Lebendige Seelsorge 5/2019

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Lebendige Seelsorge 5/2019
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INHALT

THEMA

Volkskirche oder Entscheidungskirche? Ein Plädoyer für eine Vision des erfüllten Lebens

Von Paul Metzlaff

Thesen zur Zukunft von Gemeinden als Basisstruktur des Christlichen

Von Karl Gabriel

Reform durch „Missionarische Synodalität“

Die Replik von Paul Metzlaff auf Karl Gabriel

Halbiertes Christentum

Die Replik von Karl Gabriel auf Paul Metzlaff

„Volkskirche“: eine verheißungsvolle Realität

Ein Blick in die Zukunft der deutschen Großkirchen

Von Jan Hermelink

PROJEKT

Ist die „Versorgung“ in der Fläche nicht mehr wichtig?

Von Gundo Lames

INTERVIEW

Gemeinde – wie geht’s?, und wie geht’s weiter? Ein Gespräch mit den Pfarrern Werner Otto, Werner Portugall und Andreas Unfried

PRAXIS

„Der Beruf hat sich doch völlig verändert!“ Gemeindereferentinnen als Spiegel kirchlicher Change-Prozesse

Von Dorothea Steinebach

Pflicht oder Kür?

Oder: Wie Fresh Expressions zeigen, dass Gemeinde nicht normal sein kann

Von Maria Herrmann

Abschied von der Volkskirche – Thesen zu einer aktuellen Kirchendeutung in kirchenhistorischer Perspektive

Von Andreas Henkelmann

Gemeinde nach dem Ende der Volkskirche. Eine Stimme aus den Niederlanden

Von Stefan Gärtner

FORUM

Fiat Lux – der schöne Gottesdienst Ein Projekt ästhetischer Liturgiegestaltung in Sankt Bonifatius Frankfurt

Von Werner Otto

POPKULTURBEUTEL

Take a picture and leave

Von Fabian Brand

NACHLESE

Re:Lecture

Von Hans Joas

Buchbesprechungen

Impressum

EDITORIAL


Matthias Sellmann Mitglied der Schriftleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie ist das nun eigentlich mit der Volkskirche? Ist sie schon weg und nur noch Erinnerungsgegenstand von manchen Älteren? Oder ist sie noch da und wandelt aber ihre Gestalt? Ist Volkskirche das, was gehen muss, um Besserem Platz zu machen? Oder hat Volkskirchlichkeit auch etwas, was man besser behalten sollte?

Beides kann man sich mit Fug und Recht fragen, denn für beide Ansichten gibt es triftige empirische Belege und ekklesiologische Gründe. Auf der einen Seite kann man im Mitgliederschwund der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum natürlich einen Anlass sehen, den Anspruch von Volkskirche für überholt zu halten. Auf der anderen Seite kann es einem passieren, dass man in einer hochgradig unkonfessionell geprägten Stadt wie Hannover am Bahnhof Kaffee trinkt und in der Speisenkarte für Freitag nur Fischgerichte findet – denn Freitag ist doch Fischtag. Weiß doch jeder. Auf der einen Seite propagieren die einen die Entscheidungskirche, in der endlich die alte volkskirchliche Tendenz zur Mitläuferschaft überwunden sein wird. Auf der anderen Seite mahnen Stimmen, dass es auch etwas mit Freiheit zu tun hat, wenn religiöse Settings so angelegt sind, dass man mit viel Ruhe in den hinteren Bänken Platz nehmen darf, ohne dass einer nachfragt.

Das Themenheft ruft diese innere Debatte auf. Es fragt: Was gewinnt, was verliert man, wenn man nicht mehr Volkskirche sein will? Wie verändert sich, je nach Position, die Gestalt der Normalstruktur, des Regelbetriebs von Kirche: die Gemeinde? Ist Verkleinerung, aber Profilierung besser als die bisher gegebene breite, aber eben diffuse kulturelle Präsenz von Kirche? Oder anders, mit Rahner: Muss oder darf der Christ der Zukunft ein Mystiker sein? Und wenn er muss: warum?

Ihr


Prof. Dr. Matthias Sellmann

THEMA

Volkskirche oder Entscheidungskirche?

Ein Plädoyer für eine Vision des erfüllten Lebens

Eine Frau mittleren Alters eilt an diesem Donnerstagmorgen im Habit die „Längste Theke der Welt“ entlang geradewegs auf den Markplatz zu, dessen Mitte das Jan-Wellem Denkmal ziert. Umgeben von rotbraunen Klinkerbauten sieht er im Winter den Adventsmarkt und heute hunderte Menschen jeden Alters, die sich zu Heiliger Messe und anschließender Prozession durch die Altstadt Düsseldorfs versammelt haben. Über die hervorragend positionierten Lautsprecher werden traditionelle Gebete und Lieder ebenso übertragen wie der ein oder andere Worship-Song. Die Menschenmenge bahnt sich begleitet von zahlreichen staunenden Blicken vollbesetzter Cafés ihren Weg durch die Gassen entlang der Rheinterrassen hin zum Hofgarten, in dem der feierliche Schlusssegen gespendet und die missionarische Aktion #Himmelsleuchten der Katholischen Kirche in Düsseldorf eröffnet wird. An Tagen wie diesen frage ich mich, ob ich im „katholischen Rheinland“ einfach einer traditionell-volkskirchlichen Fronleichnamsprozession beiwohnte und wieviel Entscheidung es wohl für jede und jeden Einzelnen erforderte, betend durch die Straßen einer säkularer werdenden Stadt zu ziehen. Über den binnenkirchlichen Horizont hinaus erhebt sich in diesem Lebenskontext die vom Yaler Theologen Miroslav Volf übernommene Frage: „Was für ein Leben ist es wert, dass man es will?“ (Volf, 24). Paul Metzlaff

ZUNEHMENDE SÄKULARISIERUNG UND OPTIONALITÄT

Verschiedene Statistiken zur Religiosität in Deutschland bestätigen eine zunehmende Säkularisierung und Entfremdung von den institutionell-verfassten Kirchen. So konstatiert die bekannte SINUS-Milieustudie aus dem Jahr 2016 (vgl. Calmbach u. a.), dass die Kirche wenige junge Menschen z. B. aus den Milieus der „Prekären“ oder auch der „Experimentalistischen Hedonisten“ erreicht. Eine Umfrage des Pew Research Center vom Dezember 2018 befragte Erwachsene in europäischen Ländern nach ihrer Religiosität, wobei in Deutschland 11% angaben, dass ihnen Religion wichtig sei, 24% wöchentlich eine Art von religiösem Gottesdienst besuchen und 9% täglich beten würden. Aus diesen und weiteren Daten folgerten die Forscher, dass ca. 12% der Erwachsenen in Deutschland als hochreligiös einzustufen seien (vgl. Pew Research Center). Auch andere Autoren, wie z. B. Paul Zulehner, konstatieren, dass sich die christentümliche Gesellschaft ihrem Ende entgegen neige und das kulturgestützte Christsein erschöpft sei (vgl. Zulehner).

Paul Metzlaff

gehört zum Kreis der Initiatoren des „Mission Manifest“; hat Theologie und Philosophie in Rom, Dresden und München studiert und promoviert in Religionsphilosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar; Berater des Dikasteriums für Laien, Familie und Leben des Vatikans.

Diese und ähnliche Befunde bedürfen der Differenzierung zwischen städtischen und ländlichen Regionen, zwischen Nord-Ost und Süd-West und hinsichtlich der historisch gewachsenen kirchlichen Tradition und Kirchenbindung. Zur Säkularisierung tritt eine bisher nicht gekannte Wählbarkeit möglicher Visionen für das eigene erfüllte Leben hinzu. Während sich Menschen vorangegangener Generationen in kulturelle, religiöse, ökonomische und soziale Ordnungen eingebettet wussten, deren Gefüge an nachfolgende tradiert wurde, erlebt sich der heutige Mensch entbettet zuallererst als Individuum, denn als Glied einer Gruppe. Diese ungeheure Freiheit schenkt nicht nur die Möglichkeit zu wählen, sondern lässt ihr zugleich den Imperativ folgen, wählen zu müssen (vgl. Volf, 21f.).

Diese Entscheidung betrifft dabei nicht, dieses oder jenes Produkt zu erwerben, sondern – wenn die Frage in übervollen Lebensläufen denn überhaupt zugelassen wird – die Wahl einer Vision für das eigene erfüllte Leben. Der Mensch entscheidet sich nicht nur zwischen einem gläubigen oder nichtgläubigen Lebensentwurf, sondern zwischen den verschiedensten religiösen und nichtreligiösen Lebensphilosophien und deren schier unendlicher Kombinierbarkeit. Miroslav Volf folgert aus dieser Beobachtung: „Wir sind Wählende in einer postsäkularen und pluralistischen Welt. Frei zu wählen und gleichzeitig zum Wählen gezwungen, stehen wir auch vor der Wahl zwischen einem sinnvollen Leben und einem, das keinen Sinn hat“ (Volf, 25).

VOLKSKIRCHE ODER ENTSCHEIDUNGSKIRCHE? KLÄRUNG DER FRAGE

Die Frage, ob eine Volks- oder Entscheidungskirche die richtige Antwort auf die gesellschaftlichen Umbrüche sei, trägt sich in verschiedensten Assoziationen durch kirchliche Debatten. Sie wird z. B. mit Frömmigkeitsstilen – Worship oder nordische Stille? – oder der Frage nach Finanzinvestitionen – in das Event Ministrantenwallfahrt oder die Gruppenstunde vor Ort? – vermischt. Unheilvoller wird es, wenn die Frage nach der Katholizität, letztlich nach dem Seelenheil, hinzutritt und sich die Diskutanten gegenseitig die Katholizität absprechen, was zu persönlichen Verletzungen führt.

 

Klaus Vellguth formuliert in seinem Beitrag zum „Mission Manifest“ wertvolle Desiderate an die Initiatoren des Manifests. Er lädt ein, den theologischen Diskurs zu suchen, wozu in diesem Beitrag ein Versuch in Hinblick auf die erste These des „Mission Manifest“ unternommen sei (vgl. Vellguth, 231). Sie formuliert pointiert: „Uns bewegt die Sehnsucht, dass Menschen sich zu Jesus Christus bekehren. Es ist nicht mehr genug, katholisch sozialisiert zu sein. Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben. Sie ist ja weniger eine Institution oder Kulturform als eine Gemeinschaft, mit Jesus in der Mitte. Wer Jesus Christus als seinem persönlichen Herrn nachfolgt, wird andere für eine leidenschaftliche Nachfolge Jesu entzünden“.

Unter „Volkskirche“ wird hier ein Glaube verstanden, der die kulturellen, gesellschaftlichen und persönlichen Lebensvollzüge durch eingeübte und tradierte Gewohnheiten prägt. Dies mag das Läuten der Glocken dreimal am Tag zum Angelus, der sonntägliche Kirchgang, das Gebet im Schützenzelt, der Herrgottswinkel im Haus … sein. „Entscheidungskirche“ bezeichnet demgegenüber einen Glauben, der in einem (einzelnen) Akt freiheitlich, willentlich und bewusst die Option der Nachfolge Christi wählt. Damit ergibt sich die Frage, wie sich (einmaliger) entschiedener Glaubensakt und (dauerhafte) gewachsene Glaubensgewohnheit in säkularem Umfeld zueinander verhalten.

EINSEITIGKEITEN ÜBERWINDEN

Wird die Frage als Disjunktion verstanden, sodass sich Entscheidungskirche auf der einen und Volkskirche auf der anderen Seite kontradiktorisch entgegenstehen, scheint sie gemäß der angegebenen Prämisse einer Multioptionalität zugunsten der Entscheidungskirche entschieden. Bevor die Jubelstürme auf der einen wie die Entrüstung auf der anderen Seite zu laut werden, muss die Frage an sich korrigiert werden. Wird nämlich die Entscheidung ohne die andere Seite absolut gesetzt, führt sie in die Verzweiflung, wie am dänischen Philosoph Sören Kierkegaard gezeigt werden kann.

Die Person besteht für Kierkegaard in einem Verhältnis zu sich selbst, ist dynamisch und erlischt, sobald der Akt beendet ist. Ihre Existenz ist also keinesfalls gesichert, vielmehr zutiefst gefährdet. Der Mensch steht zudem in einer Relation zu Gott, die aber ebenfalls keine Festigkeit bedeutet, sondern Gott kommt dem Menschen allein in dem Maß zur Gegebenheit, wie dieser mit jenem ernst macht, wie er ihn in einem Akt realisiert. Romano Guardini schlussfolgert in seiner Interpretation Kierkegaards: „Wir spüren den Akt, die Intensität, die – logisch gewiss anfechtbare, aber für Sicht und Gefühl deutliche – Angestrengtheit dieses ganz dynamisch gefassten Seins, Wirklichseins, das stets von der Gefahr bedroht ist, zu ermatten und ins Nichts abzusinken, die grimmige Entschlossenheit dieses ins Metaphysische reichenden Willens, seinen buchstäblichen Kampf ums Dasein gegen das aus jedem Geschaffenen aufdrohende Nichts“ (Guardini, 17).

Übertragen auf unsere Fragestellung bedeutet dies, dass der Einzelne an der ganzen ihm aufgetragenen Last der Entscheidung zum Glauben irre werden kann, dass er ins Nichts zu stürzen droht, statt Gott zu finden. Ein solcher Mensch benötigt also notwendig Halt, Stand und das Getragensein durch eine unverbrüchliche Gemeinschaft. Notwendigerweise scheint die Volkskirche – die Gewohnheit – als Ergänzung auf, deren Verabsolutierung aber ebenso in die Irre führt.

Wird die aus dem Christentum hervorgegangene Kultur, die Gewohnheit des Glaubens, die erlernten Traditionen von Erfahrung und Entscheidung getrennt, verkommt ein solcher Glaube, so Karl Rahner, zu „sekundärer Dressur“. Im Anschluss an sein berühmtes Diktum, wonach der Christ von morgen jemand sein wird, der etwas erfahren hat, fährt Rahner im selben Satz fort, dass die grundlegende Erfahrung notwendig ist, „weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiöse Institutionelle sein kann“ (Rahner, 22f.). Soll der gewohnheitsmäßige Glaubensvollzug also nicht nur sekundäre Dressur sein, benötigt er als seine Grundlage die Erfahrung und Entscheidung.

Werden beide Weisen für sich absolut genommen, führen sie in die Unmöglichkeit. Beide Seiten sind notwendig aufeinander verwiesen. Die binnenkirchliche Frage löst sich also vom „oder“ in ein „sowohl – als auch“ auf und öffnet damit den weiteren Horizont in die Welt hinein.

EINE CHRISTLICHE VISION DES ERFÜLLTEN LEBENS INS SPIEL BRINGEN

In diesem durch die zwei sich ergänzenden Pole ausgespannten Raum kann das Christentum heute seine Vision von einem erfüllten Leben anbieten, die – so der christliche Glaube – in der Person Jesu Christi unüberbietbar Mensch geworden ist.

Papst Franziskus bezeichnet in seinem jüngsten Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Christus vivit die Freundschaft mit Jesus Christus, die in der Begegnung mit einer Person besteht, als Grunderfahrung des Lebens (vgl. Papst Franziskus, 129). Damit ergibt sich eine Definition von Evangelisierung bzw. Mission. Mission bedeutet, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Menschen Jesus Christus begegnen. Aufgabe ist es also, vielfältige Räume zu eröffnen, in denen diese Erfahrung gemacht und die Entscheidung getroffen werden kann, Jesus Christus ins eigene Leben eintreten zu lassen. Daraus ergibt sich, dass diese Entscheidung die grundlegende des gesamten Lebens darstellt und jegliche (Jugend-)Pastoral „immer eine missionarische Pastoral sein muss“ (Papst Franziskus, 240).

In der Folge der Initiation des „Mission Manifest“ im Januar 2018 hat es mehrere Tagungen und wissenschaftliche Konferenzen sowie durch die Unterzeichnung von „Mission Manifest“ motivierte Einzelpersonen und auch Pfarrgemeinderäte gegeben, die die im Manifest beschriebenen Ziele diskutiert haben und im eigenen Leben und dem der Pfarrei umsetzen. Ein Beispiel ist die große Veranstaltung „Light up the Dome“ am 01. September 2019 auf dem Stadtfest in Fulda, bei der auf der Hauptbühne christliche Bands auftraten und mehreren tausend Menschen auch ein zeitgemäßer Raum der Erfahrung des Evangeliums eröffnet wurde.

Auf eine in welchem Raum auch immer eröffnete Christuserfahrung kann ablehnend, gleichgültig oder bejahend reagiert werden, wobei alles gleichermaßen Entscheidungen sind. Diese kann der Mensch verdrängen, wie er es überhaupt mit der Frage nach einem erfüllten Leben vornimmt und in den Strömen einfachhin mitschwimmt. Um der von der Erfahrung ausgehenden Entscheidung Wege der Kontinuität zu eröffnen, müssen sodann ästhetische, intellektuelle und ethische Ergänzungen erfolgen, ganz in Anlehnung an Immanuel Kants berühmtes Diktum: Begriffe ohne Anschauungen sind blind und Anschauungen ohne Begriffe sind leer. In dieser Weise wird es möglich, im Spannungsbogen von Entscheidung und Verstetigung auf der Grundlage der Erfahrung Menschen (geistliches) Wachstum in der ihnen eigenen Vision des erfüllten Lebens zu ermöglichen.

UNTERSCHEIDUNG UND ENTSCHEIDUNG EINEN VORRANG GEWÄHREN

Der unbedingte Vorrang in der Frage nach Volks- und Entscheidungskirche besteht darin, aus dem binnenkirchlichen Diskurs immer wieder auszubrechen und allen Menschen die christliche Vision des erfüllten Lebens attraktiv anzubieten. Eine Kirche in der Zeit des Entscheiden-Müssens wird zudem unbedingt die Kompetenz der geistlichen Unterscheidung – des Dreischrittes des Wahrnehmens, Interpretierens und Wählens – bei allen Gläubigen fördern müssen und ihnen entsprechende geistliche Begleiterinnen und Begleiter zur Verfügung stellen, die sie auf dem Weg des geistlichen Wachstums begleiten.

Mit Papst Franziskus erscheint die Versuchung der Gleichgültigkeit und des Dahin-Lebens größer als diejenige, ein zu viel oder falsch an Entscheidung zu treffen. Die Kirche wird also stärker auf die Entscheidung der Einzelnen setzen, die in der Christuserfahrung wurzelt, in der Unterscheidung ihre Methode hat und deshalb Wachstum in der Vision des erfüllten Lebens ermöglicht. In einer multioptionalen Umwelt obliegt es dann der Entscheidung der und des Einzelnen, ob sie oder er die Lebensvision des Christentums wählt oder nicht. Stehen wir aber in einer Zeit des Wählen-Müssens, wird es Menschen leichter fallen, eine Option zu wählen, deren Namen sie kennen. Anknüpfend an eine Debatte zwischen Hans Urs von Balthasar und Karl Rahner in den 1960er Jahren um Rahners „Anonyme Christen“ sei deshalb mit Balthasar formuliert: „Man sieht nicht mehr recht, wenn es mit der Namenslosigkeit so gut geht, wozu einer eigentlich noch ein namenstragender Christ sein soll […]. Zu meinem Unglück hatte ich, dessen Jugend in die Zeit der Kierkegaard-Welle fiel – Guardini erklärte ihn uns in Berlin – bei Kierkegaard gelesen, der Apostel Christi […] sei einer, der sich für Christus totschlagen lasse […]. Ist so etwas Leitbild, dann gibt es doch keine anonymen Christen, so viel Menschen im übrigen – hoffentlich alle! – durch Christi Gnade das Heil erlangen“ (Balthasar, 49).

LITERATUR

Balthasar, Hans Urs von, Rechenschaft 1965, in: Ders., Zu seinem Werk, Einsiedeln/Freiburg 22000.

Calmbach, Marc/Borgsted, Silke/Borchard, Inga/Thomas, Peter Martin/Flaig, Berthold Bodo, Wie ticken Jugendliche? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 19 Jahren in Deutschland, Wiesbaden 2016.

Guardini, Romano, Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Sören Kierkegaards, in: Hochland 2 (April 1927-September 1927) 12-33.

Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Christus vivit“ (Es enthält als zentrale Kategorien einer kommenden Jugendpastoral die „Suche“ nach denen, die Christus noch nicht kennen, und das „Wachstum“ derer, die ihn bereits erfahren haben. Papst Franziskus zeichnet eine große Vision einer umfassenden „missionarischen Jugendpastoral“, die sehr lesenswert ist).

Pew Research Center, Umfrage zur Religiosität in Europa vom Dezember 2018, zu finden unter: www.pewresearch.org/facttank/2018/12/05/how-do-european-countries-differ-in-religious-commitment/ [abgerufen am: 20.08.2019].

Rahner, Karl, „Frömmigkeit früher und heute“, in: Ders., Schriften zur Theologie VII, Einsiedeln 21971.

Vellguth, Klaus, Der Streit um das „Mission Manifest“: Über evangelikale und pentekostale Strömungen in der katholischen Kirche in Deutschland, in: Krämer, Klaus/Vellguth, Klaus, Pentekostalismus. Pfingstkirchen als Herausforderung in der Ökumene, Freiburg i. Br. 2019, 211-237.

Volf, Miroslav/Croasmun, Matthew, Für das Leben der Welt. Ein Manifest zur Erneuerung der Theologie, Münster 2019.

Zulehner, Paul m., Aufbrechen oder Untergehen. Wie können unsere Gemeinden zukunftsfähig werden?, in: Herbst, Michael/ Ohlemacher, Jörg/Zimmermann, Johannes (Hg.), Missionarische Perspektiven für eine Kirche der Zukunft (BEG 1), Neukirchen-Vluyn 2005, 17-29.

THEMA

Thesen zur Zukunft von Gemeinden als Basisstruktur des Christlichen

In 6 Thesen werden im Folgenden primär soziologische Argumente zusammengetragen, die heute dafür sprechen, den Gemeinden vor Ort als Basisstruktur des Christlichen einen zentralen Stellenwert einzuräumen. Nachdem die katholische Kirche in ihrem Ringen um Selbstbehautung in der Moderne einseitig auf Organisation und Zentralisierung gesetzt hat, erscheint es heute an der Zeit, Kirche in Richtung der Gemeinde als Gemeinschaft zu reformieren. Karl Gabriel

THESE 1: ZUKUNFTSZWEIFEL

Im gesellschaftlichen wie im innerkirchlichen Diskurs überwiegen die Zweifel an einer Zukunft von Lokalgemeinden als Basisstruktur des Christlichen. Gesellschaftlich dominiert der Hinweis auf Jahr für Jahr sinkende Zahlen von Gemeindemitgliedern und auf den ungebremsten Trend zu geringer werdender Partizipation an allen Formen des Gemeindelebens.

Im theologischen und innerkirchlichen Diskurs sinkt der in der Nachkonzilszeit hell leuchtende Stern der Gemeinde als Hoffnungsort schon seit einigen Jahren. Die Zukunftsmusik spielt für viele Beobachter an anderen Orten als in Lokalgemeinden (vgl. Bucher; Ebertz 2003). Lose geknüpfte Netzwerke kleiner Gruppen engagierter Christinnen und Christen oder eine schnell lernende, delokalisierte kirchliche Organisation kommen in den Blick. Als Hauptproblem erscheint nicht einmal die seit längerem konstatierte Milieuverengung in den Lokalgemeinden, sondern der Umstand, dass gerade die Milieus fehlen, denen Dynamik und Zukunft zugesprochen wird. In den Augen der Sinus-Milieuforscher repräsentieren Kirchengemeinden viel Vormodernes, wenig Modernes und so gut wie nichts Postmodernes (vgl. Milieuhandbuch).

 

Es stellt sich die Frage, ob sich das Christentum der Zukunft nicht von Lokalgemeinden als Basisstruktur verabschieden muss. Von Zukunftsorten würden die real existierenden Gemeinden gewissermaßen zu Abschiedsorten und Räumen der Trauer um eine vergangene Sozialform.

THESE 2: EIN SOZIOLOGISCHER BLICK AUF DIE DREIFACHE STRUKTUR LOKALER KIRCHENGEMEINDEN

Wer eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Gemeinde als Basisstruktur des Christlichen finden will, muss sich ihrer komplexen Struktur bewusst sein (vgl. Geller). Historisch über Jahrhunderte gewachsen, verschränken sich in der sozialen Realität der Kirchengemeinden heute drei Systeme. Im Westen Europas mit einem gewissen Vorsprung vor dem staatlichen Verwaltungsaufbau stellten Kirchengemeinden seit den gregorianischen Reformen des 11. Jahrhunderts die unterste Ebene im Verwaltungsaufbau der Kirche dar. Für die kirchliche Verwaltung der Heilsgüter kam der lokalen Struktur mit der Inklusion jedes zur Christenheit gehörenden Ortes eine zentrale Bedeutung zu. Sie sollte den Zugang und die Sicherstellung des Heils für jede und jeden garantieren. Bis heute bildet die lokale Kirchengemeinde die unterste Verwaltungsebene eines an der ordnungsgemäßen Spendung der Sakramente orientierten Systems.

Karl Gabriel

Dr. Dr. theol. habil., 1998-2009 Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Um die Kirchengemeinde als Ort der Heilsverwaltung haben sich zwei weitere Systeme angesiedelt. Kirchengemeinden sind heute Zentren vielfältiger Dienstleistungen. In diesem Systemzusammenhang wird auch die Spendung der Sakramente zu einem zentralen Teil der von der Kirchengemeinde und ihrem Personal bereitgestellten Dienste. Sie werden eingebettet in eine Vielzahl von religiösen, sozialen und kulturellen Dienstleistungen angeboten und vom Publikum mehr oder weniger stark in Anspruch genommen.

Kirchengemeinden sind aber nicht nur Verwaltungs- und Dienstleistungseinheiten, sondern verbinden auch Menschen zu einer sozialen Gemeinschaft miteinander. In dieser Dimension werden sie durch das Bewusstsein einer spezifischen Zusammengehörigkeit und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bzw. Gemeinschaft konstituiert. Es handelt sich um eine symbolische Gemeinschaft, die fiktive Anteile besitzt und sich in unterschiedlichen realen Kommunikations- und Interaktionsprozessen realisiert. Nicht erst heute gestaltet sich das Verhältnis der drei Strukturkomponenten der Kirchengemeinde untereinander höchst spannungsreich.

THESE 3: GEWICHTSVERSCHIEBUNGEN

Ein komplexes System, das eine lange Geschichte besitzt, wird von heute auf morgen nicht verschwinden. Fraglich erscheint, ob die verschränkte Dreifachstruktur der lokalen Kirchengemeinde eine Zukunft hat. Die Bruchstellen des prekären Gesamtsystems Kirchengemeinde werden heute sichtbar. Die drei Systeme sind offenbar auf Gleise gesetzt, die zunehmend auseinander streben.

Angesichts des schon länger anhaltenden und auch für die absehbare Zukunft zu erwartenden Mangels an Priestern ist die Tendenz unverkennbar, die Räume der untersten Verwaltungsebene der Kirche zu vergrößern. Die Heilsverwaltung im klerikalen System der katholischen Kirche ist an die Praxis von Priestern gebunden, die dem Gottesdienst vorstehen, die Wandlungsworte sprechen, Gelegenheit zur Ohrenbeichte geben, taufen, beerdigen und bei der Eheschließung assistieren. Bei sinkenden Zahlen von Gläubigen lassen sich diese Aufgaben von einem Priester für mehrere bisherige Gemeinden gleichzeitig erfüllen. Neben dem Einsatz ausländischer Priester und der vorsichtigen Öffnung priesterlicher Aufgaben für theologisch ausgebildete Laien war die Zusammenlegung von Gemeinden in den letzten beiden Jahrzehnten die Hauptstrategie der Kirchenleitenden im Umgang mit dem Priestermangel (vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz).

Verdrängt wurde von den Verantwortlichen, dass sich die Bedingungen und Voraussetzungen des heilsverwaltenden Handelns der Priester radikal verändert haben. Nachdem der Glaube seine Selbstverständlichkeit verloren hat, macht die Heilsverwaltung der Priester erst Sinn, wenn vorher Entscheidendes in punkto Glauben geschehen ist. Deshalb überrascht es nicht, dass die Konzentration auf die Sicherstellung der Heilsverwaltung durch vergrößerte pastorale Räume zum Niedergang des kirchlichen Lebens in den letzten Jahren beigetragen hat.

Was die räumlichen Strukturen angeht, drängte neben der Heilsverwaltung auch das Dienstleistungssystem Gemeinde auf eine Vergrößerung bzw. Hinausschiebung seiner Grenzen. Die Qualitätsanforderungen an Dienstleistungen aller Art sind enorm gestiegen. Das heute erforderliche Mindestmaß an Differenzierung nach Zielgruppen, Spezialisierung und Professionalisierung des Personals lässt sich im Rahmen einer einzelnen Kirchengemeinde nicht sicherstellen. Aus der Dienstleistungsperspektive liegt es nahe, auf feste Grenzen einer Gemeinde ganz zu verzichten und je nach Art der Aufgabe die räumliche Struktur zu bestimmen (vgl. Ebertz 2011). Der Umstand, dass die Gleise der Systeme von Heilsverwaltung und Dienstleistung eine gewisse Parallelität aufweisen, hat in den letzten Jahren die Veränderungsdynamik in Richtung Großgemeinden bewegt.

Unter die Räder gekommen ist vielerorts die Gemeinde als symbolisch konstituierte Gemeinschaft. Gegen gesellschaftliche Tendenzen der Individualisierung mühsam erkämpfte Gemeinschaftsbildungen haben ihre Zentralität und ihre Legitimation verloren. Wo Kirchengebäude zum Abriss freigegeben wurden, hat sich vielerorts erst gezeigt, welche Bedeutung der Beheimatung und Zusammengehörigkeit sie repräsentierten. Symbolische Gemeinschaftsbildungen von einiger Stabilität kommen nicht ohne Erzählungen aus, die Erklärungen für die Besonderheit und Existenznotwendigkeit einer Gemeinschaft liefern. Sie sind auf Akteure angewiesen, die ein besonderes Interesse an der Aufrechterhaltung der Gemeinschaft entwickeln.

Die Strukturveränderungen der letzten Jahre haben die Kirchengemeinden als Gemeinschaften in einen Zustand der Verwirrung versetzt. Gewachsene Gemeinschaftsbildungen haben ihre Grundlage verloren, während für Neukonstruktionen die notwendige Zeit und auch die Motivation fehlten (vgl. Gabriel/Geller). Die Folge ist eine Gewichtsverlagerung innerhalb der dreifachen Struktur der Kirchengemeinde von der Gemeinschaft hin zu Heilsverwaltung und Dienstleistung.

THESE 4: GEMEINDE UND GEMEINSCHAFT ALS ORT DER RELIGION IN DER ENTFALTETEN MODERNE

Der Niedergang der Kirche in ihrer gegenwärtigen Sozialgestalt, gegen den offenbar kein Gegenmittel zu finden ist, fordert heute dazu heraus, Kirche von ihrer gemeindlichen Basis und diese von der Dimension lokaler Gemeinschaftlichkeit her zu denken. Die schon seit dem 19. Jahrhundert beobachtbaren Bemühungen der Kirche, sich partiell modernen gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen, haben eine falsche Richtung genommen. Gerade die katholische Kirche hat sich gegenüber der funktionalen Differenzierung als dem zentralen Entwicklungstrend moderner Gesellschaften ambivalent verhalten.

Die Verkirchlichung des Christentums wie die Säkularisierung der übrigen Funktionsbereiche lassen sich als Teil der Umstellung der Gesellschaft auf die Dominanz funktionaler Differenzierung interpretieren (vgl. Kaufmann 2011, 73-97). Mehr instinktiv als bewusst geplant hat die katholische Kirche die Folgen funktionaler Differenzierung für ihre Gläubigen erfolgreich minimiert. Vom Umbruch zur modernen Gesellschaft im 19. Jahrhundert an bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hat sie für große Teile der katholischen Bevölkerung einen sozialen Schonraum in Gestalt eines Großmilieus errichtet, in dem vormoderne, wenig differenzierte Lebensformen überdauerten (vgl. Gabriel 2000). Als Teil des neuerlichen gesellschaftlichen Modernisierungsschubs der 1960er Jahre ist das katholische Milieu erodiert.

Religion benötigt Felder undifferenzierten sozialen Lebens.

Die spezifische Entwicklung des Katholizismus in der Moderne lässt sich als empirischer Beleg dafür betrachten, dass die funktionale Differenzierung negative Wirkungen auf die Religion ausübt (vgl. Pollack, 502-516). Insofern ist der Säkularisierungstheorie recht zu geben. Als Konsequenz ergibt sich, dass unter vollständig funktional differenzierten gesellschaftlichen Bedingungen Religion Felder undifferenzierten sozialen Lebens benötigt, um existieren zu können.

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