzuwenden, daß es in der Vergangenheit Universalsprachen gegeben hat, die sich über viele Generationen hindurch als solche erhalten haben. Etwa die Koine im Hellenismus, das Kirchenlatein im Mittelalter oder Französisch im 18. Jahrhundert. Vorher scheint Aramäisch für lange Zeit diese Rolle gespielt zu haben, und gegenwärtig ist die englische Sprache als eine Art Koine anzusehen. Der Einwand ist jedoch nicht gültig. Derartige Universalsprachen ersetzen nicht die Nationalsprachen, sondern sitzen über ihnen, und sie dienen nicht dem Ausarbeiten neuer Informationen, sondern dem Übertragen von Informationen, die in den einzelnen Nationalsprachen ausgearbeitet wurden.

Aber man muß unter dem Begriff «Sprache» nicht unbedingt jenen Code verstehen, der aus «Phonemen» besteht, also aus Lauten, die wir mittels Zunge, Zähnen und Gaumen erzeugen. Es wird ja auch von Zahlensprachen, filmischen Sprachen, musikalischen und bildnerischen Sprachen, und vor allem von Computersprachen geredet. Und derartige Sprachen laufen ja quer über die Grenzen der Nationalsprachen und kümmern sich nicht um diese Grenzen. Nur gilt für solche Sprachen noch stärker, was oben von den Universalsprachen behauptet wurde. Sobald in ihnen neue Informationen ausgesagt werden, beginnen sie sich zu verzweigen und zu verzetteln. Komplexe mathematische Sprachen entstehen, die nur von wenigen Spezialisten «gesprochen» werden können – Beethovens Sprache ist eine andere als Mozarts, in den bildenden Künsten herrscht eine babylonische Sprachverwirrung, und das Problem der «Kompatibilität» der einzelnen Computersprachen untereinander wird trotz Esperanto-artigen Interventionen immer vertrackter. Was immer man mit dem Begriff «Sprache» meinen möge, ob «langue» oder «langage», jede Art von Universalsprache ist dazu verurteilt, bedeutungslose Aussagen zu machen (leerem Gerede zu dienen). Das ist am deutlichsten an der einzigen tatsächlich konsequenten Universalsprache, nämlich jener der symbolischen Logik, ersichtlich: Sie ist dafür gemacht, um leere Aussagen (Tautologien) zu artikulieren.

Das heißt aber noch nicht, daß Linguisten nichts zu dem widerlichen Gemetzel zu sagen haben, das aus sprachlichen Gründen in Osteuropa ansetzt und sich zu verbreitern droht. Im Gegenteil, sie können überhaupt erst zeigen, was sich dort ereignet. Und zwar, weil sie zeigen können, wie Nationalsprachen (und überhaupt «Untersprachen») entstehen. Sie entstehen dort und dann, wenn es gilt, neue Informationen zu artikulieren, für welche die ursprüngliche Sprache nicht kompetent war. Zum Beispiel sind die einzelnen romanischen Sprachen aus dem Latein des untergehenden Imperiums entstanden, weil es galt, in Gallien, in Iberien oder in Dakien etwas zu sagen, was in Italien nicht gesagt werden konnte. Demnach sind Nationalsprachen (und alle Untersprachen überhaupt) Werkzeuge zum Erzeugen von Neuem, kreative Instrumente. Sie sind alle, ohne Ausnahme, großartige Produkte des menschlichen Willens, Neues herzustellen. Alle Sprachen, ohne Ausnahme, sind Triumphe des Geistes in seinem Kampf gegen die Sturheit der Welt, in die wir geworfen wurden, und jede einzelne Sprache hat eine ihr eigene, nirgendwo anders zu findende Schönheit. Wer also seine eigene Sprache liebt, liebt alle anderen, denn erst im Vergleich zu anderen (etwa beim Übersetzen) erstrahlt die Schönheit der eigenen und der anderen Sprache.

Das erst erklärt, warum in Transsilvanien (zum Beispiel) Rumänen Ungarn umbringen und von ihnen umgebracht werden: Weil es nämlich um Leute geht, die ihre eigene Sprache nicht genügend gut sprechen, um sie lieben zu können. Die mordenden Rumänen benützen ihre Sprache nur, um leeres Gerede darin zu artikulieren, Schlagworte, Parolen, und nicht, um den Reichtum ihrer Sprache für Kreatives anzusetzen. Sie morden die Ungarn (und umgekehrt), weil sie nichts Interessantes aus dem Rumänischen ins Ungarische (und umgekehrt) zu übersetzen haben. Diese Leute morden einander, weil sie sprachliche Kretins sind.

Das also wäre der Beitrag, den Linguisten zum wiedererwachenden Nationalismus leisten könnten: Wer seine eigene Muttersprache liebt, muß notwendigerweise alle anderen Sprachen ebenso lieben (kann also kein Nationalist sein), weil erst im Vergleich zu anderen Sprachen die Schönheit aller Sprachen völlig leuchtet. Und wer seinen Nachbarn umbringt, weil er eine andere Sprache als seine eigene spricht, der hat keine Ahnung von seiner eigenen Sprache. Also, Nationalismus ist nicht dank Esperanto (oder irgendeinem anderen Universalismus), sondern mittels Kenntnis der eigenen Nationalsprache (und der eigenen Nation) zu bekämpfen. Es besteht jedoch wenig Hoffnung, daß ein derartiger Beitrag der Linguistik zum Kampf gegen den Nationalismus von Erfolg gekrönt wird. Gegen Kretinismus ist kein Kraut gewachsen.

Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit

Gegen meine Gewohnheit und vom Thema «Heimat und Heimatlosigkeit» gelenkt und verleitet, habe ich diesmal vor, das Geheimnis meiner Heimatlosigkeit ein wenig zu lüften. Ich bin gebürtiger Prager, und meine Ahnen scheinen seit über tausend Jahren in der Goldenen Stadt gewohnt zu haben. Ich bin Jude, und der Satz «Nächstes Jahr in Jerusalem» hat mich seit meiner Kindheit begleitet. Ich war jahrzehntelang an dem Versuch, eine brasilianische Kultur aus dem Gemisch von west- und osteuropäischen, afrikanischen, ostasiatischen und indianischen Kulturemen zu synthetisieren, beteiligt. Ich wohne in einem provenzalischen Dorf und bin ins Gewebe dieser zeitlosen Siedlung einverleibt worden. Ich bin in der deutschen Kultur erzogen worden und beteilige mich an ihr seit einigen Jahren. Kurz, ich bin heimatlos, weil zu zahlreiche Heimaten in mir lagern. Das äußert sich täglich in meiner Arbeit. Ich bin in mindestens vier Sprachen beheimatet und sehe mich aufgefordert und gezwungen, alles Zu-Schreibende wieder zu übersetzen und rückzuübersetzen.

Erschwerend und anfeuernd kommt hinzu, daß ich mich für die Phänomene der zwischenmenschlichen Kommunikation, also für die Lücken zwischen Standorten und für die diese Lücken überspannenden Brücken interessiere. Wahrscheinlich ist dieses Interesse auf mein eigenes Schweben über den Standorten zurückzuführen. Dies zwingt mich und erlaubt mir, das Transzendieren von Heimaten nicht nur konkret zu erleben und zu bearbeiten, sondern auch theoretisch darüber nachzudenken. Der folgende Beitrag soll dieses konkrete Erleben, tägliche Bearbeiten und theoretische Überlegen des Themas «Heimat und Heimatlosigkeit» dokumentieren.

Zuerst will ich, so scharf wie möglich, zwischen «Heimat» und «Wohnung» unterscheiden, wobei ich mir peinlich bewußt bin, mit der deutschen Sprache spielen zu müssen. Das deutsche Wort «Heimat» findet, unter den mir geläufigen Sprachen, nur im tschechischen Wort domov ein Äquivalent, und dies wohl dank des Drucks, den das Deutsche auf das Tschechische jahrhundertelang ausgeübt hat. Vielleicht ist der Begriff «Heimat» nur im Deutschen heimisch – der Begriff, nicht aber das Erlebnis? Doch sogar bei dem Erlebnis habe ich meine Bedenken. Erlebt der provenzalische Bauer in Robion seine geschichtliche, weil vielgeschichtete Heimat (an deren Struktur spätpaleolithische, neolithische, ligurische, griechische, römische, visigotische, burgundische, arabische, fränkische, provenzalische, italienische und französische Ahnen mitgebaut haben) im gleichen Sinn, in welchem etwa der brasilianische wandernde Landarbeiter seine terra oder der israelische Kibbuznik sein Eretz Israel erleben?

Während der weitaus größten Zeitspanne seines Daseins ist der Mensch ein zwar wohnendes, aber nicht ein beheimatetes Wesen gewesen. Jetzt, da sich die Anzeichen häufen, daß wir dabei sind, die zehntausend Jahre des seßhaften Neolithikums hinter uns zu lassen, ist die Überlegung, wie relativ kurz die seßhafte Zeitspanne war, belehrend. Die sogenannten Werte, die wir dabei sind, mit der Seßhaftigkeit aufzugeben, also etwa den Besitz, die Zweitrangigkeit der Frau, die Arbeitsteilung und die Heimat, erweisen sich dann nämlich nicht als ewige Werte, sondern als Funktionen des Ackerbaus und der Viehzucht. Das mühselige Auftauchen aus der Agrikultur und ihren industriellen Atavaren in die noch unkartographierten Gegenden der Nachindustrie und Nachgeschichte («hinc sunt leones») wird durch derartige Überlegungen leichter. Wir, die ungezählten Millionen von Migranten (seien wir Fremdarbeiter, Vertriebene, Flüchtlinge oder von Kornseminar zu Kornseminar* pendelnde Intellektuelle), erkennen uns dann nicht als Außenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft. Die Vietnamesen in Kalifornien, die Türken in Deutschland, die Palästinenser in den Golfstaaten und die russischen Wissenschaftler in Harvard erscheinen dann nicht als bemitleidenswerte Opfer, denen man helfen sollte, die verlorene Heimat zurückzugewinnen, sondern als Modelle, denen man, bei ausreichendem Wagemut, folgen sollte. Allerdings können sich derartige Gedanken nur die Vertriebenen, die Migranten, nicht aber die Vertreiber, die Zurückgebliebenen erlauben. Denn die Migration ist zwar eine schöpferische Tätigkeit, aber sie ist auch ein Leiden. Wie ja bekannterweise das Tun aus dem Leiden emportaucht («Wer nie sein Brot in Tränen aß…»).

 

Die Heimat ist zwar kein ewiger Wert, sondern eine Funktion einer spezifischen Technik, aber wer sie verliert, der leidet. Er ist nämlich mit vielen Fasern an seine Heimat gebunden, und die meisten dieser Fasern sind geheim, jenseits seines wachen Bewußtseins. Wenn die Fasern zerreißenoder zerrissen werden, dann erlebt er dies als einen schmerzhaften chirurgischen Eingriff in sein Intimstes. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder den Mut aufbrachte zu fliehen), durchlebte ich dies als einen Zusammenbruch des Universums; denn ich verfiel dem Fehler, mein Intimstes mit dem Öffentlichen zu verwechseln. Erst als ich unter Schmerzen erkannte, daß mich die nun amputierten Fasern angebunden hatten, wurde ich von jenem seltsamen Schwindel der Befreiung und des Freiseins ergriffen, der angeblich den überall wehenden Geist kennzeichnet. Im London des ersten Kriegsjahres, in diesem für Kontinentale chinesischen England, und unter Vorahnungen des kommenden Entsetzens der Menschlichkeit in den Lagern erlebte ich damals die Freiheit. Das Umschlagen der Frage «frei wovon?» in «frei wozu?», dieses für die errungene Freiheit charakteristische Umschlagen, hat mich seither in meinen Migrationen wie ein Basso continuo begleitet. So sind wir alle, wir aus dem Zusammenbruch der Seßhaftigkeit emportauchenden Nomaden.

Es sind zumeist geheime Fasern, die den Beheimateten an die Menschen und Dinge der Heimat fesseln. Sie reichen über das Bewußtsein des Erwachsenen hinaus in kindliche, infantile, wahrscheinlich sogar in fötale und transindividuelle Regionen; ins nicht gut artikulierte, kaum artikulierte und unartikulierte Gedächtnis. Ein prosaisches Beispiel: Das tschechische Gericht svickova (Lendenbraten) erweckt in mir schwer zu analysierende Gefühle, denen das deutsche Wort «Heimweh» gerecht wird. Der Heimatverlust lüftet dieses Geheimnis, bringt frische Luft in diesen gemütlichen Dunst und erweist ihn als das, was er ist: der Sitz der meisten (vielleicht sogar aller) Vorurteile – jener Urteile, die vor allen bewußten Urteilen getroffen werden.

Das in der Prosa und Dichtung gerühmte und besungene Heimatgefühl, diese geheimnisvolle Verwurzelung in infantilen, fötalen und transindividuellen Regionen der Psyche, widersteht der nüchternen Analyse nicht, zu welcher der Heimatlose verpflichtet und befähigt ist. Zwar, zu Beginn dieser Analyse, nach dem Verlassen der Heimat, ergreift das analysierte Heimatgefühl die Gedärme des Sich-selbst-Analysierenden, als ob es sie umstülpen wollte. Das deutsche Wort «Heimweh» oder das französische nostalgie erfaßt dies weniger gut als das portugiesische saudade. Aber, nach dem erwähnten Umschlagen der Vertriebenheit in Freiheitstaumel, der Frage «frei wovon?» in die Frage «frei wozu?», wird die geheimnisvolle Verwurzelung zu einer obskurantischen Verstrickung, die es jetzt wie einen gordischen Knoten zu zerhauen gilt. Der Sich-selbst-Analysierende erkennt dann, bis zu welchem Maß seine geheimnisvolle Verwurzelung in der Heimat seinen wachen Blick auf die Szene getrübt hat. Er erkennt nicht etwa nur, daß jede Heimat den in ihr Verstrickten auf ihre Art blendet und daß in diesem Sinn alle Heimaten gleichwertig sind, sondern vor allem auch, daß erst nach Überwindung dieser Verstrickung ein freies Urteilen, Entscheiden und Handeln zugänglich werden. In meinem Fall: Nach dem Zerhauen eines gordischen Knotens nach dem anderen, des Prager, des Londoner, des Paulistaner, habe ich nicht nur die Gleichwertigkeit (oder auch Gleichunwertigkeit) aller dort angesiedelten Vorurteile erkannt, und vorwegnehmend auch die der in Robion angesiedelten, sondern vor allem auch, daß meine Freiheit zu urteilen, mich zu entscheiden und zu handeln mit jedem Zerhauen zunimmt. Diese Erkenntnis erlaubt, mit sich immer verbessernder Virtuosität die Knoten, einen nach dem anderen, zu zerhauen. Die Emigration aus Prag war ein fürchterliches Erlebnis, die aus Robion wäre wahrscheinlich nur noch die freie Entscheidung, sich ins Auto zu setzen und wegzufahren. Das ist der Grund, warum mir der Zionismus, trotz aller Sympathie, existentiell nicht zusagt.

Das geheimnisvolle Heimatgefühl fesselt an Menschen und Dinge. Beide sind sie in dieses Geheimnis gebadet. Ich glaube nicht, daß es nötig ist, von der Verderblichkeit eines geheimnisvollen Gefesseltseins an Dinge zu sprechen. Derart sakralisierte Dinge bedingen nicht nur (das heißt, sie schmälern die Freiheit), sondern sie werden personalisiert (das heißt, man liebt sie). Diese Verwechslung von Dingen und Personen, dieser ontologische Irrtum, ein Es für ein Du zu nehmen, ist genau das, was die Propheten Heidentum nannten und was die Philosophen als magisches Denken zu überwinden versuchten. Das geheimnisvolle Gefesseltsein an Menschen jedoch verdient, bedacht zu werden. Es stellt nämlich das eigentliche Problem der Freiheit.

Ich habe in dieser Hinsicht zwei Erfahrungen, die einander widersprechen. Alle Menschen, mit denen ich in Prag geheimnisvoll verbunden war, sind umgebracht worden. Alle. Die Juden in Gaskammern, die Tschechen im Widerstand, die Deutschen im russischen Feldzug. Alle Menschen, mit denen ich in São Paulo geheimnisvoll verbunden war, leben, und ich stehe mit ihnen in Verbindung. Paradoxerweise ist daher das Zerhauen des Prager gordischen Knotens leichter gewesen als das des Paulistaner, wiewohl das Geheimnis, das mich an Prag gebunden hatte, dunkler ist als das im Fall von São Paulo. Eine allerdings makabre Erfahrung.

Die geheimnisvollen Fesseln, die mit den Menschen der Heimat verbinden (also etwa Liebe und Freundschaft, aber auch Haß und Feindschaft), zerren am Emigranten, weil sie seine unter Leid errungene Freiheit in Frage stellen. Es sind nämlich die dialogischen Fäden der Verantwortung und des Einstehens für den anderen. Ist etwa die Freiheit des Migranten, dieses über allen Orten schwebenden «Geistes», eine verantwortungslose, solipsistische Freiheit? Hat er etwa seine Freiheit auf Kosten des Mitseins mit anderen errungen? Oder ist verantwortungslose Einsamkeit das Los des Migranten (wie es die romantischen Dichter wahrhaben wollen)? Das oben erwähnte Umschlagen aus der Vertriebenheit in die Freiheit verneint diese Frage. Ich wurde in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden. In meiner jetzt errungenen Freiheit bin ich es selbst, der seine Bindungen zu seinen Mitmenschen spinnt, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen. Die Verantwortung, die ich für meine Mitmenschen trage, ist mir nicht auferlegt worden, sondern ich habe sie selbst übernommen. Ich bin nicht, wie der Zurückgebliebene, in geheimnisvoller Verkettung mit meinen Mitmenschen, sondern in frei gewählter Verbindung. Und diese Verbindung ist nicht etwa weniger emotional und sentimental geladen als die Verkettung, sondern ebenso stark, nur eben freier.

Das, glaube ich, zeigt, was Freisein bedeutet. Nicht das Zerschneiden der Bindungen an andere, sondern das Flechten dieser Verbindungen in Zusammenarbeit mit ihnen. Der Migrant wird frei, nicht wenn er die verlorene Heimat verleugnet, sondern wenn er sie aufhebt. Ich bin Prager und Paulistaner und Robionenser und Jude und gehöre dem deutschen sogenannten Kulturkreis an, und ich leugne dies nicht, sondern ich betone es, um es verneinen zu können.

Die Soziologen scheinen uns zu belehren, daß die geheimen Codes der Heimat von Fremden (zum Beispiel von Soziologen oder von Heimatlosen) erlernt werden können, da ja die Beheimateten selbst sie zu lernen hatten, was die Initiationsriten bei den sogenannten Primitiven belegen. Daher könnte ein Heimatloser von Heimat zu Heimat wandern und in jede von ihnen einwandern, wenn er nur an seinem Schlüsselbund alle notwendigen Schlüssel zu diesen Heimaten mit sich trägt. Die Wirklichkeit ist anders. Die geheimen Codes der Heimaten sind nicht aus bewußten Regeln, sondern größtenteils aus unbewußten Gewohnheiten gesponnen. Was die Gewohnheit kennzeichnet, ist, daß man sich ihrer nicht bewußt ist. Um in eine Heimat einwandern zu können, muß der Heimatlose zuerst die Geheimcodes bewußt erlernen und dann wieder vergessen. Wird jedoch der Code bewußt, dann erweisen sich seine Regeln nicht als etwas Heiliges, sondern als etwas Banales. Der Einwanderer ist für den Beheimateten noch befremdender, unheimlicher als der Wanderer dort draußen, weil er das dem Beheimateten Heilige als Banales bloßlegt. Er ist hassenswert, häßlich, weil er die Schönheit der Heimat als verkitschte Hübschheit ausweist. Bei der Einwanderung entsteht daher zwischen den schönen Beheimateten und den häßlichen Heimatlosen ein polemischer Dialog, der entweder in Pogromen oder in Veränderung der Heimat oder in der Befreiung der Beheimateten aus ihren Bindungen mündet. Dafür bietet mein Engagement in Brasilien ein Beispiel.