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Uwe Klausner

Stasi-Konzern

Tom Sydows sechster Fall

Zum Buch

Republikflucht Berlin, 9. Oktober 1964. Bei einem konspirativen Treffen mit einem Boulevardreporter im West-Berliner Wilde-Park wird Gerd Czerny, Major des MfS, von einem Unbekannten niedergeschossen. Der Grund: Czerny ist im Besitz des derzeit größten Staatsgeheimnisses der DDR und hat es sich zum Ziel gesetzt, Stasi-Chef Mielke vor aller Welt bloßzustellen. Die Chancen dafür stehen recht gut, verfügt er doch über Dokumente, aus denen hervorgeht, dass der Grenzsoldat Egon Schultz – östlichen Angaben zufolge von einem Fluchthelfer erschossen – in Wahrheit den Kugeln eines Kameraden zum Opfer fiel. Eine Tatsache, die unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit und schon gar nicht in die Hände der West-Berliner Presse gelangen darf, für die der von Stasi-Chef Mielke unter Verschluss gehaltene Obduktionsbericht der Charité mit Sicherheit ein gefundenes Fressen wäre …

Uwe Klausner, Jahrgang 1956, geboren und aufgewachsen in Heidelberg, hat in Mannheim und Heidelberg Geschichte und Anglistik studiert und lebt heute mit seiner Familie in Bad Mergentheim. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er bereits mehrere Theaterstücke verfasst.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © J. Wilds / Getty Images

ISBN 978-3-8392-4390-9

Vorbemerkung

Mit Ausnahme von Erich Mielke (Minister für Staatssicherheit der DDR von 1957–1989), Egon Schultz (Unteroffizier der DDR-Grenztruppen), Erich Honecker und den unmittelbar am Geschehen um den ›Tunnel 57‹ Beteiligten sind alle Figuren frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

REALE HAUPTFIGUREN

(in der Reihenfolge des Erscheinens)

Egon Schultz, 21, Unteroffizier der DDR-Grenztruppen

Erich Mielke, 56, Minister für Staatssicherheit der DDR

Erich Honecker, 52, ZK-Sekretär, Mitglied des SED-Politbüros und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates

FIKTIVE HAUPTFIGUREN

Anneliese Petzold, Sekretärin im Institut für Rechtsmedizin der Charité

Gerd Czerny, Offizier im besonderen Einsatz (OibE) des Ministeriums für Staatssicherheit

Tom Sydow, 51, Kriminalhauptkommissar a.D.

Lea, 49, seine Frau

Hans-Joachim Marquard, Sydows Schwiegersohn-in-spe

Viktor Kamerowski, Generalmajor der Stasi und Sekretariatsleiter von Erich Mielke

Marek Wegener, genannt ›Radek‹, Stasi-Agent

Paul Gierke, 21, Boulevard-Reporter

Eduard Krokowski, 36, ermittelnder Kriminalkommissar und Sydows ehemaliger Assistent

Timo Bartels, Kriminalassistent

Marlene Holdt, 34, Czernys ehemalige Geliebte

Friedemann van der Eyck, Chefredakteur

Constanze Behrens, seine Sekretärin

Veronika ›Vroni‹ von Oertzen, Sydows Stieftochter

Fred Matuschek, Kneipenbesitzer

Grigorji Wassiljewitsch Schaljapin, KGB-Offizier

Waldemar ›Waldi‹ Naujocks, LKA Berlin

SCHAUPLÄTZE

PROLOG

1. Szene: Ost-Berlin (Stadtbezirk Mitte), Strelitzer Straße 55

2. Szene: RIAS-Interview

ERSTES KAPITEL

3. Szene: Ost-Berlin (Stadtbezirk Mitte), Institut für Rechtsmedizin der Humboldt-Universität in der Hannoverschen Straße 6

4. Szene: Berlin-Schöneberg, Sydows Wohnung in der Grunewaldstraße

5. Szene: Ost-Berlin (Stadtbezirk Lichtenberg), Haus 1 des Ministeriums für Staatssicherheit in der Rusche­straße 103

6. Szene: Berlin-Schöneberg, Sydows Wohnung in der Grunewaldstraße

7. Szene: Berlin-Schöneberg, Rudolph-Wilde-Park

8. Szene: Berlin-Schöneberg, Rudolph-Wilde-Park

ZWEITES KAPITEL

9. Szene: Ost-Berlin (Stadtbezirk Mitte), Friedrich-Engels-Kaserne am Kupfergraben 1

10. Szene: Berlin-Schöneberg, Rudolph-Wilde-Park

11. Szene: Berlin-Schöneberg, RIAS-Funkhaus in der Kufsteiner Straße 69

12. Szene: Berlin-Dahlem, Bernadottestraße

DRITTES KAPITEL

13. Szene: Berlin-Tempelhof, Redaktions- und Verlagsgebäude am Mariendorfer Damm 1-3

14. Szene: Berlin-Charlottenburg, Café Kranzler am Kurfürstendamm 18

15. Szene: Berlin-Dahlem, Mensa der FU Berlin in der Van’t-Hoff-Straße 6

16. Szene: Berlin-Karlshorst (Stadtbezirk Lichtenberg), KGB-Zentrale in der Zwieseler Straße

17. Szene: Berlin-Tiergarten, Lützowplatz

18. Szene: Berlin-Tiergarten, Derfflingerstraße

19. Szene: Berlin-Tiergarten, Ecke Lützow-/Derfflingerstraße

20. Szene: Berlin-Tempelhof, Redaktions- und Verlagsgebäude am Mariendorfer Damm 1-3

21. Szene: Berlin-Schöneberg, Palasstraße

22. Szene: Ebenda

23. Szene: Berlin-Schöneberg, Grunewaldstraße

VIERTES KAPITEL

24. Szene: Berlin-Schöneberg, Palasstraße

25. Szene: Ebenda

26. Szene: Berlin-Schöneberg, Rathaus am John-F.-Kennedy-Platz 1

27. Szene: Berlin-Schöneberg, Sydows Haus in der Grunewaldstraße

28. Szene: Berlin-Wedding, Grenzübergang Chausseestraße

EPILOG

29. Szene: Ost-Berlin (Stadtbezirk Mitte), Strelitzer Straße 55

Zitat

»Ich liebe … Ich liebe doch alle … alle Menschen … Na, ich liebe doch … Ich setzte mich doch dafür ein!«

Erich Mielke vor der DDR-Volkskammer

(13. 11. 1989)

Aus dem Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik (StGB)

§ 213. Ungesetzlicher Grenzübertritt. (1) Wer widerrechtlich in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik eindringt oder sich darin widerrechtlich aufhält, die gesetzlichen Bestimmungen oder auferlegte Beschränkungen über Ein- und Ausreise, Reisewege und Fristen oder den Aufenthalt nicht einhält oder wer durch falsche Angaben für sich oder einen anderen eine Genehmigung zum Betreten oder Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik erschleicht oder ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verlässt oder in dieses nicht zurückkehrt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder öffentlichem Tadel bestraft.

(2) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn

1. die Tat durch Beschädigung von Grenzsicherungsanlagen oder Mitführen dazu geeigneter Werkzeuge oder Geräte oder Mitführen von Waffen oder durch die Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden durchgeführt wird;

2. die Tat durch Missbrauch oder Fälschung von Ausweisen oder Grenzübertrittsdokumenten, durch Anwendung derartiger falscher Dokumente oder durch Ausnutzung eines Verstecks erfolgt;

3. die Tat von einer Gruppe begangen wird;

4. der Täter mehrfach die Tat begangen oder im Grenzgebiet versucht hat oder wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.

(3) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.

PROLOG

(Ost-Berlin, Montag, 5. Oktober 1964)


1

Ost-Berlin (Stadtbezirk Mitte), Strelitzer Straße 55│00:30 h

»Halt, stehen bleiben – deutsche Grenztruppen!«

Die verdächtige Person stellen, ansprechen und die AK-47 entsichern.

Und, falls nötig, auch Gebrauch davon machen.

So war es ihm beigebracht, eingetrichtert und bis zum Abwinken durchexerziert worden.

Aber das war Schnee von gestern. Wie überhaupt alles, was er während der Ausbildung gelernt hatte, Schnee von gestern war. Egon Schultz, 21 Jahre, Unteroffizier der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee und erst ein knappes Jahr Zeitsoldat, umklammerte den Schaft seiner Kalaschnikow und näherte sich der Treppe, die zur Hoftür des Ost-Berliner Mietshauses führte. Übungen waren nämlich eine Sache. Der Ernstfall, mit dem er konfrontiert war, etwas anderes.

Etwas, womit weder er noch sein Kamerad und schon gar nicht die beiden Maulhelden, die vor einer halben Stunde Alarm geschlagen hatten, gerechnet hatten.

»Mitkommen – oder ich schieße!« Dabei hatte es zunächst alles nach einem geruhsamen Abend ausgesehen. Zunächst, wohlgemerkt. Bis am Führungspunkt Arkonaplatz zwei MfS-Offiziere aufgekreuzt waren. Von da an, kurz vor Mitternacht, war es mit der Ruhe vorbei gewesen. Und mit derjenigen der drei Kameraden, die bei der Alarmgruppe der 1. Kompanie des Grenzregiments 33 Dienst schoben, natürlich auch. Schultz, mittelgroß, kräftig, dunkelblond und im Zivilberuf Lehrer, war gar nicht erst zum Fragen, geschweige denn zu einer Lagebeurteilung gekommen. Dazu, wie für weitergehende Erklärungen, war laut Aussage eines gewissen Herrn Stiel, der ihm auf Anhieb unsympathisch gewesen war, keine Zeit gewesen. Wohl auch deshalb hatte der Stasi-Offizier nicht lange gefackelt, Schultz und die anwesenden Kameraden seinem Befehl unterstellt und sie zum Mitkommen vergattert. Dann waren die beiden Wartburgs, gefolgt von einer Kradstreife, in halsbrecherischem Tempo Richtung Grenze gerast. Dort, genauer gesagt in der Strelitzer Straße 55, sollte eine Personenkontrolle durchgeführt und die Verdächtigen, falls nötig, verhaftet werden. Schultz war dies nicht nur merkwürdig, sondern ausgesprochen verdächtig vorgekommen. Aber Befehl war nun einmal Befehl. Und Schultz hatte nicht vorgehabt, unangenehm aufzufallen. Deshalb hatte er den Mund gehalten, nicht ahnend, was auf ihn zukommen würde.

 

»Los, schnappt ihn euch!« Die Waffe im Anschlag, spähte Schultz nach draußen, mit steingrauem Pullover, einer ebenfalls grauen Militärhose und blankgeputzten Lederstiefeln bekleidet. Der Hinterhof lag in tiefem Dunkel, und er fragte sich, was er hier zu suchen hatte. Unter Personenkontrolle, wie vom Stasi-Hauptmann behauptet, verstand er jedenfalls etwas anderes und man musste nicht viel Fantasie besitzen, um die beiden Schnösel aus der Firma zu durchschauen. Schon sehr häufig waren von Wedding aus Tunnel gegraben worden, was ihn, dem linientreuen SED-Anhänger, in seiner Meinung nur bestärkt hatte. Der Westen, allen voran die BRD, hatte nichts anderes im Sinn, als seinem Land zu schaden. Wenn es sein musste mit allen Mitteln. Ob Fluchthelfer, Agenten, Spione oder Saboteure – die Subjekte, die es zu bekämpfen galt, waren alle gleich. Ließen nichts unversucht, dem Sozialismus zu schaden. Aber sie hatten die Rechnung ohne Leute wie ihn gemacht. Er, Egon Schultz, würde alles in seiner Macht Stehende tun, um ihre Machenschaften zu unterbinden. Und sei die Gefahr, in die er sich begab, noch so groß.

»Na los, oder brauchen Sie eine Extra-Einladung?« Schultz schnappte nach Luft, unterließ es aber, seinem Unmut Luft zu machen. ›Typisch!‹, fuhr es dem Unteroffizier durch den Sinn, während er nachdachte, wie dem Feind, der da draußen auf der Lauer lag, beizukommen war. Typisch Stasi. Volle Deckung nehmen, während andere die Dreckarbeit machen. Eine große Lippe riskieren, selbst aber zu feige, um die Kohlen aus dem Feuer zu holen.

Mit einem Wort: große Klappe, aber nichts dahinter.

Was also tun? Was tun, wenn die Kriminellen, die vor ihnen Reißaus genommen hatten, wie vom Erdboden verschluckt zu sein schienen? Was tun, wenn nicht klar war, wie viele von ihnen sich hier rumtrieben?

»Nein, ganz bestimmt nicht!«, beteuerte Schulz, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Ich frage mich nur, mit wie vielen von denen wir es zu tun …«

»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, junger … wie war doch gleich Ihr Name?«

»Schultz, Egon Schultz.«

»Ich will Ihnen mal was sagen, Sie Klugscheißer –«, zischte der Hauptmann, so laut, dass sein Kamerad, NVA-Soldat Maier, erschrocken zusammenfuhr. »Wenn Sie nicht sofort Ihren Hintern in Bewegung setzen, können Sie sich auf was gefasst machen! Dann werden Sie bereuen, dass Sie mir über den Weg gelaufen sind. Kapiert, was ich damit sagen will? Entweder Sie gehen jetzt da raus, oder ich sorge dafür, dass Sie die längste Zeit Grenzsoldat gewesen sind!«

Schultz verzog keine Miene, und da er wusste, wie man mit Leuten vom Schlage eines MfS-Hauptmanns umgehen musste, schluckte er seinen Ärger hinunter. Jetzt war nicht die Zeit, um sich an die Gurgel zu gehen, was zählte, war der Kampf gegen den Feind. Gegen den gemeinsamen Feind. Als Unteroffizier saß er am kürzeren Hebel, und wenn es etwas gab, auf das er nicht erpicht war, dann darauf, in einer Arrestzelle zu landen. Was das betraf, war die Stasi schnell bei der Hand, allen voran dieser Hauptmann, der nicht zögern würde, ihn beim Regimentskommandeur anzuschwärzen. An die Folgen, die das haben würde, wollte er lieber nicht denken. Wenn er Glück hatte, würde er ein paar Wochen Bau bekommen, wenn nicht, konnte er froh sein, wenn man ihn in eine Strafkompanie steckte. Was das bedeutete, wusste er nur zu gut, und so beschloss er, in Zukunft den Mund zu halten.

»Haben wir uns verstanden, Schultz?«

Ja, haben wir!, dachte der Angesprochene voller Groll und wich dem Blickkontakt mit dem Stasi-Offizier aus. Einstweilen gab es Wichtigeres zu tun, wenngleich er sich fragte, ob er nicht dabei war, einen Fehler zu begehen.

Dennoch: Für Gedankenspiele, gleich welcher Art, war es jetzt zu spät. Jetzt mussten er und Maier, dessen Atem er im Nacken spürte, Nägel mit Köpfen machen. Und das bedeutete, dass sie ihre Deckung verlassen, das Gelände von verdächtigen Elementen säubern und gegebenenfalls das Feuer eröffnen würden.

Aber nur, wenn Gefahr drohte.

Oder wenn auf sie geschossen wurde.

Na, dann mal los!, dachte Schulz, verstärkte den Griff um den Schaft seiner AK-47 und bedeutete Maier, ihm auf den Hinterhof des Hauses Strelitzer Straße 55 zu folgen.

Dort wandte er sich nach links, den Finger am Abzug seiner Kalaschnikow. Kaliber 7,62 mal 99 Millimeter. 600 Schuss pro Minute. Eingestellt auf Dauerfeuer. Genug, um kriminellen Elementen das Fürchten zu lehren.

Genug, um mit Banditen, Saboteuren und vom Westen gesteuerten Agenten aufzuräumen.

Doch Egon Schultz, 21 Jahre, neun Monate und einen Tag alter NVA-Unteroffizier, irrte. Zwar nicht zum ersten, aber definitiv zum letzten Mal in seinem Leben.

*

Das hatten sie jetzt davon. Buddeln bis zum Umfallen, 145 gottverdammte Meter, 12 Meter tief. Tag und Nacht, sechs Monate, drei Wochen und auch noch den letzten von insgesamt 175 gottverdammten Tagen. Knöcheltief im Berliner Mergel, verschmutzt, verdreckt, durchnässt, übermüdet, kurzatmig und das Rumpeln der Doppeldeckerbusse oder die Schritte der DDR- Grenzpatrouillen im Ohr. Stromkabel verlegen, eine Entlüftungsanlage installieren, Telefon anschließen. Funkgeräte, Gasmasken und vor allem Knete auftreiben, im Ganzen über 35 Mille. Und zusehen, möglichst viele Ost-Berliner nach drüben zu schleusen.

Tagein, tagaus. Ohne Unterbrechung.

Genau das aber, ihre Selbstlosigkeit, war zum Bumerang der Aktion geworden. Das Risiko, an den Falschen zu kommen, war eminent groß, konnte man doch nie sicher sein, ob etwas durchsickerte. Ein falsches Wort, am Ende gar ein gezielter Hinweis – und die Stasi würde ihnen die Hölle heißmachen. Mielke und Genossen hatten überall ihre Leute sitzen, und man tat gut daran, niemandem über den Weg zu trauen. Vertrauen war gut, Misstrauen allemal besser.

Ein Leitspruch, der oberste Priorität besaß, an den sich jeder, auch er, gehalten hatte.

175 gottverdammte Tage lang.

Abzüglich der letzten Dreiviertelstunde.

Christian Zobel, 24, Student und im Nebenberuf Fluchthelfer, verstand die Welt nicht mehr. Bis zuletzt war alles wie am Schnürchen gelaufen. Besser, als er, Furrer und die anderen es sich erträumt hatten. Am Sonnabend, also vorgestern, hatten die ersten Flüchtlinge den Tunnel durchquert. Und was hieß hier überhaupt ›durchquert‹? Ein Spaziergang war das Ganze weiß Gott nicht gewesen. Im Gegenteil. Kriechen war das Gebot der Stunde. 20 Minuten, mitunter sogar eine knappe halbe Stunde lang. Auf allen Vieren, hintereinander, einer nach dem anderen, im Ganzen 57 Menschen. Das war Rekord gewesen – und mehr als genug.

Aber nicht für Furrer. Kurz vor zwölf, vor ziemlich genau einer Dreiviertelstunde, hatte sein Kumpel einen Riesenfehler gemacht.

Vielleicht den größten seines Lebens.

Zobel stöhnte innerlich auf. Kaum zu fassen, aber wahr. Leider. Ausgerechnet dann, als alles wie am Schnürchen zu laufen scheint, tauchen diese beiden Gestalten auf, der jüngere mit einer Taschenlampe in der Hand. Öffnen die Haustür, treten in den Flur und bewegen sich auf das Hoftor zu. Durch die Milchglasscheiben der Haustür fällt das Licht einer Laterne, aber nicht genug, dass man ihre Gesichter erkennen kann. Furrer, in Erwartung weiterer Flüchtlinge, schöpft zunächst keinen Verdacht, auch dann nicht, als die beiden das verabredete Losungswort ›Tokio‹ nicht nennen. Flurlicht nicht angeknipst, Losungswort nicht genannt – irgendwie, so scheint es, lässt Furrer die gebotene Vorsicht vermissen. Eine Fehleinschätzung mit Folgen. Mit Folgen, die sie alle, auch ihn, in tödliche Gefahr bringen.

Zobel schüttelte den Kopf. Furrer, akribisch wie kaum ein anderer – ausgerechnet ihm musste so etwas passieren. Ausgerechnet er, Physikstudent an der FU Berlin, schöpft im Gegensatz zu sonst keinerlei Verdacht. Kauft den beiden ihre Lügengeschichte ab. Wird selbst dann nicht misstrauisch, als sie darum bitten, noch einen Kameraden mitnehmen zu dürfen. Ein, wie sich noch zeigen wird, unentschuldbarer Schnitzer.

Kurz nach halb eins, vor wenigen Minuten, wird ihm jedoch klar, dass er hereingelegt worden ist. Furrer, der mit ihm, Zobel, den Eingang im Auge behält, beobachtet drei Männer, die von der Strelitzer Straße aus das Haus betreten. Da er in zwei von ihnen die vermeintlichen Flüchtlinge erkennt, eilt er dem Trio entgegen, um die notwendigen Anweisungen zu geben.

Der dritte und, wie Zobel blitzartig klar wird, schwerwiegendste Fehler.

Doch war es müßig, darüber nachzudenken. Momentan hatte Zobel andere Sorgen. Jetzt, wo der bewaffnete Grenzer den Hof betrat, beschäftigte ihn nur noch eins: die Frage, wie er möglichst schnell die Fliege machen konnte.

Jetzt ging es um die Wurst, sprich: ums Überleben. Und natürlich auch darum, ob der Tunnel, dessen Einstiegsloch in knapp sieben Metern Entfernung unerreichbarer denn je erschien, entdeckt werden würde. Ein Toilettenhäuschen, in der Dunkelheit kaum zu erkennen, war zwar die perfekte Tarnung. Aber da der Hof recht klein und die Grenzer nicht auf den Kopf gefallen waren, konnte man davon ausgehen, dass sie nicht lange Bestand haben würde.

Was also tun? Was tun, wenn der Bewaffnete, der sich suchend umschaute, Ernst machen würde?

Zobel kam nicht dazu, den Gedankengang abzuschließen. Kaum hatte der NVAler den Hof betreten, riss er die Waffe hoch und zielte. Er tat dies mit Bedacht, als sei Furrer, der in gebückter Haltung auf das Toilettenhäuschen zu rannte, im Grund kein Gegner für ihn. »Abhauen!«, war alles, was der Physikstudent hervorbrachte, um seinen Kumpel, der hinter dem Abort in Deckung gegangen war, zu warnen. »Höchste Gefahr!«

Zobel, bislang unentdeckt, wusste, was er zu tun hatte. Nicht einzugreifen hieß, dass Furrer, der um sein Leben rannte, wie ein Hase abgeknallt werden würde. Und es bedeutete, dass auch ihm, dem der Fluchtweg abgeschnitten war, das gleiche Schicksal drohte. Deshalb, und nur deshalb, musste er genau das tun, was er sich bis vor Kurzem, als er seine Knarre zum ersten Mal in der Hand hielt, nicht hatte vorstellen können.

Er musste zur Waffe greifen, sie auf einen Menschen richten und abdrücken. Er musste damit rechnen, dass dieser Mensch, ein DDR-Grenzsoldat, ums Leben kommen würde.

Durch sein Zutun.

Und durch seine Schuld.

Zobel brach der kalte Schweiß aus den Poren. In die Luft schießen, um den Grenzer abzulenken – schön und gut. Aber was dann? Dann, so war zu befürchten, würde der Kerl sich umdrehen und ihn mit Kugeln vollpumpen. Für ihn, den linientreuen Genossen, wahrscheinlich das Größte. Wer weiß, vielleicht würde er demnächst als Held gefeiert, mit Ehrungen überhäuft und als Musterbeispiel eines rechtschaffenen Staatsbürgers präsentiert werden. Bei denen da drüben, zumindest bei den Hundertprozentigen, musste man mit allem rechnen.

Mit einer Kalaschnikow konnte man gleich reihenweise Leute abknallen, warum also nicht auch ihn?

Zobels Griff, mit dem er seine Walther PPK umklammert hielt, erreichte die Schmerzgrenze, und während er auf seinen Kontrahenten zielte, begann die Hand, in der er die Waffe hielt, zu zittern. Eine Pistole Kaliber 7,65!, dachte er resigniert, was soll ich überhaupt damit? Zu wenig, um es mit einem NVAler aufnehmen zu können, zu viel, um hinterher nicht als Mörder dazustehen. Ein Schießeisen, wie man es aus Edgar-Wallace-Krimis kannte. Verglichen mit dem, was der Grenzer in der Hand hielt, der reinste Witz.

Aber auch darauf kam es jetzt nicht mehr an. Die Waffe im Anschlag, trat der Fluchthelfer aus der Hoftürnische hervor, in die er sich beim Auftauchen des Grenzers gezwängt hatte. Die Zeit des Abwägens, ohnehin kurz genug, war vorüber. Jetzt war es an der Zeit zu handeln.

 

Höchste Zeit, um Furrer, der um sein Leben rannte, aus der Patsche zu helfen.

Jetzt gleich.

*

»Verdammt noch mal, warum schießt denn hier keiner!« Das war deutlich, mehr als deutlich. Und es waren die letzten Worte, die Egon Schultz, Kandidat der SED, aus dem Mund des Stasi-Mannes hörte.

Die letzten, die er überhaupt hörte.

Danach, innerhalb von Sekundenbruchteilen, durchfuhr ihn ein Schmerz, wie er ihn noch nie verspürt hatte. Er genügte, um ihn außer Gefecht zu setzen, um ihn kurz innehalten, nach links taumeln und wie ein gefällter Baum zusammenbrechen zu lassen. Aber er reichte nicht aus, um ihn zu töten. Denn Schultz war ein Mann, der gelernt hatte, wieder aufzustehen. Das hatte ihm sein Vater, von Beruf Kraftfahrer, regelrecht eingebläut.

Aufstehen, selbst wenn du denkst, es geht nicht mehr. Auch wenn es sinnlos, um nicht zu sagen unmöglich erscheint.

Aufstehen, selbst wenn eine der beiden Kugeln, die dich treffen, in der Lunge steckt.

Und so, unbemerkt von seinen Begleitern, allen voran dem NVA-Gefreiten Maier, rappelt sich Schulz auf, schwankend, nach Luft hechelnd und kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Eine schier übermenschliche Anstrengung, die ihm, nicht weiter verwunderlich, nur zum Teil gelingt.

Denn plötzlich, ohne dies zu bemerken, ist Kamerad Maier zur Stelle, die entsicherte Kalaschnikow in der Hand und wie alle anderen, die hinter ihm ins Freie drängten, nur von einem Wunsch beseelt: die Grenzverletzer, auf die sie es abgesehen hatten, an der Flucht zu hindern.

Ein Unterfangen, das indes misslingt. Und das, obwohl Soldat Maier Dauerfeuer schießt, obwohl ein Feuerstoß nach dem anderen zwischen den Hofwänden widerhallt. Sämtliche Fluchthelfer, auch Zobel, können sich retten, in letzter Sekunde und dank des Tunnels, durch den sie wieder in den Westen gelangen.

Sie haben überlebt, können ihr Glück kaum fassen.

Nicht so Egon Schultz, der nicht nur kein Glück, sondern ausgesprochenes Pech gehabt hat. Von insgesamt 10 Kugeln getroffen, bricht er unweit der Hoftür zusammen.

Wobei der Großteil, nämlich acht, aus der Waffe seines Kameraden stammt.

Ein Umstand, über den nichts, nicht einmal die leiseste Andeutung, an die Öffentlichkeit dringen durfte. Dafür würden die Verantwortlichen, allen voran die Stasi, sorgen.