Der ermordete Gärtner

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Der ermordete Gärtner
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Uwe Schimunek

Der ermordete Gärtner

Ein Katzmann-Krimi

Kriminalroman

Jaron Verlag

Uwe Schimunek, Leipziger Journalist und Autor, schreibt Kurzgeschichten und Kriminalromane. Er liest regelmäßig bei den jährlich stattfindenden Ostdeutschen Krimitagen und im Rahmen des Krimi-Kleinkunst-Programms «Killer-Kantate». Im Jaron Verlag erschienen von ihm in der Reihe «Es geschah in Sachsen» die Bände «Katzmann und die Dämonen des Krieges» (2011) und «Mord auf der Messe» (2012) sowie in der Reihe «Es geschah in Preußen» der Band «Attentat Unter den Linden» (mit Jan Eik, 2012).

Originalausgabe

1. Auflage 2013

© 2013 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520564

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

EINS Sonntag, 23. März 1930

ZWEI Montag, 24. März 1930

DREI Dienstag, 25. März 1930

VIER Mittwoch, 26. März 1930

FÜNF Donnerstag, 27. März 1930

SECHS Freitag, 28. März 1930

SIEBEN Sonnabend, 29. März 1930

ACHT Sonntag, 30. März 1930

NEUN Montag, 31. März 1930

NACHBEMERKUNG

Es geschah in Sachsen …

EINS
Sonntag, 23. März 1930

MANNI zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm quietschte und ins Schloss krachte. Die Gaslampe konnte er gerade noch festhalten, aber der Sack fiel ihm aus der Hand. Er landete ohne einen Laut auf dem Boden der Hütte. Die Tasche war leer – und das, obwohl er bereits die Nachbarlaube geknackt hatte.

Nun zog er schon wieder eine Niete. In dem Raum sah es aus, als sei hier schon seit Jahrzehnten kein Mensch mehr gewesen. Spinnweben funkelten im Licht der Gasfunzel. Die Netze hingen zwischen den Leinensäcken, die vermutlich der Laubenbesitzer über die Möbel geworfen hatte. Hier gab es sicher nichts zu holen …

Manni trat zur Kommode. Der Aufsatz war aus billigen Brettern zusammengenagelt und enthielt Blechnäpfe. Mit all den Beulen sahen die Dinger aus, als wären sie zum Fußballspielen missbraucht worden. Daraus würde kaum noch jemand trinken können. Niemals würde er dieses Zeug bei einem Hehler loswerden. Er öffnete das Schränkchen. Noch mehr billiges Blech: Teller, Töpfe, Besteck – lauter Schrott.

Er ging zur Laubentür und trat ins Freie. Die Kälte kroch sofort unter seine Joppe. In dem Garten wuchs noch nichts. Vor ihm wiegten sich kahle Sträucher im Wind. Die Gaslampe flackerte. Die Zweige sahen in ihrem Schein wie dürre Finger aus, die ihm drohen wollten. Ein Käuzchen rief. Seine Großmutter hatte immer behauptet, dann stürbe ein Mensch.

Eine Hütte noch, beschloss er, und nicht mehr. Da konnten Hotte und Ralle sagen, was sie wollten.

Die Hecke zum Nachbargarten reichte ihm nur bis zum Oberschenkel. Also nahm Manni den direkten Weg. Seine Halbschuhe versanken in der Erde. Der ganze Scheißgarten war noch nass vom Regen der letzten Tage. Auf Brautschau würde Manni mit den Latschen sowieso nicht mehr gehen können. Aber wenn sich das Leder vollsaugte, würde er nasse Füße bekommen. Das hatte ihm bei dieser Saukälte noch gefehlt.

Manni erreichte die Hecke. Mit der rechten Hand versuchte er, das Gestrüpp beiseite zu drücken. Dornen. Er zerrte die Hand zurück. Das tat erst richtig weh. Den Schrei konnte er unterdrücken. Stattdessen presste er ein Stöhnen heraus. Im Licht der Gaslampe untersuchte er die Hand: Jede Menge Kratzer, aber wenigstens kein Blut.

Manni hob die Lampe. Jenseits der Hecke wuchs Gras. Also konnte er einfach hinüberspringen. Zwei Schritte mussten als Anlauf genügen. Die Hecke sauste unter seinen Füßen hinweg. Wenn es darauf ankam, reichte die Kraft auch noch nach einer Woche mit Brotsuppe. Er landete mit beiden Füßen auf dem Rasen und rutschte aus. Dann klatschte er auf den Rücken, mitten in eine Pfütze.

«Mach nicht so einen Lärm!», zischelte Hotte vom Weg herüber.

«Scheiße, Mann, ich bin sacknass! Scheiße!»

«Psst!»

«Hier ist es finster wie in einem Arschloch.» Manni rappelte sich auf. Die Gaslampe war ausgegangen. Der Mond lugte durch die Wolken. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das wenige Licht. Immerhin schien die Funzel nicht zerborsten zu sein.

«Heul nicht! Komm lieber her!» Hotte winkte.

«Ja, ja.» Manni trottete aus dem Garten. Seine Schritte schmatzten. Er war nass. Selbst der leere Sack hing schwer über seiner Schulter.

Hotte drehte sich um und öffnete das Tor zum Garten gegenüber. Manni folgte ihm. Kies knirschte unter seinen Schuhen. Er schlich über den Steinweg zwischen den Beeten entlang. Bloß nicht noch einmal ausrutschen …

Neben der Laube stand ein Schuppen. Hotte zerrte an der Tür. Holz splitterte. Als Manni ankam, lagen die Türflügel im Matsch.

«Guck dir das an!» Hotte hielt seine Lampe in den Schuppen. Drinnen blinkte Stahl. «Das sieht gut aus.»

«Das ist Werkzeug und anderer Gartenkram.»

«Genau, und die Sachen sind nagelneu.»

«Hm.» Manni überlegte, wer einen neuen Hammer brauchte oder eine Säge oder einen Rechen. Mitten in der Krise. Vielleicht fehlte ihm die Phantasie, aber er konnte Hottes Begeisterung nicht teilen. Dennoch stellte er die Gaslampe auf den Boden und trat näher.

Es schepperte. Hotte zerrte einen Spaten aus dem Regal und lehnte ihn an die Schuppenwand. Daneben stellte er einen Rechen. Eine Kiste mit Werkzeug steckte er gleich in seinen Beutesack. Schließlich warf er ein Kästchen zu Manni herüber. «Nun mach mal ein bisschen mit! Oder hast du schon Wurzeln geschlagen?»

Manni fing die Schatulle. Staub wirbelte vom rohen Holz. «Was soll ich denn damit?»

«Guck doch mal, was drin ist! Wenn’s Geld ist, wird geteilt.» Hotte packte weiter Geräte in seinen Sack.

Manni untersuchte den Holzkasten. Der Deckel wurde nur von einem Schnappverschluss gehalten. Mit einer Handbewegung ließ sich die Schatulle öffnen. Drinnen lagen zwei Stoffbündel. Er wickelte das größere auf. «Das ist … eine Waffe.»

«Zeig her!»

Manni hielt die Pistole hoch, wich aber zurück, als Hotte sich die Waffe schnappen wollte.

Der hob seine Lampe. «Eine Walther PP. Das Ding muss ganz neu sein. Gibt’s noch nicht lange.»

Manni steckte die Pistole ein. Im kleinen Bündel steckten Patronen. Auch die ließ er in seiner Manteltasche verschwinden.

«Hey, was willst du denn mit so ’nem Meuchelpuffer? Gib schon her!»

«Nix da! Das ist kein Geld, und dein Beutel ist schon voll.»

Hotte schüttelte den Kopf. «Aber du kannst mit so was doch nichts anfangen …»

Ein Schrei. Drei, vier Lauben weiter brüllte einer, als würde man ihm das Gemächt abreißen. Sollte Ralle der Urheber dieser Arie sein?

«Was macht der Idiot?» Hotte lief los. Den Sack trug er auf dem Buckel. Die Geräte klapperten, als würde jemand einen Besteckkasten ausschütten.

Manni folgte Hotte. Allerdings wagte er nur kleine Schritte. Seine letzte Schlitterpartie war erst ein paar Minuten her. Hottes Lampe flackerte zehn Meter vor ihm durch ein Gartentor. Der Sack mit der Beute schepperte zu Boden. Eine Tür quietschte.

«So ein Mist!», rief Hotte.

Manni rannte nun doch. Mit einem Satz sprang er über Hottes Sack. Dieses Mal landete er sicher.

«Verdammter Mist!» Hotte wiederholte sich. Kein gutes Zeichen.

Der Gartenweg bog hinter einem Kirschbaum nach links. Ein paar Meter weiter erreichte Manni die Laube. Er trat ein. Jetzt verstand er, warum sein Kumpan fluchte. Auf dem Tisch lag ein Mann. Leblos hingen seine Beine von der Platte. Sein Gesicht war kaum noch zu erkennen. Die linke Hälfte bestand nur noch aus Blut und Fleisch. Eine glitschige Masse lag neben dem Kopf.

Manni wandte seinen Blick ab und schaute zu Ralle. Der stand neben dem Tisch – so still wie ein Kriegerdenkmal. In der Hand hielt er eine Mistgabel. Auf einem der Zacken steckte ein Batzen Fleisch.

Manni würgte und trat nach draußen. Die Luft tat gut.

 

«Mist!» Hotte wankte ebenfalls aus der Laube. Kurz darauf erschien auch Ralle in der Tür. Im Licht der Gaslampe sah er aus, als sei er selbst nicht mehr am Leben.

Hinter dem Kirschbaum schepperte es. Durch die Äste sah Manni, wie ein kräftiger Kerl über den Sack mit der Beute stolperte.

«Weg hier!», rief Hotte.

Manni rannte seinen Kumpels hinterher. Nur weg hier!

«Gibst du mir noch etwas Limonade?», fragte Frieda, als Konrad Benno Katzmann die Weinflasche öffnete.

«Das ist der gute Meißner.»

«Ich weiß, ich weiß. Mein Glas steht auf dem Beistelltisch.»

Katzmann zuckte mit den Schultern und schenkte ihr Limonade ein und sich etwas vom Weißwein. An den Sonntagen kam es ihm manchmal vor, als sei er ein Zuschauer seines eigenen Lebens, als laufe das Leben in seinem Haus in Dresden auf einer Leinwand ab, und er saß in einem Kinosessel und schaute zu. Sein Hintern saß noch hier auf dem Sessel, aber ein Teil seiner Gedanken befand sich schon in der Redaktion in Leipzig.

Sein Hund Harry wackelte durch das Zimmer und kletterte zu Frieda auf die Chaiselongue. Inzwischen war es zwölf Jahre her, dass er den Hund aus der Elbe gerettet hatte. Harrys Bewegungen wurden in letzter Zeit langsamer und rarer. Frieda streichelte den Hund, Harry genoss das sichtlich.

«Ich hol mir noch eine Kleinigkeit zu essen», sagte Frieda.

«Ja, mach nur.»

Frieda ging in die Küche, Harry tappte hinterher. Der Hund war auf sie fixiert. Kein Wunder, Katzmann fuhr meist am Montag in aller Frühe nach Leipzig an seinen Schreibtisch und kehrte erst zum Wochenende wieder zurück an die Elbe. Frieda hingegen ging stundenweise in Dresden arbeiten, kam jeden Tag wieder nach Hause und ging am Abend mit Harry auf die Elbwiesen. Natürlich wohnte der Hund nun nicht mehr bei Katzmanns Schwester Lotte, sondern zu Hause, und das schien Frieda und Harry zusammenzuschweißen. Sein Schwanz wackelte, als wäre er der Antrieb am Hundehintern.

Katzmann trank einen Schluck Wein. Er dachte an die Krise und an die Artikel über die Arbeitslosigkeit, die er seit Monaten schrieb. In all den Jahren, die er nun schon bei der Leipziger Volkszeitung arbeitete, war das Gespenst der Krise immer wieder durch die Texte gegeistert, aber derzeit war es etwas anderes. Seit dem letzten Herbst vermeldete die Wirtschaftsredaktion eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Auch die anderen Zeitungen sahen eine Katastrophe heraufziehen. So schlimm hatte er das seit der Inflation 1923 nicht mehr erlebt. Und dieses Mal schien auch nach einem halben Jahr kein Ende in Sicht.

Frieda kam aus der Küche. Sie trug einen Teller mit einer Scheibe Butterbrot, einem halben Kopf Blumenkohl, einem Stück Sandkuchen. Sie stellte ihn ab und ließ sich auf das Sofa fallen. Harry kletterte hinterher.

Katzmann nahm die Vossische Zeitung vom Tisch. Er hatte die Sonntagsausgabe am Morgen gekauft, aber noch nicht alle Artikel gelesen. Er blätterte zu den Wirtschaftsnachrichten. Stockung im Uhren-Export, titelte das liberale Blatt.

«Konrad, ich muss dir etwas sagen.»

«Hm.» Konrad blickte weiter in die Zeitung. Die schweizerische Uhrenindustrie befindet sich seit Jahresbeginn in einer sich ständig verschärfenden Krise …

«Im Ernst, Konrad, es ist wichtig.»

«Ja, gleich …» In den ersten beiden Monaten hat sich der Export gegenüber dem Vorjahre von 35,9 auf 29,7 Millionen Franken gesenkt.

«Wir bekommen ein Kind», flüsterte Frieda.

«Ja, ja …» Konrad stutzte, in seinem Kopf hallte das Wort Kind nach … «Äh, was sagtest du?»

«Du wirst Papa!»

Katzmann schluckte. Worte wie «O mein Gott!» oder «Ach du lieber Himmel!» lagen ihm auf der Zunge und blieben auch dort. Vermutlich erwartete Frieda Begeisterung.

«Hast du es jetzt verstanden?»

Konnte er Dinge verstehen, die er sich nicht einmal vorstellen konnte? Katzmann war sich nicht sicher, nickte dennoch.

«Na fein.» Frieda hob ihre Limonade, als wolle sie ihm zuprosten.

Katzmann hielt ihr aus einem Reflex heraus sein Weinglas entgegen und trank dann einen Schluck. Der Wein legte seinen Mund trocken, der Rachen fühlte sich an wie eine Sandsteinschlucht.

«Und? Du freust dich wohl eher innerlich?»

Frieda hatte ihren Humor nicht verloren. Das beruhigte Katzmann. Er stellte das Glas ab und sah Frieda an. Auf ihrem Gesicht war dieses Lächeln, das Frauen immer dann zeigten, wenn sie um ihre Unwiderstehlichkeit wussten. «Aber du hast gar keinen Bauch. Ich meine …»

«Konrad, wir bekommen das Würmchen nicht heute Abend. Du musst dich noch bis zum Herbst gedulden.»

Bis zum Herbst – da hatte er noch den ganzen Sommer, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Außerdem wurde er Vater und nicht Mutter. Er musste vor allem für genügend Geld sorgen, denn Frieda würde ihre Stelle aufgeben. Als Chefreporter bei der Leipziger Volkszeitung verdiente er kein Vermögen, aber mit dem Ersparten sollte es für einen weiteren kleinen Mund reichen – trotz Krise.

«Malst du dir schon aus, wie schön es wird?»

«Um ehrlich zu sein, würde ich mir damit gern ein bisschen Zeit lassen.»

Harry krabbelte auf Friedas Schoß und schob seine Schnauze unter ihre Hand. Frieda kraulte den Hund hinter den Schlappohren, als sie sagte: «Wir haben ganz viel Zeit.»

Katzmann nickte und schaute Frieda an. Sie sah nicht anders aus als gestern. «Und du bist auch ganz sicher?»

Frieda lächelte mit einer Nachsicht, als übe sie schon für ihre Mutterrolle. «Konrad, du kannst mir das glauben. Frauen wissen so etwas.»

Katzmann trank einen Schluck Wein und legte die Zeitung zur Seite. Zum Lesen kam er sowieso nicht mehr.

«Wir sollten deinen Eltern Bescheid sagen, bevor sie es selbst sehen können – meinst du nicht, Konrad?»

Heinz Eggebrecht balancierte den Krug mit dem Bier die Treppe hinauf. Der Wirt in der Eckkneipe hatte es gut gemeint und das Zweilitergefäß bis zum Rand gefüllt. Wahrscheinlich hätte er noch einen Berg aufgeschüttet, wenn Bier nicht so flüssig wäre. Nun, den Verlust von ein paar Tropfen konnte Eggebrecht verschmerzen. Das war nämlich schon die dritte Runde, die er holte.

Im dritten Stock wartete sein Vater bereits in der Tür. Im Rahmen und im Gegenlicht wirkte er größer – erinnerte an eine der Skulpturen von Arbeitern, die russische Künstler neuerdings für realistisch hielten.

«Na, Junge, haste schnell noch eins am Tresen gekippt?»

«Nein, Vater.» Und nenn mich nicht immer Junge, ich bin über dreißig, fügte Eggebrecht in Gedanken hinzu.

«Immerhin ist der Humpen ordentlich voll.» Der Vater trottete in die Wohnung. In der Küche nahm er ihre Bembel aus dem Waschbecken und stellte sie auf den Esstisch. «Ich hab kurz abgespült.»

Eggebrecht schenkte das frische Bier ein.

Sein Vater nahm die Flasche mit dem Holunderblütenschnaps und füllte zwei Kurze. «Der ist bald alle. Wird Zeit, dass der Frühling kommt.»

«Hm.» Eggebrecht befürchtete, dass der Schnaps ihn am nächsten Morgen noch mehr beschäftigen werde als jetzt. Er brauchte das Schnapsglas nur anzuschauen, und schon schien ein Quirl in seinem Kopf zu rotieren.

«Prost, mein Junge!» Der Vater trank den Fusel in einem Zug.

Eggebrecht nippte und hatte das Gefühl, mit den Lippen am Glas kleben zu bleiben, so sehr hatten die Holunderblüten den Klaren angedickt.

«Was treibst du morgen so?», fragte der Vater.

«Erst mal ausschlafen. Und dann … mal sehen.»

«Hm …»

Es wollte offenbar nicht in Vaters Kopf, dass der Montag ein freier Tag sein konnte. Bis in die Nacht hatte Heinz Eggebrecht die Photographien von der Berliner Premiere der Max-Brand-Oper Maschinist Hopkins an der Staatsoper abgezogen, damit sie rechtzeitig in den Redaktionen lagen. Erst am Nachmittag war er wieder in Leipzig angekommen. Sein Vater wusste das. Dennoch tat er so, als sei «der Junge» ein Faulenzer, wenn er ausschlafen wollte.

Eggebrecht hob seinen Bembel. «Wenn du von der Arbeit kommst, werde ich schon wach sein.»

Vater seufzte und zündete sich eine Zigarette an.

Eggebrecht nahm auch eine aus der Kiste. «Ach komm schon, Vater! Ich werde am Dienstag bei meinen Redaktionen anrufen und fragen, wann es wieder Termine gibt. Und morgen ist mein Sonntag.»

«Als du das letzte Mal hier warst, hattest du eine ganze Menge Sonntage …»

Der Vater hatte recht, das wusste Eggebrecht. Seine Auftraggeber mussten sparen. Die Werbekunden schalteten weniger Anzeigen, die Zeitschriften druckten weniger Photographien. Das betraf alle Kollegen. Doch ihm bereitete das keine Sorgen. Ohne Familie und ohne Verpflichtungen, hatte er in den letzten Jahren ein ordentliches Guthaben angehäuft. Wenn er weiterhin hier und da einen Auftrag bekäme, würde er problemlos über ein bis zwei Jahre Krise kommen. Er hatte also genug Zeit, sich in dieser schweren Zeit um seinen Vater zu kümmern. Das wollte er dem Alten aber nicht sagen. Also schwieg er und trank.

Der Vater schenkte noch einmal Schnaps in die Gläser. Eggebrecht rauchte und fragte sich, wie der Alte morgen früh aus dem Bett kommen wollte, sah der doch jetzt schon aus, als sei er wochenlang mit Schlafentzug gefoltert worden.

«Ach Junge, du sagst gar nichts.» Der Vater hob sein Schnapsglas. «Ich stelle mich darauf ein, dass du wieder eine Weile da bist. Prost darauf!»

«Prost!» Der Schnaps brannte, als wolle er in Eggebrechts Magen die Höllenglut entfachen.

«Wenn du hier bist, kannst du wenigstens nicht mehr in schlechte Gesellschaft geraten. Bei diesen ganzen Künstlern.»

«Vater, ich mache Photos von denen. Das sind keine schlechten Kerle, und die machen auch ihre Arbeit.»

«Arbeit …» Der Vater winkte ab.

«Vater, die Künstler schaffen etwas. Fremde Menschen bezahlen etwas dafür. Also verdienen sie ihr Geld genauso wie du.»

Der Vater lachte. Es klang, als würde seine Verachtung aus den Wangen platzen. Dann wurde er ernst. «Mein Junge, wenn ich arbeite, steht am Ende ein Haus. Darin kann man wohnen. Und bei so einer Sängerin», Vater stieß noch ein Lachen aus, «ist das Ergebnis doch nur ein Lied … Kannst du darin wohnen? Kannst du es essen? Kannst du sonst etwas damit anfangen?»

Bloß nicht widersprechen, dachte Eggebrecht. Nur keinen Streit anfangen, wenn der Vater diese Anzahl Bier und Kurze intus hatte. Und schon gar nicht über Sängerinnen in Berlin. Schließlich gehörte eine bestimmte Sängerin zu den Gründen, warum er sich lieber eine Zeit in der Provinz verkroch – kein Thema für eine Vater-Sohn-Debatte kurz vor dem Einschlafen. Mit seiner Mutter hätte er vielleicht darüber gesprochen … Er leerte seinen Bembel. «Nicht jetzt, Vater. Ich habe ein anstrengendes Wochenende hinter mir.»

Der Vater trank, als sei er nach einem Tag im Steinbruch am Verdursten. «Na gut, mein Junge. Aber vielleicht könntest du morgen mal in den Garten schauen und ein paar Geräte hinschaffen. Ich meine, wenn du genug geschlafen hast.»

ZWEI
Montag, 24. März 1930

KONRAD BENNO KATZMANN rannte über den Schlesischen Platz. Beim Aussteigen aus der Straßenbahn hatte die Taschenuhr fünf nach halb sieben angezeigt, ihm blieben noch vier Minuten, um zum Bahnsteig zu gelangen. Die Sandsteinfassade des Neustädter Bahnhofs sah im Morgengrauen bedrohlich aus, als wolle sie die Reisenden verschlucken. Er eilte durch das Portal. Hier herrschte Gedränge.

Das Leben wurde immer hektischer, sein Leben wurde immer hektischer. An kaum einem Montag schaffte er es mehr ohne Gehetze zum Zug. Wie sollte das erst werden, wenn Frieda und er ein schreiendes Kind hatten?

Katzmann schaute auf die Uhr in der Bahnhofshalle: sieben nach halb. Noch zwei Minuten, dann fuhr der D 144 ab. Er nahm drei Stufen mit einem Schritt, als er die Treppe hinter der Eingangshalle hinaufhastete. Zum Glück hatte er die Fahrkarte schon am Freitag bei der Ankunft gekauft. So musste er nur noch das Stück Tunnel von der Schalterhalle zu den Gleisen schaffen, nur ein paar Meter – die letzten Stufen zum Bahnsteig 5 nutzte er zum Luftholen.

An der Bahnsteigkante stand drei Wagen weiter der Schaffner mit der Kelle. «Dieren schließn! Mir foarn obb!»

Katzmann winkte und rannte zur nächsten Wagentür. Eigentlich stieg er meist an der Spitze des Zuges ein, weil er dann im Leipziger Kopfbahnhof weniger zu laufen hatte. Heute aber war ihm das hinterste Abteil lieber als ein Blick auf die Rücklichter der ausfahrenden Eisenbahn.

«Nu machen Se manschema hin!» Der Schaffner forderte Katzmann mit heftigem Winken zum Einsteigen auf. «Un vorschlissn Se de Diere!»

 

Katzmann sprang die Stufen zum Einstieg hinauf, zerrte die Waggontür zu und atmete tief aus. Das war knapp, dachte er, als nur Augenblicke später der Zug anfuhr.

Gleich im ersten Abteil fand er einen freien Platz neben einem dicken Mann um die fünfzig, der seine Melone gerade auf der Gepäckablage verstaute. Neben dem Dicken saß eine Frau im gleichen Alter. Auf den Plätzen gegenüber hingen zwei Männer in schäbigen Anzügen in den Polstern. Sie blinzelten im Kampf, ihre Augenlider offen zu halten. Noch vor Radebeul würden die beiden schnarchen, da war Katzmann sicher. «Ist der Platz frei?», fragte er.

«Aber bitte, mein Herr.» Der Dicke sprach förmlich wie ein Beamter bei der Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes.

Katzmann setzte sich und zog die Vossische aus der Tasche. Gestern Abend hatte er keine Zeile mehr gelesen. Schlafen hatte er die ganze Nacht auch nicht können, und trotzdem fühlte er sich nicht müde. Die Schläfrigkeit übermannte ihn bestimmt nachher im Bureau. Er blätterte zum Wirtschaftsteil, bis dahin war er gestern gekommen.

Er hielt die Zeitung vor die Augen, aber die Konzentration war weg. Das ungeborene Kind geisterte durch seinen Kopf. Würde er weiterhin nach Leipzig fahren können, Woche für Woche? Ein Kind brauchte die starke Hand des Vaters, das schien ihm klar. Aber traf das auch auf ein Neugeborenes zu, oder musste er sich erst in die Erziehung einschalten, wenn das Kind laufen konnte? Oder sprechen? Und wann lernte so ein Wurm das? Vielleicht redete er mit seiner Schwester darüber, wenn er am Wochenende wieder in Dresden weilte. Er widmete sich vorerst seiner Vossischen Zeitung und überblätterte die Seiten mit den Anzeigen. Auf der Kulturseite las er:

In Dresden hat sich auf der Lüttichaustraße eine neue Galerie Sandl aufgetan. Sie hat sich ein wichtiges und viel zu lange vergessenes Ziel gesetzt: sich für die jungen, noch wenig bekannten Maler Dresdens einzusetzen.

«Die Welt geht kaputt. Oder meinen die Liberalen etwas anderes?» Der Dicke mit der Melone sprach langsam, als wolle er den Niedergang mit Behäbigkeit bremsen.

Katzmann blickte auf und entgegnete: «Ich weiß nicht recht. Bei der Vossischen ist auch Krise. Aber die Redaktion meint wohl, das geht vorüber.»

«Pah.» Der Dicke prustete aus vollen Backen und erinnerte dabei an einen Hamster.

«Sie glauben das nicht?» Katzmann verspürte keine Lust auf Konversation. Und wenn er sich schon unterhielt, wollte er sein Gegenüber ausfragen.

«Es liegt doch auf der Hand, dass von selbst keine Lösung kommt.»

«Nun, die Regierung hat über die Kriegsschulden verhandelt, sie spart, drückt die Löhne …»

«Halbherzige Kompromisse gehen diese Schwächlinge ein!» Der Dicke wurde lauter, die Frau ergriff seinen Arm. «Ist doch wahr, Hildegard. Die lassen das Reich vor die Hunde gehen!»

Katzmann legte die Zeitung beiseite. Er schaute den Dicken an. Es lag eine Provokation in dessen Blick, auf die Katzmann nicht eingehen wollte. Also zuckte er mit den Schultern.

«Auch ihre liberalen Freunde werden einsehen müssen, dass unser Vaterland eine starke Führung braucht!» Der Dicke schob die Hand der Frau beiseite. «Hoffentlich ist es dann noch nicht zu spät.»

Der Mann hielt ihn für einen Liberalen – Katzmann merkte, wie er lächelte. Auch in der Redaktion der LVZ verachteten viele die Republik. Dort wurde gefordert, das Kapital müsse an die Ketten gelegt werden, und Ähnliches. Vielleicht griff er deswegen an den Wochenenden zur Vossischen, und selbst unter der Woche ging er in letzter Zeit häufiger zum Leipziger Bahnhof, um sich das Blatt aus Berlin zu holen. Wenn ein Kollege ihn dabei erwischte, behauptete er, den politischen Gegner im Blick behalten zu wollen. Ihm wurde zunehmend egal, ob einer der Kollegen das glaubte. Und der Dicke interessierte ihn im Moment auch nicht im Geringsten.

«Auch in der Krise geht morgens die Sonne auf», sagte Katzmann und beendete das Gespräch, indem er die Zeitung vors Gesicht hob.

In der Gartenkolonie pfiff der Wind zwischen den Lauben. Eggebrecht fuhr mit dem Fahrrad über den Schotter. Das widersprach den Regeln der Kleingartensparte «Dr. Schreber», aber es war Montagvormittag, eigentlich konnte niemand hier sein. Außerdem drückten die Schrauben, die Nägel und das Werkzeugbund im Rucksack auf seinen Buckel, diese Last wollte er so schnell wie möglich loswerden. Er bog in Richtung des zentralen Platzes ab. Inmitten der Gartenanlage stand die Kneipe neben einem Kinderspielplatz. Die Räder eierten über den Kies. Eggebrecht sah nach unten und beobachtete, wie Steinchen zur Seite flogen, als seien sie aus Wasser.

«Schdeign Se ab! Abba sooofort!» Ein Polizist. Er brüllte die Worte im harten Sächsisch des Leipziger Umlandes. Die Dienstmütze saß auf zwei Ohren, die so weit abstanden, dass der Kerl bei einem Windstoß bestimmt weggeweht würde. Seit wann kümmerten sich Uniformierte um die Einhaltung der Benutzungsordnung?

Eggebrecht sprang vom Rad. Der Wachtmeister schüttelte den Kopf und wendete seinen Blick ab. Eggebrecht schob das Rad über den Platz. Der Garten seines Vaters lag genau an dem Weg, den der Polizist in Augenschein nahm. Auf dem Rasen, der Wippe, dem Karussell funkelte noch der Morgentau. Vielleicht hätte er sich im Bett noch einmal umdrehen sollen, überlegte Eggebrecht. Aber nun war er hier und musste an dem Polizisten vorbei.

«Wo wolln Se’n hin?», fragte der Schutzmann, als Eggebrecht in den Weg zum Garten biegen wollte.

«In den Garten.»

«Name?»

«Unser Garten hat keinen Namen.»

«Nu wern Se ma ni fresch!» Die Ohren des Polizisten wackelten. «Mir hamm örnsdhafde Ermiddlungen!»

Eggebrecht schaute den Weg hinunter. Fünf, sechs Gärten entfernt tummelten sich weitere Polizisten. An einem Gartentor tauchte ein dicker Mann auf – kein Zweifel, Oberkommissar Bölke. Der kümmerte sich um Mord und Totschlag. Was trieb er hier in der Gartenanlage?

«Eggebrecht ist mein Name, Heinz Eggebrecht.»

«Aha.» Das Wort klang, als sage der Polizist «Warum nicht gleich so?».

«Ist das Oberkommissar Bölke?»

«Woher kennen Sie …» In die Skepsis des Beamten schien sich Sorge zu mischen.

Eggebrecht zögerte kurz und entschied sich dann für die Offensive. Er versuchte, so wichtig zu klingen wie ein Politiker. «Ich habe schon mehrfach die Mordermittlungen des Herrn Bölke begleitet. Als Journalist und in bester Zusammenarbeit.» Das war zwar dick aufgetragen, stimmte aber mit einigem Augenzudrücken. Immerhin schon zweimal hatte er gemeinsam mit Katzmann Fälle bearbeitet und am Ende sogar die Mörder gejagt. Seine Behauptung zeigte Wirkung, der Polizist zog den Kopf ein und nickte.

Eggebrecht führte die Hand wie beim Militärgruß zur Stirn. «Ich finde den Herrn Oberkommissar selbst. Guten Tag!»

Er schob sein Rad den Kiesweg hinunter, mit jedem Schritt sah er weitere Polizisten. Sie mussten im Dutzend durch die Anlage wuseln. Ein Photograph stand im Garten schräg gegenüber der Eggebrecht’schen Hecke und fertigte Lichtbilder. Fünf, sechs Uniformierte krabbelten durch die Beete, als wollten sie Unkraut jäten, aber sicher suchten sie nach Spuren. Die Tür zur Laube stand offen, auch drinnen waren Uniformen zu sehen.

Drei weitere Polizisten machten sich im Nachbargarten am Geräteschuppen zu schaffen. Dort stand auch Bölke mit einem hageren alten Mann in Zivil. Die beiden erinnerten auf die Entfernung an Pat und Patachon. Wie in den dänischen Klamaukfilmen konnte der Dürre dem Dicken locker auf den Kopf spucken. Allerdings hatte Bölkes Körperumfang Ausmaße angenommen, die jede Kinoleinwand sprengen würden. Wenn der Oberkommissar seine Uniformjacke auf der Wiese ablegte, könnte eine vierköpfige Familie darauf bequem ein Picknick abhalten, schätzte Eggebrecht.

Noch blieben zwanzig Meter bis zum Garten – Zeit genug zu überlegen, wie er möglichst viele Details von Bölke erfuhr. Eggebrecht verlangsamte seine Schritte, ein Polizist schaute zu ihm. Der Militärgruß half erneut, der Beamte salutierte ebenfalls und widmete sich wieder der Spurensuche. Eggebrecht passierte den Garten mit dem größten Polizeiauflauf, bis zu Pat und Patachon blieben noch zehn Meter. Vielleicht sollte er Bölke überrumpeln, indem er gleich bei der Begrüßung nach der Leiche fragte. Denn dass es hier eine gab, schien Eggebrecht eine ausgemachte Sache zu sein.

«Was machen Sie denn hier?» Bölke sah ihn an, als fürchte er zu halluzinieren.

«Ich bin zufällig hier, Herr Oberkommissar. Und Sie, welche Leichen graben Sie aus den Beeten?»

Nun guckte Bölke, als ginge er die Tatbestände durch, die er Eggebrecht anhängen konnte. Der Oberkommissar drehte sich zur Kopie von Patachon. «Kennen Sie den jungen Mann, Herr Zebulke?»

«Nie gesehen.»

Bölke tapste auf Eggebrecht zu, der Dürre lief hinterher wie ein zu groß geratener Hund. Eggebrecht ging dem Oberkommissar entgegen.

«Zufällig sind Sie also hier, Herr … Eckenbernd – oder wie war das gleich?» Bölke japste beim Sprechen, als habe er minutenlang die Luft anhalten müssen.

«Eggebrecht. Meinem Vater gehört der Garten da drüben.» Eggebrecht wies auf die Hecke, die ein paar Meter weiter vis-à-vis am Wegesrand stand. «Er bat mich, ein paar Sachen herzubringen. Ich habe nämlich heute meinen freien Tag. Es scheint mir auch besser zu sein, hier regelmäßig nach dem Rechten zu schauen.»