Grundkurs methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit

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Grundkurs methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit
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utb 4846

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Soziale Arbeit studieren

Herausgegeben von Prof. Dr. Ulrike Urban-Stahl


Prof. Dr. Uta Maria Walter lehrt Theorie und Methoden der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin.


Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 4846

ISBN 978-3-8252-4846-8

ISBN 978-3-8463-4846-8 (EPUB)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

1 (K)eine Gebrauchsanleitung

2 Reflexive Praxis: (Nach-)Machen und (Nach-)Denken

2.1 Soziale Arbeit als reflexive Wissenschaft und Profession

2.1.1 Das doppelte Mandat

2.1.2 Reflexive Professionalität

2.2 Reflexion als Tätigkeit

2.2.1 Mimetische und analytische Formen der Erkenntnis

2.2.2 Reflexive Praktikerinnen

2.3 „Kritisch“ reflektieren

2.3.1 Traditionen „kritischen“ Denkens

2.3.2 Kritische Reflexion in der Sozialen Arbeit

2.4 Reflexion kritisch reflektiert

2.5 Exemplarische Vertiefung: „Fördern und Fordern“

3 Methoden und methodisches Handeln

3.1 Definitionsversuche

3.2 Methoden und methodische Konzepte einordnen

3.2.1 Sozialformen mit Geschichte: Einzelfall-, Gruppen- und Gemeinwesenarbeit

3.2.2 Fokusebenen

3.2.3 Funktionsverhältnis zur Lebenswelt

3.3 Funktionen und Diskussionen der Methodenentwicklung

3.3.1 Diagnose und/oder Dialog

3.3.2 Individuell und/oder kollektiv

3.3.3 Wirtschafts-, Wirkungs-und/oder Lebensweltorientierung

3.4 Theorie und Ethik in methodischem Handeln

3.4.1 Die Rolle von Theorien

3.4.2 Die Rolle der Ethik

3.5 Situation und Struktur in methodischem Handeln

3.5.1 Merkmale situativen Handelns

3.5.2 Strukturelle Merkmale und Faktoren

3.6 Charakteristika und Prinzipien des Handelns in der Sozialen Arbeit

3.6.1 Charakteristika

3.6.2 Prinzipien

3.7 Komponenten und Kompetenzen methodischen Handelns

3.8 Exemplarische Vertiefung: Empowerment

4 Die Herstellung und Deutung sozialer Probleme

4.1 Wie wird ein Problem zum Problem?

4.2 Sozialkonstruktivistische Grundannahmen

4.2.1 Sprache ist Handeln

4.2.2 Kommunikation

4.2.3 Diskurse

4.3 Die Konstruktion von Sinn-Geschichte(n)

4.3.1 Lebensgeschichten

4.3.2 Fallgeschichten

4.3.3 Problem-/Lösungsgeschichten

4.4 Kritische Reflexion

4.5 Exemplarische Vertiefung: Perspektivenwechsel

5 Analyse und Planung

5.1 Kontext- und Situationsanalyse

5.1.1 Arbeitsfeld

5.1.2 Organisation

5.1.3 Gruppen

5.1.4 Situation

5.1.5 Zeit und Raum

5.2 Auftrags- und Zielklärung

5.2.1 Aufträge

5.2.2 Ziele

5.3 Schritte, Folgen und Hindernisse klären

5.3.1 Konkretisieren

5.3.2 Folgen und Hindernisse abschätzen

5.4 Kritische Reflexion

5.5 Exemplarische Vertiefung: Case Management

6 Umsetzung – planvolles Handeln und Improvisation

 

6.1 Planvolles Handeln und seine Grenzen

6.2 Improvisation als Komponente methodischen Handelns

6.2.1 Theoretische Dimensionen der Improvisation

6.2.2 Grundprinzipien und -techniken der Theaterimprovisation

6.2.3 Improvisieren in der Sozialen Arbeit

6.3 Kritische Reflexion

6.4 Exemplarische Vertiefung: Krisenintervention

7 Dokumentieren und Evaluieren

7.1 Dokumentation

7.1.1 Funktionen der Dokumentation

7.1.2 Varianten der Dokumentation

7.1.3 Grundelemente und Herausforderungen der Dokumentation

7.2 Evaluation

7.2.1 Gegenstände und Merkmale der Evaluation

7.2.2 Arten der Evaluation

7.2.3 Methodische Elemente und Prozesse in Evaluationen

7.2.4 Evaluativ-reflexive methodische Konzepte

7.3 Kritische Reflexion

7.4 Exemplarische Vertiefung: Kollegiale Beratung

8 Aufgaben und Übungsvorschläge

8.1 Eigenes methodisches Handeln üben

8.1.1 Ressourcengespräch und -analyse

8.1.2 Fallanalyse und -reflexion

8.1.3 Übungen aus dem Improvisationstheater

8.1.4 Zeitungstheater – Mediengeschichten analysieren und reflektieren

8.1.5 Stadtteil-/Sozialraumanalyse

8.2 Methodisches Handeln analysieren und reflektieren

8.2.1 Methoden literaturbasiert analysieren und reflektieren

8.2.2 Methodisches Handeln im Kontext einer Praxisstelle analysieren und reflektieren

8.2.3 Das Wissen von PraktikerInnen analysieren und reflektieren

8.3 Weblinks

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Folgende Icons werden im Buch verwendet:


Zusammenfassung
Definition
Übungsaufgabe
Beispiel
Literatur- und Websiteempfehlungen

In den einzelnen Kapiteln gibt es Übungsaufgaben und Reflexionsfragen. Beispiellösungen finden Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages und der UTB GmbH bei der Darstellung dieses Titels: www.reinhardt-verlag.de, www.utb.de

1 (K)eine Gebrauchsanleitung

Methodisches Handeln. „Endlich ein konkretes Wie-es-gemachtwird“, denken Sie vielleicht. Um es gleich zu sagen: Dieses Buch bietet nur bedingt „How-to“ Anleitungen für die Praxis. Warum? Weil methodisches Handeln in Sozialer Arbeit kein rein technischrationales Unterfangen und keine manualisierbare Praxis ist. Soziale Arbeit lässt sich nicht auf instrumentelle Anwendung von Techniken reduzieren, so verlockend das auch sein mag. Natürlich sind rational begründbare, ggf. empirisch geprüfte und in schrittweises Vorgehen gegossene Methoden wichtige Elemente auch in der Sozialen Arbeit. Aufnahmebögen, Hilfepläne, Netzwerkkarten, aktives Zuhören und was sonst noch ins methodische Repertoire gezählt wird, weist eine instrumentelle Seite auf. Gelebte Praxis aber ist komplexer und dynamischer als es jede noch so gute Gebrauchsanleitung suggeriert.

Aber nicht nur aufgrund der Unberechenbarkeit gelebter Praxis kann methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit nicht auf das brave, systematische Folgen vorgegebener Schritte reduziert werden, sondern vor allem weil Handeln in der Sozialen Arbeit stets auch ein politischer Akt ist. Eingebettet in staatlich-institutionelle Strukturen und beeinflusst von kulturell-gesellschaftlichen Zusammenhängen ist das, was Fachkräfte tun, tun sollen, tun müssen oder auch nicht tun, niemals neutral. Es gibt, wie Amy Rossiter (2001) schrieb, für Soziale Arbeit keinen Ort der Unschuld, von dem aus gehandelt werden könnte. Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit, ganz gleich ob es etablierten Konzepten folgt oder neue Wege geht, heißt, sich die Zusammenhänge des Tuns und Denkens deshalb immer neu erschließen und begründen zu können, warum es gerechtfertigt ist, so und nicht anders vorzugehen. Anders gesagt: Fachkräfte der Sozialen Arbeit müssen kritisch-reflexive PraktikerInnen sein. Das zumindest ist der idealtypische Anspruch. Um sich diesem Anspruch zu nähern braucht Kritische Reflexion daher im Studium und auch in der späteren Praxis Räume und Strukturen, innerhalb derer sich kritisch-reflexive Denk- und Handlungsweisen einüben bzw . ausüben lassen.

Für den Lernprozess will dieses Buch daher erstens eine Einführung in Grundbegriffe methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit bieten und verbindet dies zweitens mit Anregungen zum Nachdenken über methodisches Handeln orientiert am Konzept „Kritischer Reflexion“. Kritische Reflexion ist daher der rote Faden, der sich durch alle Kapitel dieses Buches zieht und nach den Zusammenhängen zwischen individuellen und gesellschaftlichen Annahmen fragt, die sich in Handlungsweisen verbergen. Unter dem Vorzeichen kritischer Reflexion werden daher sowohl allgemeine Komponenten methodischen Handelns als auch ausgewählte spezifische Konzepte erläutert.

Als besondere Anregung und für das Einüben kritisch-reflexiver Fragen sind jedem Kapitel, in Kästen abgesetzt, kritische Reflexionsfragen zugeordnet, die sich zu den jeweiligen Inhalten anbieten. Diese Fragen sind nicht die einzig denkbaren, sondern können und sollen von Studierenden und Lehrenden ergänzt und erweitert werden.

Das Buch beginnt zunächst mit Ausführungen zum Konzept kritisch-reflexiver Praxis (Kap. 2), bevor Kapitel 3 einen ersten Überblick zu Grundbegriffen des Methodenverständnisses bietet. Die dann folgenden Kapitel beschäftigen sich eingehender mit wiederkehrenden Komponenten methodischen Handelns, wie der Konstruktion und Deutung von Problemen (Kap. 4), Prozessen von Analyse und Planung (Kap. 5), der Umsetzung geplanter Ideen und der Rolle der Improvisation (Kap. 6) sowie Praxen von Dokumentation und Evaluation (Kap. 7). Innerhalb von Kapiteln sowie an deren Ende werden ausgewählte methodische Konzepte beispielhaft verarbeitet und durch Übungen vertieft. So finden sich Darstellungen und Erläuterungen zu Empowerment, Case Management, lösungsfokussierten und narrativen Ansätzen, biografischer Einzelfallarbeit, Kollegialer Beratung u. a . In Kapitel 8 finden Sie zusätzlich Anregungen und Anleitungen für längere Übungen, über die Sie allein oder auch in Gruppen methodisches Handeln ausprobieren, analysieren und reflektieren können. Die didaktischen Vorschläge in diesem Buch sind typischerweise auf begleitete Einzel- und Kleingruppenarbeit ausgelegt, d.h. sie entfalten erst im Prozess gemeinschaftlicher Bearbeitung und Diskussion ihre eigentliche Wirkung. Im Sinne eines solchen dialogischen Lernens sind alle Fragen, Fälle und Übungen als Vorschläge und Inspiration gedacht und – wie das methodische Handeln der Sozialen Arbeit – eben nicht wirklich eine Gebrauchsanleitung.

2 Reflexive Praxis: (Nach-)Machen und (Nach-)Denken


Reflexive Qualitäten spielen im Selbstverständnis Sozialer Arbeit als Profession und Disziplin sowie im praktischen Alltag der Handelnden eine zentrale Rolle. Als Tätigkeit ist Reflexion ein rückbezügliches, vertiefendes Nachsinnen über Denken und Handeln in der Sozialen Arbeit. Reflexion nutzt sowohl analytisches Wissen, das auf kognitive Prozesse zurückgreift, wie auch mimetisches Wissen, das über körperliche Erfahrung und Nachahmung entsteht. Beide Wissensformen dienen dazu, unerwartete Situationen, aber auch gewöhnlich erscheinende Alltagssituationen kritisch in den Blick zu nehmen. Kritische Reflexion bezieht unterschiedliche Traditionen kritischen Denkens ein, um die Annahmen, die individuellen und kollektiven Praktiken zugrunde liegen, in Frage zu stellen. Dabei kommt der Kritischen Theorie als Grundlage kritischer Reflexion zu Fragen von Macht eine besondere Rolle zu.

„Reflexion“ gehört zu den zentralen Begriffen in Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit und ist darum auch für die Betrachtung methodischen Handelns unerlässlich. Abgeleitet vom lateinischen Wortstamm „reflectere“ für „zurückbeugen“ tauchen verschiedene Bedeutungsvarianten des Wortes in der Sozialen Arbeit auf. Zum einen wird die Identität Sozialer Arbeit als „reflexiv“ charakterisiert, und zum anderen ist Reflexion etwas, das Studierende und Professionelle „tun“ sollen. „Reflexion“ dient also sowohl als Beschreibung für die Verortung der Sozialen Arbeit als Wissenschaft und für ihr Selbstverständnis als Profession, als auch für das konkrete situationsbezogene Denken und Handeln in der Praxis. Das Hauptaugenmerk dieses Kapitels liegt auf Reflexion als Tätigkeit, aber dennoch lohnt sich zunächst ein kurzer Blick auf die Identität Sozialer Arbeit als reflexive Wissenschaft und Profession, denn nur so erschließt sich die Wichtigkeit des Reflektierens auf der Handlungsebene .

2.1 Soziale Arbeit als reflexive Wissenschaft und Profession

Die derzeitige internationale Definition Sozialer Arbeit, verfasst im Juli 2014 von der International Federation of Social Workers (IFSW), definiert die Profession und Disziplin wie folgt (in deutscher Fassung):

„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein. Diese Definition kann auf nationaler und/oder regionaler Ebene weiter ausgeführt werden“ (DBSH 2016, 2).

 

Wer die zentralen Begriffe dieser Definition auf sich wirken lässt, erahnt bereits, dass sich Soziale Arbeit einer Reduktion auf einige wenige Arbeitsformen oder Wissensfelder entzieht. Zu vielfältig und komplex sind die Aufgabenbereiche und Faktoren, die „das Soziale“ als Gegenstand der Arbeit konstituieren, um sich in einfache Rezepturen oder Anleitungen zur Problemlösung – so verlockend sie auch sein mögen – retten zu wollen. Was Soziale Arbeit in dieser komplexen Gemengelage kennzeichnet, ist ihre dauerhafte, reflexive Bewegung im „Dazwischen“. Als Wissenschaft und Profession fokussiert sie auf die wechselseitige Dynamik zwischen Menschen und ihrer Umwelt, zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Bedürfnissen, zwischen Verhalten und Verhältnissen. Dieser doppelte Fokus erfordert eine bewegte und bewegliche Aufmerksamkeit, die typisch ist für die Soziale Arbeit. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass es eben diese reflexive Bewegung im Dazwischen verschiedener Ebenen und Systeme ist, die den Raum Sozialer Arbeit herstellt und aufrechthält. Insofern sind reflexive Qualitäten wesentlicher Teil der Identität Sozialer Arbeit. Soziale Arbeit als wissenschaftliches Feld ist folgerichtig transdisziplinär verortet. Der Ausdruck „trans-“disziplinär verweist darauf, dass Soziale Arbeit quer zu anderen Disziplinen liegt und aktive Transformationsarbeit leisten muss, um Wissensbestände aus verschiedenen Geistes-, Sozial- und Gesundheitswissenschaften in Beziehung zu eigenen Problemstellungen, Prinzipien und eigenem Wissen zu setzen. Nur durch aktive Bewertungs-, Übersetzungs- und Gestaltungsarbeit generiert Soziale Arbeit aus den Informationen anderer Disziplinen relevantes Wissen für eigene Theorien und Aufgaben. In dieser Rückbezüglichkeit ist Soziale Arbeit als Disziplin daher reflexiv.

Auch als Profession ist Soziale Arbeit durch die ständige Bewegung im Spannungsfeld und Freiraum zwischen Ebenen und Elementen bestimmt. Sie leistet kreative und kritische Übersetzungs- und Überbrückungsarbeit an den Bruchstellen der modernen Gesellschaft und zwischen Systemen, wie etwa Bildungs-, Justiz- oder Gesundheitswesen, die jeweils ihrer eigenen Logik folgen. Lang etablierte Denkfiguren wie „Person-in-Umwelt“ und „bio-psycho-sozial“ (Kap. 3) spiegeln diese dynamische Verortung der Profession, die sowohl Veränderungen auf individueller Ebene wie auch soziale Reform der umgebenden Strukturen zur Zielrichtung sozialarbeiterischen Handelns macht. Gleichzeitig ist die professionelle Identität Sozialer Arbeit in diesem Spannungs- und Freiraum im „Dazwischen“ immer auch von Paradoxien und Ambivalenzen geprägt.

2.1.1 Das doppelte Mandat

Das sogenannte „doppelte Mandat“ ist beispielhaft für die ambivalente und mitunter widersprüchliche Qualität Sozialer Arbeit.


Das doppelte Mandat ist ein Strukturmerkmal der Profession und beschreibt den Umstand, dass die Soziale Arbeit grundsätzlich von zwei Seiten „Mandate“, d.h. Aufträge und dazugehörige Befugnisse, erhält, nämlich zum einen von staatlichen Institutionen der Gesellschaft und zum anderen von den AdressatInnen der Arbeit. Soziale Arbeit soll ebenso die Interessen des Staates oder der Gesellschaft vertreten, wie auch Bedürfnisse und Ansprüche der AdressatInnen. Diese Doppelung ist strukturell verankert, denn die Praxis der Sozialen Arbeit ist über gesetzliche Aufträge und Finanzierungsstrukturen eingebunden in staatliche Interessen. Daraus erklärt sich auch, dass Soziale Arbeit nicht einfach immer und überall dort sofort tätig wird, wo Menschen Bedürfnisse äußern, sondern am ehesten dort aktiv wird, wo es über gesetzliche Aufträge vorgegebene Strukturen und Finanzierungen gibt. Aus dem doppelten Mandat ergeben sich Spannungen, allen voran die zwischen Hilfeleistung einerseits und sozialer Kontrolle andererseits. Im Feld der Jugendhilfe zum Beispiel ist der doppelte Auftrag des Helfens und Kontrollierens besonders explizit, denn wenn es um die Sicherung des Kindeswohls geht, sind Jugendamt und freie Träger ausdrücklich beauftragt, als Helfer und Wächter zu fungieren. In anderen Arbeitsfeldern ist diese oft als „Grundwiderspruch“ bezeichnete Paradoxie von Hilfe und Kontrolle weniger augenfällig, aber sie ist in allen Feldern präsent, denn auch die Praxis unterhalb offizieller Regularien beinhaltet immer normative Elemente.

Die Ambivalenz des Helfens: „Helfen“ zu wollen bedeutet, Entscheidungen darüber zu treffen, was sein „soll“, was besser oder wünschenswerter wäre, wem und warum deswegen zu „helfen“ sei und oft auch wie das Ziel am besten zu erreichen ist. All diese Vorstellungen sind nicht nur geprägt vom persönlichen Hintergrund der HelferInnen sowie von größeren gesellschaftlichen und kulturellen Diskursen, sondern können der Selbstbestimmung jener, denen „geholfen“ werden soll, auch zuwiderlaufen. „Helfen“ ist darum ein in sich ambivalentes Unterfangen, da die Soziale Arbeit in beständiger Gefahr ist, Erfüllungsgehilfin normativer gesellschaftlich-staatlicher Interessen oder kulturell dominanter Vorstellungen zu sein, sodass sie unter Umständen am Ende mehr zum Erhalt des Status Quo als zum sozialen Wandel beiträgt. Es ist die Unauflösbarkeit dieser Ambivalenz, die die Reflexion zum notwendigen Bestandteil der Profession macht.

2.1.2 Reflexive Professionalität

SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen benötigen das, was Dewe und Otto (2012) als „Reflexive Professionalität“ bezeichnet haben, eine Form des Denkens und Handelns, die stets den (Rück-)Bezug zwischen den Elementen sieht und sucht, und dabei auch das eigene Verhältnis zu anderen nicht aus den Augen verliert. Es ist die Fähigkeit

„[…] Wissen fallspezifisch und in je besonderen Kontexten zu mobilisieren, zu generieren und differente Wissensinhalte und Wissensformen reflexiv aufeinander zu beziehen, [sowie] in Interaktionen mit den AdressatInnen eine Verständigung darüber herbeizuführen, was die je individuelle Problemkonstellation auszeichnet und was aus der Sicht der AdressatInnen Sozialer Arbeit eine angemessene Bearbeitung und Lösung der Problemkonstellation sein könnte“ (Dewe/Otto 2012, 215).

Dafür bewegen sich Professionelle der Sozialen Arbeit hin und her zwischen den konkreten, unsicheren und immer auch einzigartigen Handlungssituationen und dem allgemeineren Wissen, das zum Beispiel in methodischen Konzepten, in Theorien und über empirische Forschung bereitgestellt wird. Sie bedürfen der Fähigkeit der „Multiperspektivität“, d.h. sie müssen stets verschiedene Perspektiven einnehmen können, um die politischen Dimensionen in sozialen Problemen und die gesellschaftlichen Aspekte in individuell lokalisierten Schwierigkeiten zu erkennen und auf die Besonderheit der jeweiligen Situation beziehen zu können.

2.2 Reflexion als Tätigkeit

Angesichts der reflexiven Qualitäten der Profession und Disziplin Sozialer Arbeit ist es kaum verwunderlich, dass die Aufforderung zur Reflexion als Tätigkeit seit vielen Jahren in Studium und Praxis Sozialer Arbeit allgegenwärtig ist. Dennoch ist der Terminus trotz seiner Popularität oft unscharf.


Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet reflektieren das vertiefende Nachsinnen über Erlebnisse, Empfindungen und Erkenntnisse. Es nimmt Vergangenes erneut in den Blick, spürt ihm nach, prüft es und imaginiert Künftiges vor diesem Hintergrund.

Was aber unterscheidet Reflexion von anderen Formen des Denkens, und welche Rolle spielt sie im Kontext von Bildung oder Praxis?

Meta-Kognition: Reflexion als Teil professioneller Tätigkeit und als Teil des Lernprozesses bedeutet, sich das eigene Denken, Sprechen und Tun im Zusammenhang mit situativen und biografischen Faktoren genauer anzusehen. Insofern ist Reflexion eine Form der Meta-Kognition, also eine Art des Denkens über das Denken. Dazu nimmt Reflexion sowohl die kleinen Momente der persönlichen Praxis wie etwa den Verlauf eines Gesprächs in den Blick, als auch die größeren Rahmenbedingungen des Handelns, wie zum Beispiel die Abläufe und Handlungslogik in Organisationen und Institutionen, sowie den gesellschaftlichen Kontext, in den Praxis eingebettet ist. Unerwartete oder neue Situationen bieten besondere Anlässe zum Reflektieren, aber auch Alltagssituationen, die erst einmal ganz gewöhnlich und „normal“ erscheinen, sind wichtige Reflexionsgegenstände, denn gerade das Vertraute und vermeintlich Normale gilt es genauer zu betrachten.

2.2.1 Mimetische und analytische Formen der Erkenntnis

Als eine Form des „Nachsinnens“ greift Reflexion auf das (Nach-) Denken zurück, das in den meisten Bildungsinstitutionen betont wird, aber auch auf das (Nach-)Machen, das in Lernprozessen allgegenwärtig, aber nicht immer bewusst ist. Reflexionsprozesse bieten so die Möglichkeit, sowohl analytische als auch mimetische Formen der Erkenntnis zu nutzen (Abb. 1).

Analytisches Wissen: Analyse bedeutet ursprünglich „Zergliederung“. Orientiert am gedanklichen oder theorie-geleiteten konzeptionellen Rahmen bricht analytisches Denken ein Phänomen auf, zerlegt es in Bestandteile, ordnet die Teile Kategorien zu, identifiziert Abläufe und Faktoren. Analysen sind in der Anlage systematisch und in der Darstellung oft von einem eher distanzierten Ton (vermeintlicher) Objektivität geprägt.

Mimetisches Wissen: Während analytisches Denken vorrangig rational-kognitive Fähigkeiten betont, beziehen sogenannte mimetische Formen der Erkenntnis auch andere, körperlich-physische Dimensionen mit ein. Mimesis bedeutet so viel wie „Nachmachen“ oder „Nachahmen“. Anders als in analytischer Logik, in der ein Phänomen in Bestandteile zerlegt und aus einer gewissen Distanz betrachtet wird, um es besser zu verstehen, fokussiert mimetische Logik jenes Wissen, das sich in und aus dem Machen und Nachmachen ergibt. Als eine Form des Noch-Einmal-Machens beruht mimetisches Wissen nicht nur auf mentalen, sondern immer auch auf körperlichen Aktivitäten und Erfahrungen. Der physische Körper samt Gesten, Haltungen, Sinneswahrnehmungen etc. wird in einer konkreten räumlichen Umgebung aktiv. Die daraus resultierende Form physisch verorteten Wissens ist ein „Be-greifen“, das dem analytischen (Nach-)Denken vorgelagert ist. Es ist praktisches Handlungswissen, das sich aus der zeitgleichen Verwobenheit von Tun und Wissen ergibt. Eine mimetische Orientierung in der Sozialen Arbeit ist „eine Art spontanes und gleichzeitiges Wissen und Tun, und das Begreifen der Welt-als-Ganzes statt Dichotomien von Subjekt und Objekt“ (Saleebey 1989, 558, Übers. d. A.).


Abb. 1: Reflexion zwischen mimetischem und analytischem Wissen


Denken Sie an die vielfältigen Alltagsfähigkeiten und -gewohnheiten, die Sie im Lauf des Lebens erworben haben, aber auch an besondere Kompetenzen. Überlegen Sie: Welche Rolle spielt „nachahmendes Lernen“ in Ihrer Lerngeschichte?

Inwiefern sind sowohl mimetische wie auch analytische Formen des Wissens und Lernens für Reflexionen in der Sozialen Arbeit wichtig? (Zur Erinnerung: „mimetisch“ meint hier Wissen und Lernen, das aus Machen, Nachmachen, Erfahren etc. kommt, und „analytisch“ meint Wissen und Lernen, das über Nachdenken generiert wird). Geben Sie Beispiele.

2.2.2 Reflexive PraktikerInnen

Welches Wissen kommt in professioneller Praxis zum Einsatz und wie wird dieses Wissen hergestellt? Diesen Fragen ging der USamerikanische Praxisforscher Donald Schön nach und analysierte die Entscheidungs- und Handlungslogik von Professionellen aus ganz unterschiedlichen Bereichen wie Design, Psychotherapie, Architektur oder Ingenieurwesen. Schön kam zu der Erkenntnis, dass professionelle Praxis nicht einfach die unmittelbare Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sie etwa im Studium erworben werden, ist. Vielmehr kombinieren Professionelle im Alltag Wissen, das aus der Wissenschaft kommt, mit Wissen, das sie in und durch Praxis gewinnen. Sie werden so zu dem, was Schön (1983) „Reflexive PraktikerInnen“ nannte. Mit seinem Modell der „Reflexiven PraktikerInnen“ distanzierte sich Schön von rein technisch-rationalen Bildungsansätzen, die davon ausgehen, professionelle Praxis bestehe allein daraus, Probleme in vorgegebene Kategorien einzuordnen und dann durch die stringente Anwendung bestimmter Techniken zu lösen. Praxis, so Schön, ist sehr viel „sumpfiger“ und unklarer, als es technisch-rationale Modelle vermuten lassen (Schön 1987, 3).

Wissen-in-Aktion: Über ihre Praxis entwickeln PraktikerInnen eine Form von „Wissen-in-Aktion“ („knowledge-in-action“), das ihre Handlungen und Entscheidungen beeinflusst, aber kaum oder nur mühsam artikulierbar ist. Sie haben es „irgendwie gewusst“, „im Gefühl gehabt“ oder „intuitiv so gemacht“. Erst wenn Professionelle mittels Reflexion eine forschend-lernende Haltung einnehmen, wird Wissen-in-Aktion zugänglich und beschreibbar und es entsteht formulierbares Praxiswissen.

Schön unterscheidet bei der forschend-lernenden Haltung ferner zwischen „Reflexion während der Aktion“ („reflection-inaction“) und „Reflexion über die Aktion“ („reflection-on-action“).

Reflexion während der Aktion: Hier geschieht das Reflektieren im Verlauf des Handelns. Ich unterbreche mein Handeln nicht oder nicht wesentlich, sondern bin und bleibe in derselben Situation. Diese Art der Reflexion während des Handlungsverlaufs wird vor allem dann angeregt, wenn Überraschendes meine üblichen Routinen oder Erwartungen „stört“. Überraschendes verweist darauf, dass mein Verständnis- und Erwartungsrahmen vielleicht nicht auf die Situation passt. Anstatt einfach wie gewohnt oder geplant weiter zu machen, nehme ich die Überraschung zum Anlass, meinen nächsten Schritt anzupassen und anders zu gestalten. In diesen Momenten fungieren PraktikerInnen als „MikroforscherInnen“, die über winzige Experimente das, was sie gerade wahrnehmen, mit schon bestehenden Ideen abgleichen. Sie probieren einen nächsten Schritt aus und achten dann darauf, was „die Situation antwortet“ („talk-back of the situation“). Wenn die Antwort oder Reaktion zum gewählten Verständnisrahmen passend erscheint, dann verfolgen sie diesen Weg weiter, wenn nicht, dann probieren sie erneut etwas anderes aus. Ob und inwieweit diese sehr schnell ablaufenden Anpassungsprozesse einer „Reflexion während der Aktion“ tatsächlich bewusst stattfinden oder doch eher außerhalb des Bewusstseins ablaufen, ist allerdings umstritten.

Reflexion über die Aktion: Diese Form der Reflexion findet bewusst und deutlich zeitversetzt von der Aktion statt. Die unmittelbare Situation ist vorbei und jetzt kann ich mir aus der Distanz den Prozess und das Erlebte genauer und mit mehr Ruhe ansehen. Dabei betrachte ich vor allem meine eigenen Entscheidungen und Handlungsweisen noch einmal: Welche Ideen habe ich verfolgt? Inwiefern habe ich diese Situation als vergleichbar mit anderen erlebten Situationen gesehen und entsprechend gehandelt? Gab es kleine Überraschungen, denen ich mit „Reflexion während der Aktion“ begegnet bin? Was fällt mir erst jetzt im Nachhinein auf?