Aviva und die Stimme aus der Wüste

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Aviva und die Stimme aus der Wüste
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Vesna Tomas ist christliche psychologische Lebensberaterin (de‘ignis), Diplom-Sozialpädagogin und Traumatherapeutin. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt in der Schweiz.


„Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören auf meine Stimme. Ich kenne sie und sie folgen mir.“

Jesus Christus

Johannesevangelium 10,11+27

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Prolog

1 Das Raubtier

2 Ertappt

3 Der Wanderhirte

4 Die Verurteilung

5 Die Flucht

6 Gejagt

7 Das Labyrinth unter der Erde

8 Getäuscht

9 Die Erinnerung

10 Der Kampf

11 Die Rettung

12 Die Reisegefährten

13 Masia

14 Der Markt

15 Verkauft

16 Der Fremde

17 Gefangene

18 Das Feuer

19 Der Ort der Ruhe

20 Die Wahrheit

21 Das Veilchenbad

22 Unruhe im Land

23 Die Verlorenen

24 Die Wüste

25 Der Ruf

26 Bei den Wasserfällen

27 Abschied

28 Angekommen

Nachwort

PROLOG


Regungslos, fast wie aus Stein, saßen die beiden auf dem Bock des kleinen Einachsers. Der hölzerne Marktkarren war beladen mit Körben, Ledertaschen und Wolldecken. Das Gesicht des Mannes war von den vielen Menschen, die sich an diesem frühen Sommermorgen um das Fuhrwerk versammelt hatten, abgewandt; seine braunen, mandelförmigen Augen hielt er starr auf den vor ihnen liegenden holprigen Weg gerichtet. Er schien angespannt, verzog aber keine Miene. Seine glatten Haare waren schulterlang und glänzten schwarz in der Sonne. Er war jung, kräftig und hatte breite Schultern. Seine Hosen und sein Hemd waren aus Jute.

Die große schlanke Frau hatte etwas Stolzes an sich, so wie sie da kerzengerade neben ihm saß. Ihr schwarzes, dickes Haar reichte hinab bis zur ihrer Taille. Auch sie trug ein Kleid aus Jutestoff, das über ihren Knöcheln endete, und einen Umhang aus Schafwolle. An den Füßen trug sie, so wie er, Ledersandalen. Sie war noch sehr jung. In ihren braunen, großen Augen fand sich ein gesprenkeltes Grün. Ihre Wangenknochen waren hoch, ihre Nase ausdrucksstark und sie hatte schmale Lippen. Auch sie vermied es, den Menschen in die Augen zu sehen. Sie wirkte noch regungsloser, noch distanzierter als der Mann. Etwas Mysteriöses lag über den beiden.

Der Ochse, der vor ihren Wagen gespannt war und auf dessen Schultern ein schweres, gepolstertes Joch ruhte, scharrte unruhig mit dem Vorderhuf. Der Mann fasste die Zügel fest mit seiner rechten Hand, während seine linke eine Hand seiner Frau hielt. Rings um den Dorfplatz standen kleine Hütten aus Lehm, dahinter begann gleich der Wald. Männer- und Frauenstimmen hallten über den Platz, die Leute redeten durcheinander. Sie schienen weit weg zu sein, denn nichts von dem, was sie sagten, war zu verstehen und doch standen sie ganz nah. Alle waren in Aufruhr. Das Einzige, was wirklich zu hören war, war ein Weinen. Es kam aus der Nähe des Karrens. Es waren Kinder.

Die Leute deuteten mit ihren Köpfen in Richtung des Fuhrwerks und ihre mitleidigen Blicke fielen nun auf zwei kleine Mädchen in langen Gewändern. Sie schienen nicht älter als sechs Jahre zu sein, hielten sich an den Händen und weinten. Eine ältere Frau mit einem bunten Kopftuch stand neben den Mädchen. Auf ihrem Arm hielt sie einen kleinen Jungen, der nicht älter als ein Jahr aussah und ebenfalls weinte, wahrscheinlich aufgrund der Aufregung und Anspannung, die in der Luft lagen.

Auch ein etwa dreijähriges Mädchen stand in der Nähe. Die Blicke der Menschen machten ihm Angst. Es sah zu dem Mann und der Frau auf dem Wagen. Es wollte ihnen etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.

Warum sagten die beiden nichts?

Eine Kälte umschloss das Herz des Mädchens und alles in ihm verkrampfte sich. Es schien zu ahnen, dass etwas Schreckliches passieren würde, doch mit seinen drei Jahren konnte es nicht begreifen, was vor sich ging.

Der Mann und die schöne Frau neben ihm blickten beide weiterhin starr nach vorn auf den holprigen Weg und schwiegen. Dann gab der Mann dem Ochsen einen Schlag mit den Zügeln und der Wagen rollte langsam an.

Verzweiflung machte sich in dem kleinen Mädchen breit. Es lief einige Schritte, wollte dem Wagen hinterherrennen. Eine Frau aus der Menge riss das Mädchen jedoch heftig an sich und hielt es fest. Das Kind wehrte sich, schlug um sich, wollte sich losreißen. Die Frau aber war stärker und ließ das Mädchen nicht los. Die Kleine wollte hinterherrennen, den Wagen einholen. In ihrem Kopf schien etwas zu zerbrechen. Sie wollte es nicht wahrhaben.

Der Wagen rollte davon und der Mann und die Frau drehten sich nicht ein einziges Mal um. Das Mädchen fing an zu rufen und zu schreien. Sie konnte es nicht fassen, konnte es nicht glauben. Ihr wurde schwindelig, doch sie wehrte sich dagegen. Ihr Schrei ertönte erst laut und wurde dann zunehmend hysterisch, bis sie nichts mehr um sich herum wahrnahm. Um sie herum begann sich alles zu drehen; die Leute, die im Kreis um sie herumstanden, verwischten vor ihren Augen mit den Bäumen und Hütten im Hintergrund. Ihre Kraft schwand. Sie spürte nichts mehr und sackte in sich zusammen. Um sie herum wurde es dunkel.


Niemand bemerkte, was sich in der Nacht verbarg, nur ein einsames Heulen drang zu ihr hinüber. In Aviva hallten die Schreie des kleinen Mädchens wider, schienen nicht verstummen zu wollen. Schon wieder dieser Traum! Jedes Mal erwachte sie danach aufgewühlt und erschöpft. Sie musste geweint haben, denn ihre Augen waren feucht.

Aviva starrte an die Decke. Ihr Herz und ihre Gedanken rasten. Das kleine Mädchen – war sie das gewesen? Aviva hatte keine Erinnerung an ihre Eltern und an die Zeit, bevor sie und ihre Geschwister zu Großmutter Kala gekommen waren. Niemand hatte ihr von ihren Eltern erzählt; es war, als hätte es sie nie gegeben. Erneut vernahm sie ein Jaulen aus der Ferne, das wie der Ruf einer Wildkatze durch die dunkle Nacht hallte.

Jetzt war Aviva hellwach. Dieses Jaulen stammte eindeutig nicht mehr aus ihrem Traum, sondern kam von draußen. Sie überlegte nicht lange, sondern sprang entschlossen aus ihrem Bett. Rasch zog sie das lange, weiße Baumwollnachthemd aus und streifte ihr Hemd über den zierlichen, zerbrechlich wirkenden Körper eines jungen Mädchens, der manche Schrammen und Narben aufwies. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie die Großmutter wecken? Nein, das dauerte zu lang.

Mit einem breiten schwarzen Lederriemen band sie sich das Hemd und den hellbraunen Wildlederrock um die Taille und warf sich ihren schwarzen Umhang aus gewobener Schafwolle um. Sie schaute rasch im Zimmer umher, das noch halb im Dunkeln lag. Schemenhaft waren die zwei Betten zu sehen, in denen ihre drei Geschwister lagen. Gut, dachte sie, sie schlafen alle tief.

 

Der Mond warf sein fahles Licht durch das offene Fenster. Obwohl es Nacht war, konnte Aviva in dem kleinen ovalen Spiegel, der an der Wand gegenüber hing, die Umrisse ihres Gesichts erkennen. Kurz betrachtete sie sich selbst. Das tat sie oft, wenn sie sich Mut zusprechen wollte. Ihre dunklen, leicht gewellten Haare fielen ihr bis zur Schulter und schimmerten bläulich im Mondlicht. Sie hatte ein schmales Gesicht und eine etwas hervorstehend markante, aber doch feine und elegante Nase. Ihre Lippen waren voll und schön. Am auffälligsten waren jedoch ihre großen Augen, die ihr nun im Spiegel nachdenklich entgegenblickten. Im Dunkeln ließ sich ihre braungrüne Farbe und das Funkeln darin nicht erkennen.

Manchmal strahlten ihre Augen so sehr, dass man glaubte, das Aufgehen eines Sternes in ihren Augen zu sehen. Wenn sie Menschen aus dem Dorf ansah, hatten diese das Gefühl, sie könnte ihnen bis auf den Grund der Seele blicken. Aviva hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass etwas mit ihren Augen anders war; sie konnte nicht verstehen, warum, doch die meisten Menschen wichen ihrem Blick aus. Manchmal glaubte sie, dass etwas mit ihr nicht stimmte, da sie in vielem so anders war als der Rest der Sippe.

„Du schaffst das“, flüsterte sie nun ihrem Spiegelbild zu. Ihr Gesicht besaß etwas Würdevolles und Anmutiges, gleich den Beduinen aus der Wüstenlandschaft. Trotz ihrer reinen, elfenbeinartigen Haut hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Nomadenmädchen. Niemand konnte nachvollziehen, warum sie diese helle Haut besaß, denn ihre Großmutter hatte einen dunklen Teint und auch die Haut ihrer beiden Schwestern und die ihres jüngeren Bruders war deutlich dunkler.

Aviva zuckte zusammen. Es war ein Fauchen und Knurren, das sie aus ihren Gedanken riss. Wölfe und andere Raubtiere gab es zuhauf hier in den Karneolen, wo ihr kleines Dorf Cagor gelegen war. Hätten nicht die Wachen Alarm schlagen und der Jäger des Dorfes sich als Verteidiger der Sippe darum kümmern müssen, wenn sich in dieser Nacht ein wildes Tier herangeschlichen hatte? Wieder knurrte das Raubtier. Dieses Mal noch lauter. Es hatte sich also näher herangewagt. Aviva hielt den Atem an.

Da! Noch ein anderes Geräusch! Es war ein angsterfülltes Blöken, das nur von einem der jungen Lämmer stammen konnte. Da sie öfter mit dem Wanderhirten Leroy die Schafe hütete, hatte sie zu unterscheiden gelernt, ob das Blöken eines Schafes angsterfüllt klang oder es einfach nach seiner Mutter rief. Sie versuchte herauszufinden, woher das Blöken kam, und dachte daran, dass sie vor einer Weile ein Loch in der Stallwand entdeckt hatte, das noch nicht geflickt worden war. Hatte sich etwa eines der Lämmer nach draußen verirrt? Oder ist das Raubtier schon innerhalb der Schutzgrenze? Sie horchte und ihr Herz pochte wie wild.

Warum regt sich draußen niemand? Wahrscheinlich liegen die Wachen wieder betrunken in ihren Betten. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Auf Zehenspitzen verließ sie ihr Zimmer und gelangte geradewegs in den Schlafraum der Großmutter, der gleichzeitig als Wohn- und Besuchsraum diente. Erkennen konnte Aviva nichts, da vor dem kleinen Fenster ein Tuch hing. Das leise Schnarchen der Großmutter aber beruhigte sie. Behutsam öffnete sie die schwere Holztür und schlüpfte hinaus.

Es war eine sternklare Nacht und der Mond schien hell. Das Dorf sah so friedlich aus. Genau in der Mitte lag der Dorfplatz. Hier fanden die öffentlichen Versammlungen statt. Kleine und größere Hütten aus Lehm, aber auch einige Holzhäuser waren rund um den Dorfkern angesiedelt. Die äußeren Hütten waren für die Jäger des Dorfes bestimmt, deren Aufgabe es war, Nahrung zu beschaffen und die Gemeinschaft im Falle eines Angriffs zu schützen. Das Dorf war von dicht aneinander gereihten und fest in den Boden gerammten hohen Holzpfählen umgeben, sodass ein Feind bei einem Überfall oder Angriff zuerst einige Hürden überwinden musste. Zusätzlich war beim Haupttor Tag und Nacht ein Wachposten aufgestellt.

Aviva war dankbar, dass fast Vollmond war und es trocken war. Bei Regen wären die Wege zwischen den Hütten und bis hin zu den Pfählen sonst schlammig gewesen. Leichtfüßig eilte sie durch das schlafende Dorf und steuerte geradewegs auf das geschlossene hölzerne Tor zu. Was soll ich dem Wachposten sagen? Nach den Regeln der Sippe durften Frauen und Kinder ohne Begleitung nachts nicht aus ihren Häusern. Aviva hatte sich schon des Öfteren unbemerkt nachts herausgeschlichen, aber daran wollte sie jetzt nicht denken.

Vorsichtig näherte sie sich den Hütten der Jäger. Auf keinen Fall wollte sie von einem von ihnen bemerkt werden, vor allem nicht von Rapo, dem Hauptjäger. Um zum Tor zu gelangen musste sie aber ausgerechnet an seiner Hütte vorbei.

Aviva verlangsamte ihre Schritte, als sie sah, dass Licht in seiner Stube brannte. Die Tür stand offen. Sie erblickte Rapo, der drinnen noch bekleidet mit seiner Jägermontur unbequem mit dem Kopf nach hinten auf einem Stuhl hing und seinen Rausch auszuschlafen schien. Heute hatte er ein Wildschwein erlegt und mit den anderen Jägern gefeiert. Bei seinem Anblick verkrampfte sich ihr Magen. Furchtbare Erinnerungen wollten hochkommen. Erinnerungen, die sie niemandem anvertrauen konnte.

Nicht, dass sie es damals nicht versucht hätte, aber Kala hatte danach bloß die Hände hochgeworfen, vor sich hin geschimpft und gemeint, sie würde fantasieren und lügen. Nie wieder wurde anschließend darüber gesprochen. Im Grunde wurde überhaupt nicht über ihre Familie gesprochen, so als läge ein Bann auf ihr.

Als sie mit ihren Geschwistern zu Kala gebracht worden war, war Rapo ein heranwachsender junger Mann gewesen. Schaudernd erinnerte Aviva sich an das lähmende Gefühl, das sie in Rapos Nähe empfunden hatte – so als wäre die Angst, die sie spürte, bis in ihre Knochen gedrungen. Überglücklich war sie, als er nach zwei Jahren unter dem gleichen Dach auszog. Er sollte zum Jägermeister, der für ihn wie ein Ziehvater war, in die Hütte ziehen, um von ihm zu lernen. Zehn Jahre waren seitdem vergangen.

Da hörte sie wieder das Knurren. Und anschließend das Blöken. Sie vernahm nun deutlich, das beides von hinter den Pfählen zu ihr drang. Alle Gedanken an die Vergangenheit waren im Nu verschwunden. Neben dem Tor erkannte sie den Schattenriss des Wächters; er saß auf einem Baumstumpf, den Kopf an die Palisadenwand angelehnt und schnarchte. So schnell und leise sie konnte, lief Aviva an Rapos Hütte vorbei. Behutsam öffnete sie das große Tor und schlich hinaus.

Vor ihr lag nun der dunkle Wald. Sie kannte ihn gut, auch die Gefahren, die darin im Verborgenen lagen. Wie oft war sie schon in den Wald gelaufen, um sich vor Rapo zu verstecken. Einen Moment lang zögerte Aviva, doch sie wusste, dass sie unter einem Schutz stand. Einem besonderen Schutz, von dem niemand etwas wusste, nur sie allein. Und in ihrem Herzen erklang leise die liebevolle Stimme, die nur sie hören konnte: „Hab keine Angst, ich bin bei dir, Aviva!“

Aviva schob die Erinnerungen energisch beiseite und konzentrierte sich auf ihr Herz. Sie stand nun zwischen den ersten Bäumen des Waldes. Ihre Augen versuchten im Dunkel etwas zu erkennen.

Da! Um die 50 Schritte vor ihr vernahm sie einen Schatten, der sich bewegte. Schnell huschte sie hinter einen Baum, um nicht gesehen zu werden. Vorsichtig spähte sie hinter dem Stamm hervor. Was sie dann erblickte, hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Etwas Schwarzes auf vier Beinen schlich auf den Baum zu. Es hatte einen langen Schwanz und bewegte sich wie eine Katze. Nur war dieses Ding um einiges größer und kräftiger.

Aviva hatte noch nie von einem solchen Tier gehört, geschweige denn eines gesehen. Irgendwie verhielt es sich eigenartig. Es knurrte, hielt inne und schlug mit der rechten Vordertatze nach etwas. Wieder konnte man es blöken hören, es kam genau aus der Richtung, wo das Tier mit seinen scharfen Krallen hingeschlagen hatte.

Aviva stockte der Atem. Leise und vorsichtig duckte sie sich hinter die Bäume und schlich sich näher an das Tier heran. Dann sah sie es. Ein Lamm lag am Boden vor ihm, es zitterte. Avivas Herz raste. Was soll ich tun?

Die Riesenkatze musste etwas gewittert haben, denn sie schaute genau in ihre Richtung. Aviva war klar, dass dieses katzenartige Biest im Dunkeln besser sehen konnte als sie. Sie befahl sich, ruhig zu bleiben und nicht von der Stelle zu weichen. Deutlich spürte sie den bohrenden Blick des Raubtieres, und trotz der Entfernung erschien es ihr ganz nah. Dann wandte das Tier sich wieder dem verletzten Lamm zu. Vorsichtig nahm es das Lamm zwischen seine messerscharfen Zähne.

Da tauchte auf einmal der Mond hinter dem Waldrücken hervor und erhellte die Lichtung. Aviva konnte den schmerzerfüllten Ausdruck auf dem Gesicht des kleinen Lammes sehen. Seine Augen waren vor Todesangst weit aufgerissen. Das Raubtier schaute zu den Bäumen auf. Aviva verstand sofort. Das Tier wollte seine Beute auf den Baum hinauf in Sicherheit bringen. Genau das durfte nicht passieren! Was sollte sie nur tun? Aviva war am ganzen Körper bis aufs Äußerste angespannt.

Wieder blickte die Raubkatze in ihre Richtung und sah ihr direkt in die Augen. Dann öffnete sie plötzlich ihren Rachen. Aviva hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was sie jetzt sah. Das Raubtier ließ das Lamm fallen und gab ein drohendes Knurren von sich. Dann machte es einen Schritt mit der rechten Vordertatze in ihre Richtung. Als es aber die linke nachzog, schwankte es ein wenig zur linken Seite. Es schien diese Tatze nicht richtig absetzen zu können.

Es ist verletzt!, schoss es Aviva durch den Kopf. Was soll ich nur machen? Einen kurzen Moment lang beschlich sie erneut die Angst. Doch sie wusste, jetzt war nicht der Zeitpunkt zum Zweifeln. Sie horchte in sich, in ihr Herz. All ihre wilden Gedanken schob sie beiseite. Sie musste sich richtig durch sie durchkämpfen, und das erforderte Kraft. Dann aber vernahm sie die Stimme, die wieder zu ihr sprach: „Sei mutig, sei entschlossen!“

Aviva spürte, wie sich ihre Muskeln wieder entspannten und sie wieder Mut und Kraft durchströmten. In Momenten wie diesem konnte Aviva alles vergessen, auch die Gefahr. Sie barg sich in der Zuflucht, die ihr die Stimme bot.

Ohne Anzeichen von Furcht kam Aviva hinter dem Baum hervor. Sie schaute dem Raubtier direkt in die Augen. „Das ist meine Beute, das Lamm gehört mir!“, sagte Aviva mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Das Raubtier wollte gerade zum Sprung ansetzen und sich auf Aviva stürzen, doch irgendetwas schien es jetzt zurückzuhalten. Es konnte sich einfach nicht zum Sprung überwinden. Seine Instinkte von Angriff und Flucht waren wie ausgelöscht. Erneut sah das Raubtier Aviva in die Augen. Ja, von dieser Menschentochter kam die Stimme, zweifellos. Sie war bis auf den Grund ihrer Seele hörbar. Und diese leuchtenden Augen! Sie hatten etwas Gebieterisches an sich und doch waren sie nicht böse. Das Tier war irritiert. Avivas Stimme hallte immer noch in ihm nach.

Aviva machte kleine, langsame Schritte auf das Raubtier zu. Sein schwarzes Fell glänzte im Mondschein. Sie spürte die Anspannung, die in dem Tier steckte. „Hab keine Angst, ich tue dir nichts“, sagte Aviva leise, beinahe flüsternd.

Das Tier stellte seine Ohren auf, so als ob es Aviva genau verstanden hätte. Seine Muskeln lösten sich und es bewegte sich langsam und hinkend voran, bis es vor dem am Boden liegenden Lamm stehen blieb. Jetzt war Aviva nur noch zwei Schritte entfernt. Vorsichtig streckte sie ihre rechte Hand aus. Die große schwarze Raubkatze schien neugierig zu werden und kam auf Avivas ausgestreckte Hand zu.

Da erst sah Aviva, dass etwas in der linken Schulter des Tieres steckte. Es war ein Pfeil! Im Schein des Mondes war zu erkennen, dass Blut auf dem glänzenden Fell reichlich Spuren hinterlassen hatte.

Aviva hielt ihre Hand immer noch ausgestreckt. Eine Sekunde lang hielt sie den Atem an. Das Tier war wunderschön. Es hatte Ähnlichkeit mit den kleinen, helleren Wildkatzen, die sie aus den umliegenden Wäldern kannte. Aber diese Großkatze war schwarz und reichte ihr fast bis zur Hüfte. Ihr Fell war durch und durch schwarz, dicht und kurz. Der Kopf wies ein helleres Rosetten-Fleckenmuster auf, das nur aus der Nähe zu erkennen war.

Avivas Gedanken überschlugen sich. Obwohl sie nun dem Lamm so nahe war, konnte sie es nicht an sich nehmen, denn das Raubtier hatte sich zwischen sie gestellt. Aviva konnte geradewegs in seine Augen blicken. Was sie darin sah, erfüllte sie mit schmerzhafter Sehnsucht und Trauer. Die Augen des Tieres schienen zu ihr zu sprechen. Wie in einem Traum sah sie unbekannte Landschaften, Berge, Täler und Seen. Sie sah noch weitere Raubtiere, große Katzen gleicher Art, manche mit sandfarbenem Fell. Sie konzentrierte sich auf eine große schwarze Raubkatze mit zwei halbwüchsigen Katzenjungen, die miteinander spielten. Das schwarze Tier vor mir ist das Muttertier, wusste sie plötzlich.

 

Die Szene vor ihren Augen erinnerte sie an Wölfe, die sie schon oft beobachtet hatte. Wie liebevoll die Mutter den Jungen das Jagen beibrachte und sich schützend vor sie stellte! Dann sah sie auf einmal, wie das Raubtier gehetzt und außer Atem allein jagte, sie spürte seine Verzweiflung. Plötzlich wurde ein Netz auf die jungen Tiere geworfen, von Männern mit Tüchern auf dem Kopf und luftigen Hosen.

Augenblicklich wusste Aviva, was zu tun war. Ohne zu überlegen streckte sie ihre Hand noch weiter dem Tier entgegen und berührte es. Achtsam und voller Liebe legte sie ihre Hand an seinen Hals. Ein Knurren stieg aus seiner Kehle, doch es bewegte sich nicht. Langsam strich Aviva dem Tier über das Fell bis zur linken Schulterhöhe, wo der Pfeil feststeckte. Ich muss ihn rausziehen!

Vorsichtig hob sie ihren linken Arm und umfasste mit beiden Händen den hölzernen Pfeil. „Ich werde ihn jetzt herausziehen. Das wird wehtun. Bitte tu mir nichts.“

Aviva nahm all ihren Mut zusammen, umfasste den Pfeil und zog ihn ruckartig aus dem Fleisch. Im nächsten Augenblick sprang das Tier hoch und riss Aviva mit seinen Vorderpranken zu Boden. Da lag sie nun, im taunassen Laub unter dem Raubtier, und spürte sein Schnauben auf ihrem Gesicht. Ihr Herz pochte wild.

Das Tier öffnete sein Maul. Seine weißen Zähne glänzten im Mondschein und wieder ertönte ein drohendes Knurren und Fauchen aus seinem Rachen. Dabei richteten sich die Augen des Tieres in das Dunkle des Waldes.

Aviva schauderte, denn sie spürte den inneren Kampf dieser Raubkatze, die Verzweiflung in ihr. Seltsamerweise wusste Aviva, dass dieses Knurren gar nicht ihr galt, sondern dem Unbekannten im Wald. Sie konnte nichts tun, außer ruhig zu sein, obwohl sie davon überzeugt war, dass die Raubkatze ihren lauten Herzschlag deutlich hören konnte. Da blickte das schwarze Tier Aviva direkt in die Augen. Es neigte leicht den Kopf und es schien Aviva, als würden seine Augen „Danke“ sagen. Dann sprang es auf einmal über Aviva hinweg und verschwand in der Dunkelheit des Waldes.

Überwältigt blieb Aviva am Boden liegen. Plötzlich hörte sie das wimmernde Blöken des Lammes. Es ist noch da! Als Aviva sich aufrichten wollte, merkte sie, dass sie immer noch den Pfeil in der rechten Hand hielt. Sie betrachtete ihn nun genauer. Er war nicht ganz aus Holz, sondern besaß eine metallene dreigeschliffene Spitze. Aviva erschrak. Nur die Jäger des Stammes Derveta besitzen solche Pfeile, wusste sie. Vorsichtig steckte sie ihn in den Gürtel ihres Hemdes.

Nun ging sie langsam auf das zitternde Lamm zu. Es war verletzt. Vorsichtig hob sie es auf und nahm es zu sich in ihren Umhang. Behutsam presste sie das wimmernde Tier enger an ihren warmen Körper. Plötzlich wurde sie sich der anderen Gefahr bewusst, der sie sich ausgesetzt hatte. Sie hatte gegen die Regeln ihres Stammes verstoßen.