Chaosköniginnen

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Chaosköniginnen
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Inhalt

BESTE FREUNDINNEN

DER MOLLENHAUER

ABSERVIERT

CHAOS

AUF ALLEN VIEREN

POMMES SCHRANKE

SCHULVERWEIS

CHAOSKÖNIGINNEN

DER 19. MAI

TUSSI-KUSSI UND GANGSTER-BOUNCE

WO DIE LIEBE HINFÄLLT …

KLARTEXT

UNGEKÜSST

LIEBESKUMMER

SCHERENSCHNITT

ÜBERRASCHUNGSGAST

DAS BESTE GEFÜHL DER WELT


BESTE FREUNDINNEN


Fritzi sitzt in ihrer Lieblingsjeans und ihrem neuen Sweatshirt auf der Bettkante und wippt kaum merklich mit den Knien auf und ab. Seit Wochen wartet sie nun schon auf diesen Tag. Heute ist es so weit. Um genau zu sein, in drei Minuten – denn dann landet ihre beste Freundin Lou endlich wieder am Flughafen! Heute ist der erste Schultag nach den großen Ferien. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt fünf Uhr siebenunddreißig. Sein leises Ticken hallt in der Stille des Morgens wider. Dann endlich, das erste sachte Vogelgezwitscher. Fritzi blickt zum Fenster hinüber. Gleich wird die aufgehende Sonne ihre ersten Strahlen durch die Vorhänge ins Zimmer werfen und dieser Tag nimmt endlich seinen Anfang!

Die Sehnsucht nach Lou wird von der Vorfreude auf das bevorstehende Wiedersehen abgelöst. Klar, mit der besten Freundin ist man auch verbunden, wenn sie am anderen Ende der Welt ist, aber um ganz ehrlich zu sein: Die letzten sechs Wochen ohne sie waren die reinste Qual für Fritzi. Lou war auf den Kanaren bei ihrer Mutter und Fritzi hatte sich so sehr gewünscht, sie zu begleiten. Aber der Lieblingsspruch ihres Vaters ließ nicht lange auf sich warten: »Wenn man einen Gasthof betreibt, macht man keinen Urlaub, man bietet Urlaub.« Fritzi selbst betreibt natürlich keinen Gasthof, sondern ihre Eltern.

»Wir brauchen dich hier in der Grünen Gans«, hat ihre Mutter behauptet. Wer es glaubt, wird selig: ein paar Gästebetten aufschütteln und das bisschen Staub saugen ist doch kein Hexenwerk, das nur eine Siebtklässlerin beherrscht! Und bei Frühstück und Mittagstisch hilft ohnehin Sandrine. Sie arbeitet als eine Mischung aus Kellnerin, Köchin und Mitarbeiterin des Monats in der Grünen Gans. Zehn Fritzis könnten nicht so gut helfen wie eine Sandrine. Eigentlich hätten ihre Eltern froh sein müssen, dass nicht Sandrine auf die Kanaren fliegen wollte, sondern nur ihre Tochter!

Der eigentliche Grund, warum sie nicht mitdurfte, heißt Marlene, ist elf Jahre alt und hat nur Blödsinn im Kopf. NUR ist hier absolut wörtlich zu nehmen. Zum Leid aller ist ihre kleine Schwester davon überzeugt, dass genau dieser Blödsinn die Lösung jedermanns Probleme wäre, dabei ist er meist der Anfang allen Übels! Marlene durchstöbert gerne die persönlichen Sachen der Gäste, bedient sich an ihrer Schminke, benutzt ihr Parfum und streut allen, die (ihrer Einschätzung nach) nicht freundlich genug sind, Juckpulver aufs Kopfkissen oder spuckt ihnen heimlich in die Suppe. Ihr ist nichts peinlich oder unangenehm. Wenn es jemand schafft, Marlene (hin und wieder) von Blödsinn abzuhalten, dann ist es Fritzi.

Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt fünf Uhr achtunddreißig. Wie langsam kann Zeit eigentlich vergehen? Ob Lou ihr schon eine Nachricht geschrieben hat, dass sie gut gelandet ist? Bei dem Gedanken daran macht Fritzis Herz einen kleinen Hüpfer. Sie wirft einen Blick hinüber zu Marlene, die am anderen Ende des Zimmers im Bett liegt und schläft, dann schiebt sie vorsichtig ihre Decke zurück und steht langsam auf. Ihr Bett gibt ein verächtliches Knarzen von sich. Sie nimmt ihren Schulrucksack vom Stuhl, zieht ihr geliebtes Longboard unter dem Bett hervor und verlässt leise das Zimmer.

Fritzi brennt darauf, Lou von ihrer Entdeckung zu erzählen. Die neue Umgehungsstraße im Wäldchen ist endlich fertig. Wenn man leidenschaftlich gerne Longboard fährt, so wie Fritzi und Lou, ist diese neue Straße ein asphaltierter Traum zwischen Kiefern und Fichten. Bei ihrer ersten Abfahrt wurde Fritzi so schnell, dass ihr ganzer Körper gekribbelt hat. Sie ist tief in die Hocke gegangen. Das Longboard hat unter ihren Füßen vibriert und sie hat einen lauten Freudenschrei losgelassen. Kurz darauf hat es sie total zerrissen. Sie hat das Gleichgewicht verloren und ist mit einem Salto mortale in die nächste Hecke geflogen. Salto mortale nennt ihr Vater solche Stürze, bei denen man sich achtkantig auf die Schnauze legt und nur haarscharf an richtig üblen Verletzungen vorbeischlittert.

Sie kommt in die geräumige Wohnküche. Hier ist bereits das Licht an. »Morgen, Papa.«

»Morgen! So früh schon unterwegs?«

»Jo, kann ich mein Handy?«

»An die Wand klatschen?«

»Nein«, sie verdreht die Augen. »Haben. Bitte.«

Sven öffnet den Schrank und gibt Fritzi ihr Handy. Es dauert immer eine halbe Ewigkeit, bis das alte Ding anspringt.

»Magnus diem parari?«, fragt ihr Vater in geschwollenem Tonfall.

»Magnum was?«

»Magnus diem parari!«, wiederholt er und setzt Teewasser auf.

»Nee danke, ich will kein Eis zum Frühstück.«

»Das ist Latein«, erklärt Sven und drückt ihr einen Stapel Teller in die Hand.

Ein Schlüssel klimpert an der Haustür, eine freundliche Stimme flötet: »Bonjour, tout le monde.«

»Guten Morgen, Sandrine«, antworten Fritzi und ihr Vater im Chor.

Fritzi verteilt die Teller für Familie und Gäste auf dem langen Frühstückstisch. »Was heißt denn jetzt dieses Magnum diem-Dings?«

»Bist du ab heute Lateiner oder ich?«

»Erstens lerne ich das erst und zweitens bin ich dann LateinerIN.«

Sven schüttelt den Kopf. »Ihr mit eurem Gendern.«

»Das nennt sich Weiterentwicklung, Papa. Ist eben nicht mehr alles so männerdominiert, wie als du jung warst.«

»Willst du etwa sagen, ich bin alt?«, fragt er und bemüht sich, richtig empört zu gucken.

»Papa, du bist alt«, gibt Fritzi trocken zurück.

Bevor er noch etwas erwidern kann, betritt Sandrine die Küche. »Et voilà, die Brötschen.« Wie jeden Morgen hat sie einen großen Korb mit frischen Brezeln, Croissants und Brötchen dabei.

»Meine Tochter sagt, ich wäre alt, Sandrine.«

Sandrine stemmt die Hände in die ausladenden Hüften. »Das ist noch höflisch, mein Sohn nennt misch einen alten Schachtel.« Sie schüttelt belustigt den Kopf, Fritzi und Sven lachen mit ihr. »Seien Sie froh, dass Sie haben seulement Mädchen, Monsieur Winter.«

Fritzis Vater winkt ab. »Meine Mädchen machen den ganzen Tag nur Chaos. Fritzi lernt ab heute Latein, was sagen Sie dazu?«

»Oh, là, là, Fritzi, mais pourquoi pas le Français?« Sandrine reicht ihr mit einem enttäuschten Blick eine große Kaffeekanne.

»Hätte ich ja gerne, aber unsere Stufe besteht zu 99,9 Prozent aus Honks, da muss man gucken, mit wem man sich zusammentut.«

»Honks?« Sandrine lüpft fragend die Brauen.

»Ja, Honks, Vollpfosten, Deppen, Kleinhirne, Torfnasen, Schrumpfköpfe.« Fritzi flüstert: »I-d-i-o-ten, verstehst du? Wenn du mit denen in einer Klasse landest, ist Schluss, aus, Ende – Leben vorbei! Deswegen wählen Lou und ich Latein.«

»Aber warum nehmt ihr nicht einfach beide Französisch oder Spanisch?«

»Na, weil das alle machen.«

»Klingt für mich eher schlau als honkig.«

»Alles eine Frage des Blickwinkels, Papa. Es gibt zwei Französisch- und zwei Spanischklassen, gerade weil das alle wählen, aber eben nur eine Lateinklasse, ist so!«

»Das ist so, verstehe.«

»Und wenn es nur eine Lateinklasse gibt, ist klar, dass Lou und ich beide in dieser einen Klasse landen, wenn wir Latein nehmen.«

Fritzi schält Bananen für den Obstsalat.

 

»Bedauerlisch, aber da hat ihre Tochter einen Punkt.«

»Klingt für mich, als würden in Latein die Oberhonks landen.«

»Ach, Papa«, für peinliche Wortschöpfungen ihres Vaters hat Fritzi nur ein müdes Kopfschütteln übrig, »solange Lou und ich zusammen in eine Klasse gehen, ist der Rest doch total egal. Können wir jetzt endlich den Obstsalat fertig machen?«

Sven seufzt resigniert, schnippelt die Bananen in Scheiben und wirft sie in die große blaue Schüssel. So machen sie das jeden Morgen: Fritzi wäscht und schält, Sven schneidet. Bananen, Orangen, Äpfel und Beeren.

Es klopft an der Küchentür. »Juten Morgen, die Herrschaften.«

»Guten Morgen, Herr Jakobi, kommen Sie rein, setzen Sie sich«, antwortet Sven.

Herr Jakobi lässt sich am Kopfende des langen Frühstückstischs nieder und reibt sich die Hände. »Jibt et schon Kaffe?«, fragt er in seinem Berliner Dialekt.

»Aber sischer, für Stammgäste wie Sie, Herr Jakobi, toujours«, flötet Sandrine und kommt mit der Kanne herbeigeeilt.

Fritzi wirft beiläufig einen Blick auf ihr Handy. Lou hat sich noch nicht gemeldet. Komisch eigentlich. Doch sie hat keine Zeit, sich weitere Gedanken darüber zu machen, denn Marlene und ihre Mutter Ulla kommen in die Küche, dicht gefolgt von weiteren Gästen. Geschirr klappert, Stühle werden gerückt, die Leute reden wild durcheinander – alles wie immer in der Grünen Gans.

Als Fritzi wenig später mit ihrem Longboard auf den Schulhof rollt, ist sie voller Vorfreude. In ihrem Bauch kribbelt es wie die Kohlensäure in einer frisch eingeschenkten Cola. Überall fallen sich ihre Mitschüler zur Begrüßung in die Arme und erzählen begeistert von den Sommerferien. Fritzi entdeckt Lous hellblonden Lockenschopf in der Menge. Sie steigt vom Board und bahnt sich einen Weg zu ihr hinüber.

»Lou-ise, huhu, hier bin ich!« Fritzi drückt Lou, so fest sie kann. »Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe!«

»Bist du auch so traurig, dass die Ferien vorbei sind? Ich hab echt gar keinen Bock auf Schule«, stöhnt Lou, lächelt Fritzi kurz an und lässt dann den Blick über den Schulhof wandern.

»Nee! Ich bin heilfroh, dass du endlich wieder da bist.« Fritzi hakt sich mit ihrem freien Arm bei ihrer besten Freundin unter. »Wie war denn dein Flug? Wie geht es deiner Ma? War es schön?«

Sie lassen sich von einer Schülertraube Richtung Aula treiben. Statt einer Antwort sieht Lou sich schon wieder in der Menge um.

»Meinst du, unser Plan geht auf? Ich hatte heute Morgen kurz Bammel, dass was schiefläuft«, plappert Fritzi munter weiter. »Mein Vater hat mich irgendwie ganz nervös gemacht. Was ist, wenn dieses Jahr ausnahmsweise doch viel mehr Schüler Latein gewählt haben? Dann wäre die Wahrscheinlichkeit, dass wir zusammen in eine Klasse kommen, unterirdisch klein.«

»Niemand wählt freiwillig Latein«, gibt Lou zurück.

»Außer uns«, ergänzt Fritzi strahlend.

»Mhm.«

»Unser Gast, Herr Jakobi, hat mich beim Frühstück gefragt, ob wir viele Streber in der Stufe haben. Wenn ja, sei die Wahrscheinlichkeit höher, dass mehr als eine Lateinklasse entstünde. Aber wenn man sich unseren Jahrgang so ansieht, gibt es insgesamt gerade so zehn, fünfzehn Streber, oder? Jedenfalls nie genug für eine zweite Klasse.«

RUMMS! Ein groß gewachsener Junge mit wilden Wuschelhaaren läuft mit voller Absicht gegen Fritzis Schulter und macht sich nicht einmal die Mühe, sich zu entschuldigen.

»Ey, Torben, kannst du nicht aufpassen?!«, ruft Fritzi ihm hinterher, aber nur seine Gefolgschaft bemerkt es überhaupt. Yessin ist sehr klein und Bo sehr, sehr dünn.

»Hauptsache Tick, Trick und Track haben nicht auch Latein gewählt! Ich bin heilfroh, wenn wir die endlich los sind. Du auch?« Noch ehe Lou antworten kann, sinniert Fritzi bereits weiter: »Nicht zum Aushalten, für wie cool die sich halten. Mit ihren dummen Sneakern, die sehen doch aus, als wären es Socken. Hier guck mal, so laufen die.« Fritzi imitiert den Gang der Jungs und wippt auf ihren Fußballen, als hätte sie Sprungfedern unter den Fersen.

Lou schmunzelt.

»Na endlich, ich dachte schon, du kriegst deine Mundwinkel gar nicht mehr hoch.«

»Ich? Wieso?«, fragt Lou und lächelt unschuldig.

»Na, das frag ich dich. Freust du dich denn gar nicht, wieder zu Hause zu sein?«

»Doch, doch, schon.«

»Wenn ich im Sommerurlaub gewesen wäre, hätte ich bestimmt auch keinen Bock auf Schule. Aber sieh es mal so, jetzt können wir beide endlich wieder abhängen.«

»Yay«, antwortet Lou und übergeht Fritzis aufmunternden Blick. »Guck mal, in der Mitte ist was frei«, sagt sie und schlängelt sich schon durch die Reihe. Fritzi folgt ihr und lässt ihren Blick dabei durch die Aula gleiten. Ein paar Reihen weiter vorne steht Emma, das mädchenhafteste Mädchen der gesamten Stufe, und zieht aufmerksamkeitsheischend ihre Jacke aus. Drunter trägt sie ein weißes, bauchfreies Top, in ihrem Nabel glitzert ein Piercing und ihren Hals ziert eine geflochtene Tattoo-Kette. Emma winkt überschwänglich in ihre Richtung.

»Was ist ’n mit der los? Meint die etwa uns?!«, fragt Fritzi irritiert. Zu ihrer Überraschung winkt Lou Emma begeistert zurück. »Was geht denn bei euch?« Fritzis Verblüffung grenzt an Entsetzen.

»Emma war in den Ferien mit ihrer Familie auch auf Teneriffa. Sie kann so gut surfen, das glaubst du nicht!« Lou schickt Emma einen Luftkuss, die wiederum formt ihre Hände zu einem Herz.

Fritzi blickt perplex zwischen den beiden hin und her. »Hört man dabei nicht den Wind durch ihre Ohren pfeifen, so hohl wie die ist?«

»Sei nicht so gemein!«

»Das sagst du doch immer?!«

»Schon lange nicht mehr.«

»Zuletzt vor den Ferien?!«

»Sechs Wochen sind ’ne lange Zeit!«

»Apropos lange Zeit«, erwidert Fritzi in versöhnlichem Tonfall, denn Streit noch vor der ersten Stunde braucht keiner, nicht wegen so einer Bratbirne wie Emma Dörschner. »Die Umgehungsstraße im Wäldchen ist endlich fertig! Ich wette, da schaffen wir fünfzig km/h, wenn nicht sogar sechzig. Einen Teil hab ich schon getestet! Das war der absolute Wahnsinn.«

Lou antwortet nicht.

»Wir können aber natürlich auch zur Baracke und von dort am Freibad vorbei, wenn dir das lieber ist?« Von der alten Holzhütte aus führt ihre Lieblingsstraße am Freibad entlang bergab. Man wird so schnell, dass die Häuser am Straßenrand verschwimmen und einem die Augen tränen. Kurz vor der großen Kreuzung steigt die Straße wieder an. Ist man zu langsam, muss man den Hügel hochlaufen, ist man zu schnell, brettert man entweder in den Verkehr oder in eine pieksige Ligusterhecke. Vor den Ferien waren sie dort jeden Tag und haben geschrien vor Glück, wenn ihr Tempo sie genau bis zum höchsten Punkt des Hügels getragen hat.

Doch jetzt schüttelt Lou kaum merklich den Kopf. »Ich hab mein Longboard verschenkt.«

»Sehr witzig.«

»Mein Cousin wollte es sich eigentlich nur ausleihen über den Sommer, aber ich hab gesagt, er kann es behalten. Macht mir eh keinen Spaß mehr.«

Fritzi klappt der Mund auf.

Lou macht eine abschätzige Geste in Richtung von Fritzis Longboard. »Mich nervt es, das Ding immer mit mir rumzuschleppen, ich finde es irgendwie so kindisch, zu männlich, verstehst du?«

Fritzi schüttelt entgeistert den Kopf. Bevor sie weiter darauf eingehen kann, tritt die Schulleiterin Frau Doktor Fleck vor und begrüßt die Schüler zum neuen Schuljahr. Dann wendet sie sich an ihren Jahrgang: »Liebe Siebtklässler und Siebtklässlerinnen, ihr alle seid nun Teil der Mittelstufe und habt eine zweite Fremdsprache gewählt. Eure Klassenlehrer rufen jetzt nacheinander ihre Schüler auf. Ihr kommt nach vorne und geht dann gemeinsam in euren neuen Klassenraum.«

Unter normalen Umständen würde Fritzi das Geschehen auf der Bühne voller Spannung verfolgen, aber sie ist mit ihren Gedanken woanders. »Du hast dein Longboard verschenkt? Einfach so?«

Lou wird jeden Augenblick ein »Haha, gepranked!« von sich geben, sie muss, aber sie tut es nicht, sondern starrt immer noch wie gebannt geradeaus. Die Klassen Sieben a, b und c verlassen bereits hintereinander die Aula.

Fritzi redet sich um Kopf und Kragen. »Du könntest dir ein Drahtschloss zulegen, damit kann man das Board einfach an den Fahrradständer anschließen, ich glaub, ich hab noch eins zu Hause.« Lou reagiert gar nicht auf Fritzis Vorschlag, also setzt sie erneut an: »Ich bin sicher, wenn du die neue Strecke erst mal ausprobiert hast, willst du nie wieder was anderes fahren!« Um das Schweigen zu überbrücken, flüstert sie hektisch weiter: »Wir können uns ja heute auch mein Board teilen! Oder wir holen mein altes?«

»Lass mal gut sein.«

»Wie jetzt, lass mal?«

Lou blickt Fritzi resigniert an und sagt: »Zeiten ändern sich, Fritzi, checkst du das?«

Das klingt, als wären Jahre vergangen, dabei waren es doch bloß sechs Wochen Sommerferien.

»Bist du etwa sauer auf mich, weil ich nicht mitgekommen bin? Du weißt doch genau, dass meine Eltern es nicht erlaubt haben!«

Lou schüttelt den Kopf. »Du verstehst es einfach nicht, oder?«

Herr Renneberg tritt nun vor, der Lehrer der zweiten Französischklasse.

»Hä, was verstehe ich denn nicht?«

»Können wir jetzt da zuhören?«

Fritzi verschränkt die Arme vor der Brust. Sie hat immer noch keine Lust auf Streit mit Lou, aber muss sie sich deswegen wirklich alles gefallen lassen heute?! Vielleicht hilft ja ausnahmsweise ein Tipp ihrer Mutter: Atmen.

»Abel, Mandy.« Das Mädchen neben Emma erhebt sich und geht nach vorne.

»Dörschner, Emma«, ertönt Herr Rennebergs Stimme.

Tatsächlich, atmen hilft. »Die Eiscafé-Tussis sind wir schon mal los, ein Glück. Jetzt noch Torben, Yessin und Bo dazu, und wir haben gewonnen«, freut sich Fritzi und versucht, gut Wetter zu machen.

Aber Lou reagiert nicht und als Nächstes wird auch keiner der Jungs genannt, sondern Herr Renneberg ruft: »Müller, Louise.«

Fritzi lacht verwirrt los. »Hä? Was ist denn da schiefgelaufen?!«

»Ich wollte es dir die ganze Zeit schon sagen.« Lou weicht beschämt ihrem Blick aus. »Ich hab doch Französisch gewählt.«

Fritzi starrt sie mit offenem Mund an. Lou steht auf, bahnt sich ihren Weg durch die Sitzreihen zu ihrem neuen Klassenlehrer und Fritzi bleibt allein auf ihrem Stuhl zurück.

Ihr Gesicht ist kreidebleich, die Hände sind schweißnass. Sie steht unter Schock. Auf der Bühne wird ihre beste Freundin von den Eiscafé-Tussis begrüßt, als wäre sie eine von ihnen. Herr Renneberg führt seine Klasse aus der Aula und hinterlässt eine leere Bühne – leer wie Fritzis Kopf, wie der Platz an ihrer Seite, wie das Gefühl in ihrer Magengegend.

Passiert das alles gerade wirklich?!


DER MOLLENHAUER


»Schönchen.« Ein in die Jahre gekommener Lehrer in Pullunder und ausgebeulten Cordhosen steht auf der Bühne und streicht sich die fettigen Haarsträhnen über die Glatze. »Mein Name ist Mollenhauer. Alle Siebtklässler und Siebtklässlerinnen, die jetzt noch übrig sind, bitte mal aufstehen. Sie haben also Latein gewählt und kommen mit mir.« Er winkt den Schülern, ihm zu folgen, und führt sie hinaus auf den Hof und dann hinüber zum Nachbargebäude.

›Das ist alles ein furchtbar schlechter Scherz‹, denkt Fritzi, während sie willenlos hinter den andern her trottet. Nein schlimmer, das ist ein richtiger Albtraum! ›Aber das Gute an Albträumen ist, sie gehen vorbei‹, versucht sie, sich selbst Mut zu machen. Hat nicht neulich ein Gast in der Grünen Gans erzählt, dass so ein Horror nie länger als fünfzehn bis zwanzig Sekunden dauert? Fritzi zählt die Sekunden: »Eins, zwei, drei …«

BATSCH!

Ein spuckfeuchtes Papierkügelchen klebt an ihrer Wange. Sie wischt es angewidert mit dem Ärmel ihres neuen Sweatshirts ab und blickt sich um. Torben, Yessin und Bo sehen feixend zu ihr hinüber. Auch das noch!

»He, Fritz.«

»Ich muss verflucht sein«, murmelt sie.

 

»Wo ist deine bessere Hälfte?!«

»Wo ist dein Gehirn, du Spacken?«, kontert Fritzi.

Ein pummeliges Mädchen lacht laut. »Der hat gesessen!« Ihre Stimme ist überraschend tief. Sie lächelt ihr verschwörerisch zu. Fritzi hat sie noch nie gesehen und jetzt gerade ist sie auch nicht bereit, frische Bande zu knüpfen. Nein! Nicht jetzt. Mit niemandem. Ohne das Mädchen weiter zu beachten, eilt sie zu ihrem neuen Lehrer.

»Ähm, entschuldigen Sie?«

Der Lehrer schlurft weiter.

»Hier liegt ein Missverständnis vor.« Sie läuft neben ihm her.

»Ach ja?«

Fritzi nickt. »Ich hab eigentlich Französisch gewählt.«

»Aha.«

»Ich würde einfach eben zu Herrn Renneberg rüber in die Klasse gehen.«

»Name?«

»Fritzi Winter.«

Er wirft einen Blick auf seine Liste. »Sie stehen hier drauf, sie gehen hier rein.«

»Aber …«

»Kein Aber.«

»Na toll, allein unter Honks, super Fritzi«, murmelt Fritzi.

»Wie war das?«, fragt der Lehrer.

»Dann komme ich mal mit in Ihre Klasse!«, antwortet sie lauter als nötig und betritt den Raum.

Sofort stürmen alle Schüler zu den besten Plätzen. Torben, Yessin und Bo sichern sich die letzte Reihe. Oberstreberkuh Petruschka Nowak hat sich den Tisch genau vor dem Lehrerpult ausgesucht und Billa Jahnson fordert den Platz neben ihr ein. Widerwillig nimmt Peti ihren Rucksack zur Seite. Jeder weiß, dass sie eine Einzelgängerin ist. Gerade kann Fritzi sie nur zu gut verstehen. Das pummelige Mädchen von eben setzt sich auf einen freien Platz in die zweite Reihe, Fritzi lässt sich zögerlich am Nebentisch nieder und schiebt das Longboard unter ihren Stuhl. Niemand macht Anstalten, sich zu ihr zu setzen, und Fritzi schiebt erleichtert ihren Rucksack auf den Stuhl neben sich.

Was ist da eigentlich gerade passiert? Ihr Plan wäre doch aufgegangen! Warum hat Lou sich umentschieden und warum, zur Hölle, hat sie ihr nichts davon gesagt? Ihre neuen Mitschüler reden laut durcheinander. Sie spürt, hier gehört sie nicht hin. Aber gibt es jetzt noch einen Weg hier raus? Vielleicht lässt Frau Doktor Fleck mit sich reden? Wenn ihr jemand helfen kann, dann die Schulleiterin.

»Ruhe!«, fordert ihr Lehrer Herr Mollenhauer, nachdem er seinen Namen unleserlich an die Tafel gekritzelt hat.

»Namensschilder raus und zuhören«, verlangt er. Die Klasse gehorcht. Überall ziehen die Schüler Schreibblöcke und Federmäppchen hervor und schreiben ihre Namen auf. Das pummelige Mädchen am Nebentisch stellt sein Schild als Erste auf.

Herr Mollenhauer liest: »Vanzetti, Chiara Vanzetti.«

Sie nickt und wirft ihre langen, dunklen Haare über die Schulter.

»Fetti-Vanzetti!«, johlt Torben aus der letzten Reihe. Gelächter bricht im Klassenzimmer aus.

»Du bist so ein krasser Honk, wenn ich du wär, würde ich schön die Klappe halten!«, sagt Fritzi laut. »So ätzend, wie du dich an den Schwächen anderer stärkst. Findet ihr nicht?« Sie blickt sich in ihrer neuen Klasse um, alle machen große Augen, doch niemand pflichtet ihr bei. Fritzi brodelt innerlich. »Wenn du mich fragst, Torben, bist du ’n armes Würstchen!«

Wieder bricht Gelächter aus, dieses Mal auf Fritzis Seite. Und prompt macht es wieder: BATSCH!

Ein weiteres spuckfeuchtes Papierkügelchen landet mitten auf ihrer Stirn. Die Klasse kann sich nicht mehr halten vor Lachen. Sie wischt das Kügelchen weg – Torben schickt ihr einen Handkuss.

Mit einem strengen »Ruhe!« bringt Herr Mollenhauer die Klasse zum Schweigen, streicht die Spitzen seines spärlichen fettigen Haares glatt und spricht wieder Chiara an: »Tochter vom italienischen Friseur Vanzetti am Marktplatz, nehme ich an?«

Chiara nickt.

»Schön. Sie beherrschen die italienische Sprache?«

Chiara nickt noch einmal.

»Wunderbar. Sie werden sehen, Latein wird eine der leichtesten Übungen für Sie sein.« Er wendet sich zufrieden ab.

Fritzi guckt ihren Lehrer ungläubig an. Kriegt Torben keins auf die Mütze? Keinen Tadel? Keine Ermahnung? Nicht ein Wort? Herr Mollenhauer lächelt selbstgefällig und fragt dann die Klasse: »Wer kann mir sagen, was der Satz an der Tafel bedeutet?«

»Dass sie ein unfairer Idiot sind«, schießt es Fritzi durch den Kopf. Alle drehen sich zu ihr um. Ach du Schande! Hat sie das etwa laut gesagt? Hat sie? Nein, bitte nicht! Bitte, bitte nicht!

Herr Mollenhauer zieht die Brauen hoch. »Fräulein Winter, wie war das?«

Ihr wird heiß und kalt. Der Lehrer kommt auf sie zu, beugt sich zu ihr hinunter, atemberaubender Mundgeruch schlägt ihr entgegen. Sie versucht, einen jähen Würgereiz zu unterdrücken. Herr Mollenhauer hält ihr die Kreide vor die Nase, ohne eine Miene zu verziehen.

»Schreiben Sie die Übersetzung an. Schön leserlich, bitte.«

»Ich, ähm …«

Herr Mollenhauer stößt eine zweite Welle Mundgeruch aus. Fritzi eilt zur Tafel, aber nur um ihrem Klassenlehrer nicht geradewegs ins Gesicht zu brechen.

An der Tafel steht mit weißer Kreide: Faber est suae quisque fortunae.

»Vorlesen und übersetzen!«, fordert Herr Mollenhauer ungeduldig. Fritzis Knie werden weich. Die Worte sehen nicht so aus, als könne man sie aussprechen. Sie wirft dem Lehrer einen prüfenden Blick zu und hat einen Geistesblitz! Was hat ihr Vater heute Morgen noch mal gesagt: »Was willst du mit einer Sprache, die man nicht einmal sprechen kann?«

Sie räuspert sich. »Latein wird doch gar nicht gesprochen, oder?«

»Sie meinen, weil Latein als tote Sprache gilt, könne man sie nicht sprechen?«

Fritzi nickt, ohne zu wissen, ob das nun wirklich genau das ist, was sie meint.

Herr Mollenhauer wendet sich an die Klasse: »Wer kann erklären, warum Latein als tote Sprache deklariert wird?«

Einige Hände schnellen in die Höhe.

»Petruschka, Sie waren wohl die Erste.«

Petruschkas Antwort klingt wie aus dem Lehrbuch: »Latein ist keine tote Sprache, weil man sie nicht sprechen kann, sondern, weil es kein Land und keinen Teil eines Landes mehr gibt, wo ursprünglich Latein gesprochen wird. Somit ist Latein auch nicht die Muttersprache von irgendeiner Bevölkerungsgruppe der Erde, alle lateinischen Muttersprachler sind tot, daher tote Sprache.«

Herr Mollenhauer lächelt zufrieden. »Da hören Sie es, Fritzi. Verstanden?«

Sie nickt.

»Na, dann bitte, lesen Sie vor.«

Sie wendet sich wieder der Tafel zu und versucht, die einzelnen Worte auszusprechen, wie es ihr in den Sinn kommt: »Faba es sui kiske fortunä?« In ihrem Kopf klingt es wie eine Fantasiesprache.

»Ich nehme an, die Übersetzung kennen Sie nicht?«

Fritzi schaut sich Hilfe suchend im Klassenzimmer um, von dieser Gurkentruppe braucht sie aber scheinbar keine Hilfe zu erwarten. Einzig die freundlichen braunen Augen von Chiara halten ihrem Blick stand, doch ihre Lippenbewegungen ergeben für Fritzi ebenso wenig Sinn wie die Worte an der Tafel. Sie schüttelt niedergeschlagen den Kopf.

Herr Mollenhauer seufzt. »Schade, setzen, Winter. Petruschka, würden Sie es noch mal probieren?«

Petruschka, auch Peti genannt, ist das wohl durchgeknallteste und schlauste Mädchen der ganzen Stufe. Sie trägt ihre glatten Haare als kurzen Bubi-Schnitt mit Pony. Hinter der riesigen Opa-Brille auf ihrer Nase versteckt sie hübsche große Augen und eine ebenmäßige glatte Pfirsichhaut. Sie hat immer eine Strickjacke an, sowohl bei strahlendem Sonnenschein als auch bei Schneegestöber. An ihren Ohren baumeln auffällige Federohrringe. Manche behaupten, sie wäre so schlau, dass sie sich für etwas Besseres hielte. Hin und wieder kommt sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder Jannik zum Essen in die Grüne Gans. Jannik geht schon in die Neunte und fast alle Mädchen sind in ihn verliebt. Er ist größer als die anderen, hat warme dunkelbraune Augen und rotbraune, wuschelige Haare. Petis Vater ist Kommissar Nowak, man behauptet, kein Geheimnis in Neustadt sei vor ihm sicher.

Als Peti jetzt vorliest, was an der Tafel steht, betont sie jedes Wort am Ende und verzieht dabei komisch den Mund. »Jeder ist seines Glückes Schmied«, übersetzt sie dann und schreibt es unter den lateinischen Satz.

Herr Mollenhauer klatscht begeistert Beifall. »Toll! Petruschka, toll!«

Fritzi schüttelt den Kopf und hebt ihre Hand in die Höhe. »Ähm, Herr Mollenkauer, eine Frage!«

»Winter! Wollen Sie sich mit mir anlegen?«

Fritzi schüttelt entsetzt den Kopf. »Nein! Überhaupt nicht, ich …«

»Dann sprechen Sie meinen Namen bitte richtig aus, ich heiße MollenHAUER nicht -kauer. Verstanden?«

Fritzi nickt beschämt. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Mollenhauer. Ich wollte nur wissen, warum ich schon Latein können muss, wenn wir doch heute die erste Stunde Unterricht haben?«

»Selber denken macht schlau, Fräulein Winter!«

»Ich denke selbst!« So langsam regt sie dieser Blödmann von Lehrer ganz schön auf.

»Entweder Sie mäßigen ihren Ton oder Sie können die Stunde draußen im Flur absitzen.«

»Sie schmeißen mich raus? In der ersten Stunde?! Was hab ich denn gemacht?« Fritzi schäumt über vor Wut. Wenn es eines gibt, was sie nicht ertragen kann, ist es Ungerechtigkeit.

»In diesem Ton reden meine Schüler nicht mit mir. Solche Respektlosigkeiten gibt es bei mir nicht. Verlassen Sie meinen Unterricht, Fräulein Winter, und zwar sofort!«

Ein Raunen geht durch den Raum. Fritzi sieht ihren neuen Klassenlehrer forschend an. Das kann er nicht ernst meinen, sie hat doch gar nichts gemacht! Aber Herr Mollenhauers Gesicht ist wie versteinert.

»Da ist die Tür!«, setzt er nach.

Fritzi stopft ihr Federmäppchen in den Rucksack, zieht das Longboard unter dem Tisch hervor und stürmt aus dem Zimmer. Die Tür fällt mit einem dumpfen Knall hinter ihr ins Schloss.