Thorburg

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Wer es am Ort zu Ehre und Geld gebracht hat oder auch zu keinem von beidem, schreibt, wenn er in die Jahre kommt, seine Lebensbetrachtung. Goethe hat über diese Entwicklung geseufzt.

Nach Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre

… du musst bereit sein, dich zu entblößen und dich lächerlich zu machen. Es muss dir egal sein, ob du dir Feinde machst, ob deine Freunde dir die Freundschaft kündigen, ob dein Zeug überhaupt gedruckt wird. Du brauchst Mut. Feiglinge können keine guten Texte schreiben.

Harald Martenstein: Geh ins Risiko

Für Hubert K.

Vorwort

Thorburg ist die Fortsetzung von Feenthal, der zweite Band, wenn Sie so wollen. Während in Feenthal viele Erzählungen meiner Mutter eingeflossen sind, erzähle ich in Thorburg fast nur noch eigene Erinnerungen. Und diese beziehen sich zunehmend – dem fortgeschrittenen Alter (9–18 Jahre) entsprechend – auf mein damaliges Innenleben; deshalb bitte ich meine Leser um Erlaubnis oder um Verzeihung, dass ich hier etwas drucken lasse, das sie alle nichts angeht … (Jean Paul).

Was im Vorwort zu Feenthal steht, kann hier im Wesentlichen wiederholt werden: dass Schreiben und Lesen in meiner Familie Tradition haben und mittelmäßige Texte ihre Berechtigung, weil sie die genialen zum Leuchten bringen, und dass persönliche Geschichten sein dürfen. Denn: Jeder Mensch ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder (Hermann Hesse).

Unbedingt zu erwähnen ist noch einmal, was im Nachwort zu Feenthal schon thematisiert wurde, nämlich, dass man seinen Erinnerungen nicht trauen sollte, denn: Erinnerungen haben die beunruhigende Fähigkeit, nachträglich ihre Gestalt zu verändern (Douwe Draaisma). Es ist also möglich, dass Sie hier Geschichten genauer als die Wirklichkeit lesen werden (Meir Shalev), doch wohlgemerkt: Ich erfinde nichts als die Wahrheit (Navid Kermani). Ich gestalte aus meinen Erinnerungsstücken jenes Ganze, das genau so hätte sein – genau so hätte stattfinden können.

Dabei leiste ich mir, das möchte ich betonen, keine Unverfrorenheiten wie die folgende: Als ich ein Kind war, trat ich zuweilen an die Tischkante, drehte den Kopf, bis er seitlich auf der Tischplatte lag. Es sah merkwürdig aus, aber es war nicht verboten. Peinlich war nur, dass ich diese Erinnerung erfand und sie später als Wahrheit erzählte (Wilhelm Genazino).

Und selbstverständlich bin ich davon überzeugt, dass ich an keiner Stelle dem Mandela-Effekt erlegen bin, das heißt, mich an Ereignisse erinnert habe, die niemals stattgefunden oder an Sachverhalte, die es nie gegeben (Tobias Sedlmaier).

Unbedingt im Auge behalten sollten Sie den selektiven und den subjektiven Status meiner Erinnerungen, wenn es um die Darstellung anderer geht – ich beschreibe keinesfalls reale Personen von damals, sondern ich beschreibe die von mir von diesen Personen geformten Erinnerungsbilder.

Vielleicht sollte ich sie auch noch darauf aufmerksam machen, dass ich im Erzählfluss durch die Kapitel keiner exakten Chronologie folge; deutlich wird das zum Beispiel in den Kapiteln elf und zwölf.

Im Nachwort zu Feenthal habe ich bereits meine in den Text eingeflochtenen Zitate angesprochen. Es ist nämlich so, dass es mir beim Lesen, und ich lese sehr viel, stets passiert, dass ich quasi Kommentaren zu meinem Erzählen begegne. Sie drängen sich auf und schlüpfen mir in den Text hinein, da frisiere ich sie dann hin und wieder ein wenig zurecht. Jetzt stehen sie dort – als Werbetafeln fürs Lesen, als Einladungen an Sie, sie in ihrer ursprünglichen Umgebung aufzusuchen. Dabei soll Ihnen meine Literaturliste hinten im Buch helfen.

Vorausschicken möchte ich dem Text noch, dass ich das Maskulin für beide Geschlechter (und alles dazwischen) verwende. Ich mag mir mein Erzählen nicht mit umständlichen gendergemäßen Formulierungen verunstalten – ich glaube, die Frauen sind darin auch so dominant genug vertreten.

Sie werde ich mit lieber Leser oder liebe Leser ansprechen. Ob einzeln oder als Gruppe ist logisch gesehen eine schwierige Entscheidung, dazu könnte ich gleich einen Exkurs schreiben, aber ich möchte Sie nicht schon zu Beginn abschrecken. Ich werde Sie also einmal so und einmal so ansprechen, wie es mir im entsprechenden Kontext gefällt.

Zum Schluss noch ein Statement in eigener Sache und frei nach Alois Brandstetter: Ich bleibe bei meinen provinziellen Geschichten, obwohl ich mir damit keine Geltung auf dem Büchermarkt verschaffen kann. Mir liegt nämlich nichts am Nobelpreis. Dies als Klarstellung.

Judenburg, März 2016

Erstes Kapitel
Was bisher geschah und wie ich mich eingewöhne

Der Name der Thorburg, auf dem Apfelbaum, da Vata kommt das Gassl hoch, der Jüngling am Glashaus, Mopedschisten, Dschrawodln auf dem Ortgang, ein UFO stürzt ab, Lorli lächelt, das Multifunktionszimmer, und so weiter – zum Beispiel: Nahsehschauen

Meine Behausung war mir zu klein geworden, ich wollte hinaus. Ich stand, lag vor dem Ausgang einer engen Pforte, ich wusste, da würd’ ich durchmüssen – Mühe und Not! Und noch dazu Blockade von der anderen Seite: Frau Isa wollte ihren Roman zu Ende lesen. Keine Willkommenskultur! Aber jeder Roman ist einmal zu Ende und Frau Isa machte sich bereit mir herauszuhelfen. Ich zwängte mich durch die Pforte, sie packte mich an den Schultern und ich rutschte hinein in eine weiße Welt: weiße Laken, weiße Windeln, weißes Steckkissen, weißer Mutterbusen und das alles in einem weißen Haus und drumherum das Feenthal, eingemummelt in eine weiße Schneedecke. Da war ich jetzt.

Es wurde grün im Feenthal und meine Mutter trug mich vom Weißen Haus in das kleine Holzhaus. Da wohnten wir fürderhin, Vater Mutter Kind. Gute acht Jahre wohnten wir da und in dieser Zeit war allerhand los.

Meine Oma Rosa gab in ihrem kleinen Häuschen unweit des unseren Sonntagsgesellschaften für Bekannte und Verwandte, im Lusthaus und im Küchensalon. Da schrummschrummte mein Vater mit seiner Ziehharmonika, und sie sangen und aßen fette Torten und tranken Kaffee, und mein Urgroßvater sorgte dafür, dass darin Fliegen schwammen oder garstige Spinnen. Und unter den Wiener Verwandten war einer, der in der Dunkelheit der Feenthal-Nacht so eine Angst hatte, dass er nur mit einem Messer nach draußen ging.

Im Weißen Haus führte meine Großmutter Ama ein Gasthaus, in dem sich regelmäßig die Herren Pi und Gru trafen. Die politisierten und stritten über Russland und Amerika, und mir erzählten sie vom Weltuntergang, damit ich mich fürchte. Vor der Narrischen Frieda fürchtete ich mich auch, weil sie so laut schrie. Das Waldmandl dagegen schlich lautlos und unsichtbar herum. Ich wusste trotzdem, wo es schlich und wie es aussah, weil mir das der Herr Egger erzählt hatte.

Mit dem Edi spielte ich unter dem Küchentisch Vater und Mutter. Ich versorgte unsere Kinder und schickte ihn zum Einkaufen. Er war ein prima Vater, er tat alles, was ich ihm anschaffte, mit wenigen Ausnahmen. Mit der Roswitha und der Dagmar habe ich die Frauen erschreckt: Nach Entledigung unserer Spielhosen sind wir nackig an ihnen vorbeigeflitzt, manchmal ist die Trudi mitgeflitzt, quasi Trittbrettfahrerin. Die Frauen haben geschimpft und wir haben gelacht, die Roswitha laut und heiser.

Nach und nach sind meine Spielgefährten fortgezogen, und die Großeltern vom Weißen Haus sind ins Städtchen übersiedelt. Dann wurde meine Oma Rosa umgefahren, am Heimweg vom Einkaufen, und danach wurde sie ein bisschen kränklich und traurig, ihre Sonntagsgesellschaften schrumpften. Die Wiener Verwandten kamen auch nicht mehr, fuhren stattdessen lieber nach Italien. Jetzt war’s mir im Feenthal zu einsam, ich wollte auch weg. Dieser Wunsch wurde mir erfüllt, denn er deckte sich mit dem Wunsch meiner Eltern. In den großen Sommerferien zwischen meinem zweiten und meinem dritten Schuljahr – ich war acht Jahre alt – zogen wir Anfang August in das Haus der Großeltern im Städtchen. Meschane makom meschane masal, sagt ein hebräisches Sprichwort – wer seinen Ort ändert, ändert sein Geschick. Auch für mich wurde mit dem Umzug alles anders, und in das Andere musste ich mich jetzt eingewöhnen.

Das sei ja eine Burg, sagte meine Mutter. Eine Burg sei das Haus, in das wir gezogen seien, so dicke kalte Steinmauern und ein wenig ruinös, und schief und krumm in die Erde eingewachsen. Kein Wunder, dass es die Großeltern von der Witwe Gauby so billig hatten kaufen können. Ach, und kein Vergleich mit unserem kleinen Holzhaus drinnen im Feenthal. So anheimelnd sei es dort gewesen, so gemütlich, aber halt leider so weit weg, auf die Dauer mein Schulweg viel zu lang und die Mühsal mit dem Einkaufen viel zu groß; mein Vater mit dem Motorroller habe es freilich leichter gehabt, im Winter aber nicht. Wir könnten wirklich froh sein, endlich im Städtchen zu wohnen.

Wie, überlegen meine Mutter und ich eines Nachmittags, könnte unser Haus, wenn es denn eine Burg wäre, heißen; Burg allein ist uns ein wenig zu wenig. Thorburg, mit h, schlage ich vor, denn gleich oben am Ende der Alten Straße, an der unser altes Haus zwischen anderen alten Häusern steht, ist früher ein Stadttor gewesen, und Tor hat man früher mit h geschrieben. Ja, das passte, ab jetzt und für immer sollte es unsere Thorburg sein.

Die Thorburg lehnt sich wie das Weiße Haus im Feenthal an einen Hang, des-halb hat sie von der Alten Straße aus gesehen ein Stockwerk, vom Garten aus gesehen aber zwei. Die in Ost-West-Richtung verlaufende Alte Straße war bis zum Bau der Neuen Straße die Hauptverkehrsader durchs Städtchen. Schon Napoleon und seine Soldaten müssen sie im April 1797 beim Verlassen des Städtchens hinuntergezogen sein; die Bewohner der Häuser werden neugierig und ängstlich aus den Fenstern gegafft haben. Die Thorburg war zu der Zeit ein bescheidenes Handwerkerhaus; die Chronik erzählt von einem Lödler, das ist einer, der das Leder aus den in der Nachbarschaft liegenden Gerbereien verarbeitet hat, von einem Sattler, von einem Zinngießer, von einem Schuster, von einem Schneider. Die Chronik erzählt auch, dass die Thorburg schon während des Dreißigjährigen Krieges gestanden ist, allerdings brannte sie danach ein paarmal, zum letzten Mal 1710, wobei man annehmen darf, dass die Grundmauern jeden Brand einigermaßen heil überstanden haben. Aus dem Brandschutt wird man jeweils herausgeholt haben, was man zum Wiederaufbau verwenden konnte, die Reste hat man zur Mitte hin auf einen Haufen gekehrt. Und da liegen sie noch, im tiefen Zentrum des Hauses, von vier dicken Mauern umschlossen.

 

Hinter der Thorburg ist der Garten wie ein großes grünes Handtuch auf den sonnigen Südhang gebreitet. Unten wird der Garten durch eine Straße und einen Bach begrenzt, beide verbinden uns mit dem Feenthal. Über den Bach führt ein Brücklein zu einem Haus mit den üblichen Holzhütten (obersteirisches Hüttenwesen), dahinter geht es einen wilden Wald bergan. Der Berg ist ein Kalvarienberg, der Wald ist ein Finsterwald (Peter Handke). Die Fichten haben ihre Äste eng miteinander verhakt – dichtes Fichtendickicht – und lassen das Licht nicht nach unten durch. Solche Finsterwälder schmücken oder verunzieren – ob dies oder das, ist eine Frage des persönlichen Geschmacks – weite Teile der schönen Obersteiermark.

Auf der einen Seite des Gartens, auf der linken, wenn man vom Haus nach unten schaut, trennt uns ein schmaler Pfad vom Nachbargarten, ein steirisches Steigerl, wir nennen es das Gassl. Es verbindet die Alte Straße und die Bachgasse und wird vorrangig von den Leuten begangen, die unten in der Bachgasse wohnen.

Opa K. kam das Gassl hoch, wenn er, als er schon in Rente war, bei uns vorbeischaute, um uns etwas Gutes aus dem Feenthal zu bringen: Kirschen, Eierschwammerl (Pfifferlinge), einen Herrenpilz – nicht wurmstichig, Bauernspeck Bauernbrot Bauernbutter, und im Advent ein paar Zweiglein von der alten Tanne im Tal. Meist war er angekündigt und meine Mutter erwartete ihn. Immer wieder schaute sie zum Fenster hinaus, und wenn sie ihn das Gassl hochkommen sah, rief sie voller Freude: Da Vata kummt! Mit leuchtenden Augen lief sie ihm entgegen, umhalste ihn und küsste ihn auf die stachelige Wange – Dreitagebart, mindestens. Sie lotste ihn in unsere Küche und half ihm, den Rucksack abzulegen und auszupacken. Sie bestaunte die Gaben und bedankte sich – danke danke danke. Er, da Vata, setzte sich an den Tisch, zündete sich seine Pfeife an und schenkte ihr und mir, so ich da war, ein väterliches Schmunzeln. Sie bewirtete ihn: Kaffee oder Tee? (mit oder ohne Rum war keine Frage, weil immer mit), oder lieber ein Glas Weißwein? Essen wollte er nie etwas. Sie setzte sich zu ihm und zupfte ihm so beiläufig irgendwo ein Haar weg, schob ihm eins aus der Stirn, schmierte ihm das komische Muttermal auf der Wange mit der selbstgemachten Ringelblumensalbe ein – die Ringelblumen aus dem eigenen Garten und das Fett von glücklichen Schweinen. Er hielt brav still, ließ sich ihre Handgreiflichkeiten gutmütig gefallen, nannte sie mein Töchterlein. Lange konnte er nie bleiben, er musste noch ins Städtchen wegen diverser ihm von Oma Rosa aufgetragener Besorgungen. Sein Töchterlein begleitete ihn bis unten zur Haustür und hatte den Rest des Tages gute Laune; ich glaube, sie hatte ihren Vater von allen Menschen am allerliebsten.

Auf der anderen Seite des Gartens, auf der rechten, schließt direkt der Nachbargarten an, ein etwas vernachlässigter Nutzgarten und nach unten hin ein grandioser Dschungel, in dem Katzen und anderes Getier herumschleichen. Die Buben des zu diesem Garten gehörenden Hauses spielen, naja: brüllen und ballern oben im Hof. Manchmal geht ein schöner Jüngling, später werde ich ihn noch näher kennenlernen, die Steintreppen zum Garten hinunter. Da steht zwischen den Beeten ein niedriges, im Sommer nach oben hin offenes Glashaus, in dem er Kakteen zieht. Er hockt sich vor seine Kakteen und schaut. Stundenlang, kommt mir vor, hockt er da und schaut und schaut, und tut nichts. Tut doch was: raucht eine Zigarette nach der anderen und zupft hin und wieder an einem Kaktus. Das kann ich alles sehen, denn ich habe mir in unserem Garten durch die Wiese einen Pfad zum Apfelbaum getreten, wo eine Bank und ein Tisch stehen, und jeden Tag steige ich auf die Bank und von der Bank auf den Tisch, und vom Tisch klettere ich auf einen niedrig angesetzten Ast, und von dem Ast klettere ich weiter zu einer Astgabel, in der ich, selbst ein wenig versteckt, bequem sitzen und meine Umgebung beobachten kann. Ein wenig sitzt es sich hier wie in der Felsennische hinter dem Weißen Haus im Feenthal. Ein vertrautes Gefühl also und doch etwas Neues, denn hier sitze ich auf einem Baum und das erfüllt mich mit Stolz, war doch das Auf-die-Bäume-Klettern im Feenthal aus Gründen der Stärke und der Geschicklichkeit meinen Cousins vorbehalten gewesen; mancher wird sich erinnern: Wene saß einmal fast einen ganzen Tag auf der hohen Fichte bei Oma Rosas Häuschen. Jetzt sitze ich auf einem Baum, den ganzen August lang bis zum Ende der Sommerferien. Von den grünen Äpfeln soll ich ja nicht probieren, der Zeigefinger wurde erhoben: Bauchweh – Darmverschlingung. Und aufpassen soll ich, dass ich nicht herunterfalle. Ich habe aufgepasst, trotz-dem bin ich heruntergefallen, weil ich höher hinaus wollte, noch ein Stück nach oben. Ich fiel ins Gras, aber leider auf den Rücken und bekam für ewige Augenblicke keine Luft. Glücklicherweise kam ich mit dem Schrecken davon und glücklicherweise hatte niemand meinen Sturz gesehen. Meine Mutter hätte nämlich auf keinen Fall von diesem Fall erfahren dürfen, sie hätte mich mit einem Baumverbot belegt und dessen Einhaltung kontrolliert. Fortan

blieb ich in meiner Astgabel sitzen, keine Experimente mehr.

Täglich also sitze ich ein paar Stunden auf dem Baum in Gesumm und Geflatter und gewöhne mich an die neue Umgebung. Oben bei den Häusern ist ein Geräuschteppich gewoben aus Rufen Reden Lachen Geschirrklappern, dem Auf und Zu von Fenstern und Türen und ein wenig Radiomusik, noch keine WUMWUM-Stereoanlagen. Unten durch die Bachgasse fährt hie und da ein Auto oder ein Fuhrwerk oder ein Traktor oder einer auf seinem Moped mit doppelt tönendem Arsch: unten das knatternde Auspuffrohr und oben Gedudel oder die sich überschlagende Stimme eines Sportkommentators aus einem auf den Gepäckträger geklemmten Kofferradio. Wenn ein Schichtarbeiter nachts oder sehr früh am Morgen mit seinem Moped durch die Bachgasse röhrte auf dem Weg vom oder ins Gussstahlwerk, wurden, auch ohne zusätz-lich tönendes Kofferradio, bestimmt fünfzig Leute wach. Mein Vater nann-te diese Krachmacher Mopedschisten, in Anlehnung an Idealisten Sozialisten Kommunisten (Konsumisten kannte er noch nicht). Heute Nacht, fluchte er, habe ihn wieder a sou a deppata Mopedschist, oder auch: a sou a Depp von an Mopedschisten, aufgeweckt.

Immer im Blick hatte ich, selbst wenn ich in einem Buch las, den Ortgang an unserem Haus. Der Ortgang hat einen Boden aus Holzbrettern, ein Geländer aus Eisen und ein Dach aus Blech und ist nicht bloß der Weg zum Abort, sondern auch ein Ort für sich, den wir großspurig Balkon nennen. Die weiblichen Hausbewohner stehen dort oder sitzen auf der schmalen Bank – auf dem quer stehenden Schemel sitzt fast den ganzen Tag der alte Herr O. –, schauen in den Garten hinunter und unterhalten sich. Wenn sie ihre Stimmen nicht gerade bis zu einem Flüstern zurücknehmen, fallen Gesprächsfetzen zu mir herab, aus denen ich mir allerhand zusammenreime. Über ihren Köpfen ist eine Leine gespannt, auf der kleine Wäsche zum Trocknen hängt: Geschirrtücher, Socken, eine Unterhose. Große Wäschestücke werden auf die im Garten oder winters auf die im Dachboden gespannten Leinen gehängt.

An einem schon dunklen Herbstabend des Jahres Weißnichtmehr (1958?) stand ich allein auf unserem Ortgang, hängte gerade ein feuchtes Geschirrtuch zum Trocknen auf und schaute hoch zum Himmel. Da kam ein UFO angeflogen. Sie haben richtig gehört, liebe Leser: ein UFO, ein Unbekanntes Flug-Objekt, eine runde Scheibe größer als der Vollmond und hell leuchtend. Es flog mit großer Geschwindigkeit Richtung Süden, dabei brach es plötzlich mittig entzwei. Die beiden Teile strebten voneinander weg und fielen hinter die schwarze Zackenlinie des Finsterwaldes hinunter. Eine Hälfte zog einen leuchtenden Streifen hinter sich her. Ich blieb baff stehen, erwartete mehr, irgendetwas, das Heranrauschen eines zweiten Objektes, einen Knall, einen Donner, aber es passierte nichts weiter. Aufgeregt ging ich nach oben und berichtete. Ein Meteor, sagte mein Vater; meine Mutter zuckte mit den Schultern. Wochenlang erzählte ich allen davon und fand heraus, dass niemand außer mir dieses Spektakel gesehen hatte, aber sie sagten auch: Sternschnuppe. Nur Ama machte eine Ausnahme, sie hatte nichts gegen ein UFO im Sinne eines außerirdischen Raumschiffes, sie hielt das durchaus für möglich.

Erst kürzlich habe ich mich an diesen Vorfall erinnert. Da las ich nämlich in Murtal 1, dass es nicht weit von unserem Städtchen einen weltweit bekannten UFO-Hotspot gebe. Ich zitiere: Es ist Nacht als die beiden von einer Motorsportveranstaltung nach Hause kommen. Vom Balkon aus beobachten sie rote Kugeln, die über den Bergen zu schweben scheinen. Bis zu dieser Sichtung (sagen die beiden) haben wir ein ganz normales Leben gelebt. Und plötzlich war alles anders. Ich lebte nach meinem UFO-Erlebnis mein ganz normales Leben weiter, ich hatte ja auch nur eine einzige und noch nicht einmal eine Kugel, sondern nur eine Scheibe gesehen, und die war noch dazu entzwei gebrochen.

Zurück zu meinem Thron auf dem Apfelbaum, wo ich in halbschattiger Wärme sitze schaue höre lese sinniere und tagträume. Ich fühle mich wohl und überhaupt nicht einsam, sondern mittendrin, obwohl ich in diesen Augustwochen keinen Kontakt zu anderen Kindern hatte. Wo eigentlich war meine Freundin Lorli aus dem Nachbarhaus? Erst zu Schulbeginn im Herbst kam sie wieder zu ihren Großeltern. Sie war etwa drei Jahre älter als ich und ging in die Hauptschule (Realschule). Ich kannte sie von den früheren Besuchen bei meinen Großeltern und ich hatte sie sehr gern, so gern wie früher im Feenthal zuerst den Edi und nach seinem Verschwinden den Alois. Doch während diese beiden, vor allem der Alois, auch einmal bockig waren, war Lorli immer lieb. Wenn Lorli lächelte, und sie lächelte oft, blitzten ihre kleinen weißen Zähne auf, und in ihre Wangen und in ihr Kinn wurden Grübchen gezaubert, und die lustigen braunen Pünktchen, die über ihr ganzes Gesicht gestreut waren, lächelten alle mit. Wenn Lorli mich anlächelte, musste ich zurücklächeln, dann legte sie ihren Arm um meine Schulter, und ich, die Kleine, schmiegte mich an sie, die Große, und für einen magischen Augenblick gehörte sie ganz mir. Das dunkelblonde lockige Haar trug sie im Herrenschnitt, und schwarzweiß gewürfelte Hosen hatte sie an, Pepitahosen, und dazu Rollkragenpullis – so schick! Es gibt einige Fotografien von unserem Miteinander; auf einer sitzen wir an unserem runden Wohnzimmertischchen – an dem ich auf einer anderen Fotografie mit Alois über dem Wilhelm-Busch-Album sitze – über das Mensch-ärgere-Dich-nicht gebeugt und schauen ernst und nachdenklich drein, wie Schachspieler. Aber meistens hatten wir es lustig. Einmal saßen wir in Großmutter Amas Küche bei Kakao und Buttersemmeln und haben so lachen müssen. Warum weiß ich nicht mehr, doch das Lachen lag ja immer auf der Lauer, und jede Nichtigkeit genügte es hervorbrechen zu lassen. Und wie wir nun so lachten, haben wir Kakao und Semmelbrösel über den Tisch gespuckt – ein bisschen Sauerei gemacht. Darüber haben wir noch mehr lachen müssen. Ama kam und schaute streng, wir verkutzten uns (sich verschlucken und dabei husten müssen); darüber lachte Ama, und wir platzen erleichtert wieder los, jetzt – flächendeckende Sauerei. Als der Höhepunkt unserer Lachlust vorbei, griff sich Ama einen Fetzen (Wischtuch) und wischte den dunklen Holztisch sauber. Nicht einmal ein Wachstischtuch habe die auf ihrem Küchentisch, mokierte sich meine Mutter. Typisch Ama, und typisch auch, dass die mir und der Lorli das Schnapsen beigebracht hat. Wir durften es an den Nachmittagen am Tisch im großelterlichen Wohnzimmer spielen. Das sei doch kein Kartenspiel für Kinder, das sei ein Kartenspiel für Wirtshausgänger. Aber die Großeltern? Die Großeltern spielten das aber jeden Abend! Ja die, die Großeltern – halt nicht normal.

 

Oft war ich bei Lorli im Nachbarhaus, und wenn uns dann ihr Opa die nebulöse Geschichte von der Weißen Frau in der Thorburg erzählte, haben wir uns auf dem Küchen-Diwan eng aneinander geschmiegt. Und obwohl ihre Oma sagte, der erzähle uns bloß ein Märchen, wäre ich nie allein in unser Kellergewölbe gegangen, aus dem diese helle Schattin herausgezogen war, und ungern begleitete ich meine Mutter, wenn sie dort hineingeisterte, um Erdäpfel zu holen oder sauer Eingelegtes und ich ihr die Taschenlampe halten musste.

Überhaupt war mir die Thorburg trotz der vielen Menschen, die dort lebten, nach Einbruch der Dunkelheit nicht geheuer. Ich war mir sicher, dass dort erdgebundene Seelen ehemaliger Bewohner herumspukten, ich hatte schon gespürt, wie sie an mir vorbeistrichen und mich mit ihren Gespensteraugen anglotzen und ihre Gespensterarme nach mir ausstreckten. Wenn ich abends im Bett lag, zog ich mir die Decke bis an die Augen hoch, und wenn mir zu warm wurde, getraute ich mich nicht, Arme oder Beine oder auch nur Finger oder Zehen nach draußen zu legen. Lieber schwitzte ich, als dass mich wo-möglich etwas Eiskaltes berührt hätte.

Nicht nur Lorlis Opa, der Herr Rumpler, wusste eine Gespenstergeschichte aus der Thorburg, nein, sogar meine Mutter erzählte eines Tages eine, eine ganz aktuelle, die sich noch dazu direkt in unserer Wohnung zugetragen hatte. Möchten Sie sie erfahren? Na egal, ich erzähle sie einfach, Sie haben ja die Möglichkeit den Absatz zu überspringen.

Also, mein Vater und meine Mutter hätten des Nachts – ich hatte da schon mein Zimmer im Erdgeschoss – ganz deutlich gehört, wie jemand durch die Küche ging und Laden auf und zu schob und einen Stuhl rückte. Unabhängig voneinander hätten sie das gehört und jeder habe anfangs geglaubt, der andere sei in der Küche, doch bald entdeckt, dass der andere ebenfalls wach im Bett lag. Da hätte meine Mutter meinem Vater zugeflüstert: Do is wer! Da sei es draußen wieder still gewesen. Mein Vater habe die Nachttischlampe ange-schaltet, sei aufgestanden und mutig und gänzlich unbewaffnet in die Küche gegangen. Dort habe er die Deckenlampe angeschaltet und sich umgeschaut. Kein Einbrecher, auch sonst nichts Ungewöhnliches. Die Wohnungstür war wie üblich von innen verschlossen – im unteren Schloss steckte der Schlüssel und oben war der Riegel vorgeschoben. Nachdem er trotzdem, zur Kontrolle, an der Eingangstür gerüttelt und ins Wohnzimmer hineingeschaut hatte, ging er fröstelnd ins Bett zurück. Lange noch seien sie wach gelegen, hätten ge-

lauscht und überlegt, unheimlich sei es ihnen zumute gewesen. Am Morgen sei dann ein Stuhl fast in der Mitte der Küche gestanden und mein Vater habe geschworen, er habe den nicht dahin geschoben, bestimmt nicht.

Als mir meine Mutter von diesem nächtlichen Spuk berichtete, gruselte ich mich nicht, ich hatte meine Grusel-Hochphase schon hinter mir und dachte nur, die spinnen, die beiden. Wahrscheinlich haben sie zur gleichen Zeit den gleichen Traum gehabt und sind beide davon wach geworden. Solche Zufälle gibt es, die sind zwar verblüffend, aber nicht gespenstisch. Und der Stuhl? Jo mei, das wird mein Vater gewesen sein, im Halbschlaf. Womöglich hat er ihn weggeschoben, weil er unter den Tisch schauen wollte, ob sich da einer ver-steckt hat, und jetzt kann er sich halt nicht mehr daran erinnern.

Weil wir mit dieser Spukgeschichte nun schon einmal in unsere Wohnung geraten sind, wollen wir, liebe Leser, uns da gleich näher umschauen. Kommen Sie bitte mit!

Unsere drei Räume liegen im ersten Stock über den beiden Räumen der Großeltern und entsprechen mit der Gesamtfläche von ungefähr vierzig Quadratmetern in etwa der Grundfläche unseres Holzhauses im Feenthal. Durch die Wohnungstür treten wir direkt in unsere Küche, eine Wohnküche. Sie liegt zwischen dem Kabinett, Schlafzimmer meiner Eltern (auch hinteres Zimmer genannt), und dem Wohnzimmer (auch vorderes Zimmer und später kleines Wohnzimmer genannt), von dem sie durch eine Bretterwand abgeteilt ist. Deshalb hat sie kein eigenes Fenster, Tageslicht bekommt sie durch die Glastüren zu den beiden Zimmern. Rechter Hand stehen der Herd und die Abwasch (Spüle), linker Hand der Tisch und drei Stühle und unser Badezimmer, das Waschkastl (Waschschränkchen). Das Waschkastl ist so hoch wie der Tisch, hat vorne eine breite und seitlich eine schmale Tür. Hinter der breiten Tür steht ein Kübel (Eimer) und hinter der schmalen Tür ist ein nach vorne herausschiebbarer Handtuchhalter. Oben hat das Kastl einen Deckel und darunter steht die Lavur, daneben ist Platz für die Seife und den Handtuchhalter. Wenn man sich gewaschen hat, kann man die Lavur herausheben und das Schmutzwasser in den darunter stehenden Kübel leeren. Den Handtuchhalter mit dem feuchten Handtuch kann man nach vorne herausziehen, damit das Handtuch trocknet; wenn es trocken ist oder jemand zu Besuch kommt, schiebt man ihn hinein. Das klingt alles umständlich, war aber für uns ein Fortschritt gegenüber der Lavur auf dem Stockerl. Geradeaus steht der hohe weiße Küchenschrank, die Kredenz (Anrichte), zu der gehen wir jetzt hin und ziehen eine Lade heraus, schauen, was drin liegt. Aha, da liegt das Besteck drin. Wir schieben die Lade wieder hinein und ziehen die Lade daneben heraus, da liegen Schöpfer Kochlöffel Erdäpfelstampfer Reibeisen Schneebesen. Alles hat seinen Platz hier, meine Mutter hält Ordnung. Wir schieben die Lade wieder hinein. Jetzt gehen wir an den Tisch mit dem karierten Wachs-tischtuch und der Blumenvase und dem Keramikaschenbecherchen, mehr Nippes als Gebrauchsgegenstand – wenn Opa K. seine Pfeife anzündet, holt meine Mutter den großen Aschenbecher von oben von der Kredenz herunter. Wir gehen also an den Tisch, ich rücke den einen Stuhl zurück und setze mich drauf. Gemütlich sitzt es sich hier und anheimelnd wäre es, bekäme ich Kaffee serviert (Sie, liebe Leser, bekämen auch einen, klar, Stehkaffee). Aber: Ei der Daus, wer kommt denn da? Mich dünkt, ich sehe meinen Vater, im Nachtgewande. In einem weißen Nachthemd kommt er daher, wie Hamlets Vater, peinlich! Was will der denn hier? Grad jetzt, wo ich eine Führung mache! Er schaltet das Licht ein und schaut sich um, er scheint etwas zu suchen. Er grüßt uns nicht einmal, geschweige denn, dass er einen Kaffee dabei hätte. Er schaut durch uns durch, er ignoriert uns. Er rüttelt an der Eingangstür, schaut ins Wohnzimmer hinein, schüttelt den Kopf, schaltet das Licht aus und geht zurück ins Schlafzimmer. Seltsam, ob er im Schlafe wandelte? Mein Vater, ein Schlafwandler? Weil’s mit dem Kaffeetrinken eh nichts wird, stehe ich wieder auf; dabei rücke ich den Stuhl noch einmal etwas zurück, in Richtung Küchenmitte, und wir gehen in das Wohnzimmer. Moment mal – ich hab vergessen, den Stuhl wieder an den Tisch zurückzuschieben. Ach, wurscht egal, wir müssen weiter im Text.

Bald nach unserem Einzug hatte meine Mutter im vorderen Teil der Küche einen Vorhang angebracht. Wenn echte Besucher kamen, womöglich noch überraschend, zog sie den mit grünen Blättern und roten Kirschen bedruckten Vorhang zu und entzog so herumstehendes Geschirr und andere Unaufgeräumtheiten ihren Blicken. Dann geleitete sie die Besucher durch den Quasi-Vorraum ins Wohnzimmer zur Sitzgruppe mit der Bettbank und den zwei Foadöis (Fauteuils) ums runde Tischchen, da mussten sie sich hinsetzen. Wir, liebe Leser, bleiben stehen und schauen uns um. In der Ecke hinter der Sitzgruppe steht eine Kommode, darin sind der Plattenspieler und Schallplatten untergebracht, und auf der Kommode steht ein Radio. Links davon in der nächsten Ecke, nach dem Ostfenster, steht die Nähmaschine meiner Mutter und daneben zwischen den beiden Fenstern nach Norden ein kleiner Schreibtisch für mich. An manchen Nachmittagen sitzen meine Mutter und ich einträchtig nebeneinander, sie näht und ich erledige meine Hausaufgaben. Mein Vater, wenn er schon zu Hause ist, liegt ab und zu auf der Bettbank und döst; nachts schlafe ich dort. Gleich neben dem Zimmereingang links steht der schwarze Ofen an der Wand und daneben, geschützt durch einen Wandschirm, der breite dunkelglänzende Kasten (Schrank), den wir Sekretär nennen. In den beiden Seitenteilen beherbergt er je eine Hängeabteilung, eine für den Vater und eine für Mutter und Kind. Im mittleren Teil unten liegen Bettwäsche und Leibwäsche, im aufklappbaren Fach darüber die Fotografier-Utensilien meines Vaters, Fotoapparat Stativ Belichtungsmesser und so weiter, und das Schachspiel. Mit den Schachfiguren hatte ich früher gespielt wie mit Puppen, und viele Male hatte ich meinen Vater angebettelt, mir das echte Spiel mit ihnen beizubringen. Aber er wollte nicht – sei zu schwer für mich, viel zu schwer. Irgendwann hat er mich überzeugt gehabt und ich hab mein Lebtag lang keinen Versuch mehr unternommen, das Schachspiel zu erlernen – zu schwer für mich. Über dem Klappfach hinter zwei gläsernen Schiebtüren ist unsere Bibliothek: Meisterwerke Deutscher Klassik, Das Buch von San Michele, Lebenslauf eines Optimisten, und noch ein paar andere. Was? Das sei keine Bibliothek? Dann lesen Sie doch bitte einmal A Series of Unfortunate Events, da gibt’s wesentlich kleinere Bibliotheken. Im Fach über den Büchern ist unsere Hausbar: Wein- und Schnapsgläser und Mutters selbst angesetzter Kräuterschnaps und Mutters selbst hergestellter Eierlikör und ein gekaufter Slibowitz.