Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen

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Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen
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Valerio Curcio

DER TORSCHÜTZENKÖNIG IST UNTER DIE DICHTER GEGANGEN

FUSSBALL NACH PIER PAOLO PASOLINI

Aus dem Italienischen von Judith Krieg


»Wie fühlt sich der wahre Sieg an?

Klatschende Hände oder

Erhöhung des Herzschlags?«

Inhaltsverzeichnis

Moritz Rinke: Jedes Tor ist eine eigene Erfindung

Einleitung

DER FUSSBALLFAN

Bologna, die Rot-Blaue

Die Siegermannschaft, vor der die Welt erzittert

Eine Fernbeziehung

Gastmahl der Liebe

Zwei Fußball-Legenden

Sympathien für den AS Roma

DER FUSSBALLSPIELER

In Bologna

Im Friaul

Die Jahre in Rom

Die Nazionale dello Spettacolo

1900 gegen 120

Das letzte Spiel?

DER ERZÄHLER

Fußball in der Vorstadt

Körper im Singular, Körper im Plural

Der Fußball der »Unverdorbenen«

Die Reportage über den Gott

DER SPORTREPORTER

Das Schauspiel auf den Rängen

Die Olympischen Spiele 1960

Der Volkssport

DER INTELLEKTUELLE

Opium fürs Volk?

Die Linguistik des Fußballs

Der letzte sakrale Ritus

INTERVIEWS ZUM FUSSBALL

Fußball als Sprache, Fußball als Ritus – Im Gespräch mit Guido Gerosa

Pasolinis letztes Interview zum Thema Fußball

Claudio Sabattini: Sport – Religion unserer Tage

Fußball als Therapie – Pasolini im Gespräch mit Claudio Sabattini

Im Gespräch mit Dacia Maraini

ANHANG

Dank

Bibliografie

Anmerkungen

VOR DEM ANSTOSS

Moritz Rinke Jedes Tor ist eine eigene Erfindung

Pier Paolo Pasolini, der große, freibeuterische Autor von Ragazzi di vita und Petrolio war offenbar besessen vom Biavati-Übersteiger. Amedeo Biavati war der vielleicht beste italienische Halbstürmer vor dem Krieg. Er begann seine Karriere bei Pasolinis Herzensverein, dem FC Bologna. Bei seinem Debüt 1933 in Serie A erzielte er innerhalb von zwei Minuten zwei Tore gegen den AC Casale, im nächsten Spiel traf er gleich wieder zweimal gegen den AC Mailand.

Pasolini muss das alles während seiner Schul- und Studienzeit verfolgt haben, auch die Weltmeisterschaft 1938 in Frankreich. Drei Spieler des neuen Weltmeisters Italien kamen aus Bologna, darunter natürlich auch Biavati mit zwei Vorlagen zum 4:2 gegen Ungarn.

Von diesem Finale existieren noch ein paar holprige, mal dunkler, mal heller flackernde Filmaufnahmen. Die Technik und Bewegungen der Spieler wirken von heute aus betrachtet wie aus der Bezirksklasse, aber in der zweiten Halbzeit sieht man einmal einen Sturmlauf von diesem Biavati über rechts, der schon ein bisschen die späteren Sturmläufe des Arjen Robben vorwegnimmt.

Ich bin alle Filmarchive durchgegangen, um weitere Spielszenen mit Biavati zu finden, weil sie mir plötzlich als Schlüssel zum Verständnis des Pier Paolo Pasolini erschienen, aber Aufnahmen vom berühmten Biavati-Übersteiger konnte ich nirgendwo finden.

Biavati hat den Übersteiger auch nicht erfunden. Diese Technik, bei der ein Spieler einen Fuß über den Ball setzt und damit einen Richtungswechsel antäuscht, sah man offenbar zuerst bei dem argentinischen Flügelstürmer Pedro Calomino, der ab 1911 für die Boca Juniors spielte. Amedeo Biavati aber machte die Technik in Italien bekannt, wo sie in den Dreißigern als doppio passo (Doppelschritt) in die Geschichte einging. Heute ist sie auf der ganzen Welt bekannt, insbesondere durch Cristiano Ronaldo und seine manchmal etwas affig wirkende Technik des Mehrfach-Übersteigers.

Pasolini muss sich ab dem 11. Lebensjahr in Bologna, auf den Wiesen von Caprara, mit dem Übersteiger Biavatis beschäftigt haben – so wie ich mich auf den Wiesen des Worpsweder Teufelsmoors mit dem Fallrückzieher von Klaus Fischer beschäftigte, den ich dann das erste Mal Mitte der Achtziger in einem Spiel für den FC Worpswede gegen den TSV Ritterhude einsetzte. Ich weiß es noch, als sei’s erst gestern gewesen.

Es sind diese besonderen Spieler und ihre Bewegungen, die einen für ein ganzes Leben prägen können. So muss es auch mit Pasolini und Biavatis Übersteiger gewesen sein. Er übte ihn als Gymnasiast auf den Caprara-Wiesen, später auf den Plätzen der römischen Vorstadt, und er wendete ihn dann sein ganzes Leben an, wann immer er ein Spiel hatte. Und Pasolini hatte viele Spiele.

Es gibt noch eine andere besondere Begebenheit, die von Pasolinis Liebe zum Fußball erzählt und die mich wirklich tief berührt.

1963, in der Saison, als der FC Bologna zum siebten Mal italienischer Meister werden sollte, interviewte Pasolini die Spieler des FC Bologna. Das Thema war leider nicht der Übersteiger von Biavati, sondern das Verhältnis der Italiener zur Sexualität; das Ganze war für einen Dokumentarfilm mit dem Titel Gastmahl der Liebe gedacht. Pasolini hatte sich lange auf das Interview vorbereitet, war bereits Tage vorher an den Drehort gekommen, das Sportzentrum des FC Bologna.

Die Videoaufnahme des Interviews ist heute bei YouTube anzusehen. Pasolini im schwarzen Anzug, offenbar auch gerade beim Friseur gewesen, steht geradezu feierlich vor den Spielern in ihren Trainingsanzügen. Er wirkt wie ein hilfloser Liebender vor den Anbetungswürdigen, die dumpf, auch etwas stumpf wirken und ihm keinen brauchbaren Satz schenken können.

Mir ist das, was Pasolini mit den Spielern vom FC Bologna widerfuhr, auch schon passiert. In meine Nibelungen kam einmal bei den Wormser Nibelungenfestspielen die gesamte Mannschaft von Bayer 04 Leverkusen, kein Herzensverein wie der FC Bologna, aber immerhin spielten da gerade eine Reihe illustrer Profis. »Hat euch die Darstellung des Siegfrieds gefallen?«, fragte ich das Team danach. Michael Ballack kaute Kaugummi, als ob er mich gar nicht gehört hatte; Bernd Schneider starrte in die Kulissen, Lúcio lächelte an mir vorbei.

Die Liebe der Kulturschaffenden zum Fußball ist manchmal so glühend und blind, dass wir in die Protagonisten des Fußballs – unsere Sterne! – alles hineinprojizieren, was ohnehin schon in uns an Überhöhung vorhanden ist.

 

Der italienische Regisseur Sergio Citti, berichtete nach einem Treffen von Pasolini mit Bulgarelli, dem jungen Kapitän vom FC Bologna, dass Pasolini gewirkt hätte, als habe er Jesus gesehen.

So etwas kann ich mir bei Pasolini absolut vorstellen, weil ich es von mir selber kenne. Man vergisst in dem Moment auch den eigenen kulturellen Stellenwert und steht plötzlich ganz blank und zart vor seinen Kindheitsträumen und jenen, die sie verkörpern. »Meiner Ansicht nach lebte Pier Paolo mit rückwärtsgewandtem Blick. Er blickte seinem Kinder-Ich hinterher, das sich davongemacht hatte. Wenn er spielte, dann nahm dieses Kind zusammen mit dem Fußball wieder Gestalt an; wenn er mit dem Spielen aufhörte, verwandelte er sich aufs Neue in den unruhigen, geplagten Erwachsenen, zu dem er geworden war« – genauer und schöner als die Schriftstellerin Dacia Maraini kann man diese Liebe aus Kinderzeiten nicht beschreiben. (Wie Pasolini im Friaul an den Lippen von Fabio Capello, dem früheren italienischen Nationalspieler, hing, das lese man nach in diesem Buch!)

Ich erinnere mich noch an ein Gespräch vor einigen Jahren mit Günter Netzer bei einem Länderspiel in Mönchengladbach. Wir saßen danach an der Hotelbar, und ich hörte zu, wie Netzer von den alten Zeiten erzählte. Auch ich hing an Netzers Lippen. Ich erinnerte mich, dass meine Tante Anfang der Siebziger in ihn verliebt war und wie sie, ohne eigenes Fernsehgerät, immer zu uns kam, wenn es Länderspiele gab, bei denen Netzer mitspielte oder sich sogar selbst bei Spielen einwechselte. Ich erinnerte mich auch an die Begeisterung von Joseph Beuys für Netzer: Er hatte ihm sogar eine Professur für angewandte, ausübende und praktizierende Kunst an der Kunsthochschule in Düsseldorf angeboten!

Ich fragte Netzer an diesem Abend an der Hotelbar, ob er sich noch an das Angebot von Beuys in Sachen Kunsthochschule Düsseldorf erinnern könne. Netzer sah mich an, sagte nichts und sprach dann mit den anderen über Fortuna Düsseldorf, nicht über die Kunsthochschule. Ich dachte sofort, dass Beuys oder irgendjemand anderes sich das damals mit Netzer und der Professur nur ausgedacht hatte, um die Liebe der Kultur zu den auratischen Spielern noch weiter zu erhöhen.

Pasolini ließ für den Fußball sogar seine berühmte Kapitalismuskritik ruhen, als er von einem Bekannten auf der Frankfurter Buchmesse hörte, dass es in der Nähe ein neues Fachgeschäft gebe mit neuartiger Adidas-Fußballbekleidung. Pasolini verließ sofort die Buchmesse und kaufte für seine Mannschaft ein, offenbar ohne seine berühmte Verachtung für bourgeoise Kaufgier.

Natürlich hatte auch Pasolini eine eigene Mannschaft gegründet, genau wie ich. Seine hieß die Nazionale dello spettacolo, meine die Autorennationalmannschaft, abgekürzt: Autonama, ein Name, der Pasolini bestimmt gefallen hätte.

Mein Leben als Schriftsteller hatte sich mit der Gründung einer eigenen Mannschaft seltsam verwandelt, wie das von Pasolini, als er seine Mannschaft hatte und quer durch Italien und Europa reiste, um Fußball zu spielen.

Begonnen hatten wir 2005 in Mecklenburg-Vorpommern. Auf einer Wiese ohne Tore trafen sich 11 Schriftsteller, um in einer feierlichen Zusammenkunft die deutsche Autorennationalmannschaft zu gründen. Einer stand am Rande und versuchte ein ums andere Mal den Ball hochzuhalten, wie Sisyphos; ein anderer fiel in eines der Löcher in der Wiese und brach sich den Arm. Immerhin stand, kopfschüttelnd zwar, auch ein ausgewiesener Trainer auf der Wiese: der damalige Coach von Hertha BSC, Hans Meyer. Mit ihm reisten wir dann zur ersten Autoren-Weltmeisterschaft nach Italien, in die Toskana, nach San Casciano, es gab vorerst nur vier Teams. Wir spielten zuerst gegen Italien. Hätte dieses Spiel 30 Jahre früher stattgefunden, ich könnte wetten, bei der Gelegenheit hätte ich Pasolini kennen gelernt. Er hätte auf der einen Seite gestürmt, ich auf der anderen. Und er hätte dann mein 1:0 gesehen, kein Fallrückzieher, aber ein Flugkopfball aus acht Metern, bei dem ich in eine halbhohe Flanke von rechts hechtete.

Es gibt einige Berichte über dieses Tor, auf Italienisch, auf Deutsch. Manchmal habe ich dieses Tor gegen Italien auch selbst kommentiert, wie Pasolini seine Tore manchmal ebenfalls selbst kommentiert bzw. Spielberichte nachkorrigiert hat: »Ich füge euch diese Notiz aus dem Popolo del Friuli an, die – unter anderem – fehlerhaft ist und wie folgt angepasst werden muss: ›Als Erster traf Cecchet mit einem Elfmeter in der 20. Minute. Darufhin kam es auf dem Platz zu Krawallen zwischen Spielern, Schiedsrichter und Zuschauern; doch als wenige Minuten später wieder Ruhe eingekehrt war, schoss Pasolini mit einer Einzelaktion das zweite Tor.‹«

So etwas will man später über sich in den Biographien und Geschichtsbüchern lesen, und darum korrigieren Autorenspieler wie Pasolini oder ich die Spielberichte. »Jedes Tor ist eine eigene Erfindung«, schreibt Pasolini. »Jedes Tor ist Unausweichlichkeit, Geistesblitz, Staunen, Irreversibilität. Genau wie das dichterische Wort. Der Torschützenkönig einer Meisterschaft ist jedes Mal der Jahresbeste unter den Dichtern.«

Längst ist der DFB auf meine Mannschaft aufmerksam geworden und kleidet uns wie eine richtige Nationalmannschaft. Wir haben bereits mit Hymnen gegen England, Frankreich, natürlich immer wieder gegen Italien, gegen Ungarn, Israel, Norwegen, gegen die Ukraine und die Türkei, gegen Polen, Brasilien, Argentinien usw. gespielt. Manchmal rief mein Verlag an und fragte, wo denn das neue Theaterstück bliebe, und ich antwortete: Bald, nach dem nächsten Spiel! Pasolini machte es ja genauso, er richtete sogar seine Drehpläne nach seinen Spielen aus. Es ist eben eine Sache des Herzens und der Prioritäten.

Nach der Autoren-WM in der Toskana (bei der wir im Finale unterlagen) bereitete sich meine Mannschaft schon auf die nächste WM in Schweden vor, sie fand in Malmö statt, genau in dem Stadion, in dem der junge Pelé 1958 mit Brasilien Weltmeister geworden war. Das war auch mein Ziel, Weltmeister werden. Ich war nicht nur klassischer Mittelstürmer der Mannschaft, sondern mittlerweile auch eine Art Oliver Bierhoff der Rahmenbedingungen. Hans Meyer, nunmehr Cheftrainer beim 1. FC Nürnberg, konnte ich dazu bewegen, für uns das Nürnberger Trainingsgelände freizumachen; der DFB stellte den offiziellen WM-Mannschaftsbus von 2006 sowie zwei Physiotherapeuten zur Verfügung. Testspiele gegen Österreich, Saudi-Arabien und Finnland verliefen vielversprechend. Wir waren Gast im Aktuellen Sportstudio und begannen, Fußballbücher herauszugeben. Wir hatten wie Monty Python auf einer Wiese begonnen und jetzt waren wir im Aktuellen Sportstudio! Und Hans Meyer erwähnte mich sogar im Kicker, im geliebten Kicker! Er hängt noch heute am Kühlschrank.

Ich traf mich in der Folge mit Philipp Lahm. Wir sollten uns im Auftrag einer Wochenzeitung über das Schreiben von Büchern unterhalten, er hatte gerade ein Buch über sein Leben herausgebracht, ich eines über Fußball. Ich ging mit Thomas Tuchel in die Bar Tausend und trank die ganze Nacht Mineralwasser. Ich traf mich mit Jürgen Klopp, wir tranken Bier und sprachen über Samuel Beckett. Ich saß mit Thomas Hitzlsperger in der Schaubühne, und er wollte danach über moderne Dramatik sprechen, ich über den VFB Stuttgart. Mit Torsten Frings tauschte ich Stirnbänder in Bremen, Ralf Rangnick nahm mich mit zum Champions League-Finale Barcelona gegen Juventus Turin und telefonierte dabei die gesamten 90 Minuten mit dem Berater von David Selke, während ich versuchte, mich auf Lionel Messi zu konzentrieren. Mittlerweile war es wirklich so, dass die Fußballer sich offenbar gerne mit mir unterhielten, da war etwas entstanden – so wie man in diesem Buch erstaunliche Aussagen Fabio Capellos über Pasolini lesen kann.

Besonders schön war ein Treffen mit Horst Eckel, dem Weltmeister von 1954, der mir von jenem Lied erzählte, dass Sepp Herberger unter der »Brause« nach dem Wundersieg gegen Ungarn zu singen angeordnet hatte. Eckel schloss für einen Moment die Augen, dann sang er: »Hoch auf dem gelben Wagen«, und es war, als stünde ich plötzlich mit unter der Brause in Bern.

Wenn es mir doch vergönnt gewesen wäre, Pasolini kennen zu lernen! All das und mehr hätte ich ihm erzählt. Er hätte von seinen partite, seinen Spielen erzählt, ich von den meinen. In allen Einzelheiten hätte ich ihm mein Tor gegen Italien geschildert, und er hätte gesagt, dass er den Übersteiger à la Biavati immer noch beherrsche.

Einleitung

Pier Paolo Pasolini und der Fußball – das klingt nach einem reizvollen Gespann. Auf der einen Seite der Sport, eine besonders florierende Sparte der weltumspannenden Unterhaltungsindustrie: ein Spektakel, das trotz seiner ungebremsten Vermarktung weiterhin die Gemüter bewegt, dank der Geschichten seiner Protagonisten und der besonderen Beziehung zwischen den Fans und ihrer Mannschaft. Auf der anderen Seite ein sich seinerzeit jeder Vereinnahmung entziehender Intellektueller, dem bald fünfzig Jahre nach seinem Tod eine Anerkennung besonders auch kommerzieller Art zuteilwird, wie sie wohl größer nicht sein könnte – ja, es ließe sich mit Bezug auf die jüngeren Generationen gar von einer Wiederentdeckung sprechen. Das soll nun nicht heißen, Pasolini wäre in Vergessenheit geraten und bedürfte jetzt zum Jahrestag seines 100. Geburtstags einer Exhumierung. Ganz im Gegenteil. Nur wird an ihm, schmerzlich, das Paradoxon sichtbar: Einer der in aller Munde ist, ist umso unbekannter. Was bleibt heute von ihm, der sein Leben lang auch von der Justiz verfolgt wurde? Der sich als Kommunist bekannte, eine widerständige Dichtung schuf, aber wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses stante pede aus der Partei ausgeschlossen wurde? Dem scharfen Kritiker der Konsumgesellschaft, dem tiefschürfenden Ermittler, der politische und industrielle Machtgruppierungen und ihre Verbindungen untereinander ins Visier nahm? Der mit seinen immer unbequemeren Wahrheiten, die er mit allen Mitteln der Kunst zum Ausdruck brachte (man denke an seinen Film Salò oder den unvollendeten Roman Petrolio), diese Gesellschaft schütteln, aufrütteln, wecken wollte? Der immer wieder für Skandale sorgte, aber nicht um des Skandals willen, sondern der Erkenntnis und der Wahrheit wegen?

Die Figur Pasolini hat – unter anderem im Rahmen eines öffentlichen Interesses an der städtischen Peripherie – seit geraumer Zeit sämtliche Medien und Kommunikationskanäle erobert: von Filmen und Graffitis über soziale Netzwerke und Ausstellungen bis hin zu Theateraufführungen und themenbezogenen Stadtrundgängen. Sein menschliches und künstlerisches Erbe wird dabei häufig auf stark vereinfachende, oberflächliche und auch verklärende Weise nachgezeichnet, verengt sich der Blick doch auf die Figur des »Dichters der Borgate«1, auf den Intellektuellen, der am Leben in den Vorstädten Anteil nahm und ihnen durch seine Kunst Würde und Wert verlieh. Und diese Vereinfachung macht Pasolini »konsumierbar«, für alle verfügbar: Gerade der stets auf seine Unabhängigkeit bedachte Intellektuelle ist mittlerweile vollends zu einer Art offiziell abgesegneter Heldenfigur, einer Pop-Ikone geworden. Heute erschrickt er niemanden mehr von den Mächtigen dort im Palazzo, den er zeit seines Lebens durchleuchtet und bekämpft hat. Ja, er wird von jedermann nach Belieben gefeiert, Politiker der Linken, der Mitte und sogar der Rechten bedienen sich einzelner Aussprüche, Sätze, schmücken sich mit seiner Figur. Dazu tragen sicher auch die heutigen Möglichkeiten medialer Verbreitung bei: Denn ebenjene Konsumgesellschaft, die Pasolini schon damals aufs Schärfste verurteilte, reproduziert nun sein Abbild in Serie, macht aus ihm im Zuge einer Kampagne post mortem eine Marke, wie es bereits bei Che Guevara als illustrem Vorläufer geschehen ist. Und sein politischer Standpunkt, sein Leben, seine Persönlichkeit, ja sogar seine Werke treten hinter dem übermächtigen Bild zurück.

Um Pasolini gerecht zu werden, müssen wir dieses vereinfachende Narrativ der Popkultur verlassen, uns ihm auf anderen Wegen nähern. Insofern sollte es nicht verwundern, dass sich nun ein Buch just Pasolinis Verbindung zum Fußball annimmt, die in der Betrachtung seines Lebens und Werks bislang eine Nebenrolle gespielt hat. Für Pasolini aber war der Sport die reinste Form der Erkenntnis, seiner selbst und der anderen, und so können wir mit Adriano Sofri sagen: »Es gibt nichts, was Pasolini, sein Wesen, besser erklären könnte als der Fußball.«2

 

Die beschriebene Gemengelage war also Anstoß und Grundlage für dieses Buch, in dem Pasolini und der Fußball im Mittelpunkt stehen: Es handelt sich selbstredend nicht um eine schlaglichtartige, oberflächliche Momentaufnahme, wie sie etwa ein Foto von ihm auf einem kleinen Fußballplatz aus festgestampfter Erde, er in eleganter Kleidung inmitten von zerlumpten Jugendlichen, oder ein kurzes Zitat zur liturgischen Funktion des Stadionbesuches in der heutigen Gesellschaft bieten. Nein, bei Pasolinis Verbindung zum Fußball geht es um sehr viel mehr: um ein vollkommenes, authentisches, tiefes und zugleich kaleidoskopisches Sich-Versenken, wie man es so selbst beim begeistertsten aller Fußballfans nur selten findet.

Vor diesem Hintergrund also wird der Versuch unternommen, Pasolinis vielseitigen Zugang zum Fußball allumfassend zu rekonstruieren. Die Erzählung folgt einer Art Mosaik aus fünf Kapiteln, den unterschiedlichen, nebeneinander existierenden Linien gewidmet, an denen entlang sich Pasolinis Liebe zum Fußball entwickelt hat: Da ist die nie erkaltete Leidenschaft für den FC Bologna, schon in Jugendtagen Verein seines Herzens; da sind seine eigenen Erfahrungen als Spieler, ob auf kleinen Plätzen der römischen Peripherie oder in großen Stadien in ganz Italien; die Spuren, die der Fußball in vielen seiner Werke hinterlassen hat, in den Erzählungen wie in den Romanen; seine zwar sporadische, aber intensive Arbeit als Sportjournalist, etwa anlässlich eines römischen Derbys oder bei der Olympiade im Jahr 1960; und zu guter Letzt seine so gewichtigen wie originellen Beiträge zur Rolle des Fußballs in der zeitgenössischen Gesellschaft. Möglicherweise lässt sich der originellste Wesenszug dieser Beziehung zwischen Pasolini und dem Fußball besonders gut anhand seiner persönlich gefärbten, sozialanthropologischen Deutung aufzeigen: jener »Linguistik des Fußballs«, die im Ballsport ein Zeichensystem sieht, auf dessen Grundlage der »heilige Ritus« im Stadion Gestalt annimmt, ein Ritus, der in gleichzeitiger physischer Anwesenheit sowohl der Fans/Gläubigen auf den Rängen als auch der zweiundzwanzig Spieler/Priester auf dem Platz zelebriert wird. Kurzum, Pasolini begreift den Fußball als universelle Sprache, als Mittel der Kommunikation, der Interaktion, der Teilhabe: Und dies gilt im gleichen Maße für die Schotterplätze der römischen Peripherie wie für die großen Spektakel der ersten Liga.