Im Fallen lernt die Feder fliegen

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Im Fallen lernt die Feder fliegen
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Über dieses Buch

Die irakischstämmige Aida verleugnet ihre Herkunft, was immer wieder zu Streit mit ihrem Freund führt. In ihrer Not setzt sie sich hin und beginnt aufzuschreiben, was sie nicht sagen kann. Geboren in einem iranischen Flüchtlingslager, kam sie mit ihren Eltern und der älteren Schwester in die Schweiz. Die Mädchen gehen zur Schule, aber ihre Eltern kommen mit dem westlichen Alltag nicht zurecht und verklären mehr und mehr ihre Heimat. Der Vater, ein konservativer Theologe, beschließt schließlich, mit der ganzen Familie in den Irak zurückzukehren. Aber was für die Eltern die Heimat ist, die sie einst verlassen haben, ist für die beiden Schwestern ein fremdes Land. Als die Ältere verheiratet werden soll, fliehen sie nun ihrerseits und gelangen als unbegleitete Minderjährige in die Schweiz. Aber auch sie lässt die Vergangenheit nicht los.

Wieder gelingt es Usama Al Shahmani, vielschichtig von der großen inneren Anstrengung von Flüchtlingen bei ihren Integrationsbemühungen zu erzählen und dabei immer ein Fenster zur Hoffnung offenzulassen. Und nicht zuletzt überwindet er selbst die Mühsal des Exils durch das Verschmelzen der arabischen mit der westlichen Kultur im Erzählen.

«Das Buch übernimmt die Schönheit und Poesie von Usama Al Shahmanis Muttersprache ins Deutsche und bekommt dadurch eine einzigartige sprachliche Intensität.» Frankfurter Allgemeine Zeitung über In der Fremde sprechen die Bäume arabisch


Foto Ayşe Yavaş

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Al Nasiriyah), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert, er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 als Flüchtling in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittelter und übersetzt ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion» von Friedrich Schleiermacher. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.

Usama Al Shahmani

Im Fallen

lernt die Feder

fliegen

Roman

Limmat Verlag

Zürich

Nilgans

Daniel setzte sich auf einen Platz am Fenster und schaute mich durch die Glasscheibe an. Es war ein rätselhafter Blick, etwas gequält und bohrend. Er löste bei mir eine Traurigkeit aus, die mich beunruhigte. Wir schwiegen, bis der Zug abfuhr. Tief wünschte ich mir, dieser Augenblick möge andauern. Doch es würde nichts ändern. Solche Momente hatten mich noch nie zum Reden ge­bracht.

Vieles über mich kann Daniel nicht verstehen. «Es macht mich wahnsinnig, wenn du minutenlang vor dem Fenster stehst, regungslos wie ein Nagel in der Wand. Ich weiß nicht, was ich mit deinem stummen Warten an­­fangen soll», hat er einmal gesagt.

Jetzt herrscht Leere in unserer Wohnung. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich bemerkt, dass das Geräusch des Bestecks beim Essen genauso klingt wie damals im Flüchtlingsheim. Plötzlich habe ich meine Einsamkeit gespürt, ihre scharfen Zähne haben aus jeder Ecke gebleckt und mich durch die ganze Wohnung verfolgt. Im Schrank bin ich auf die Rose gestoßen, die er mir zum siebten Jahrestag unserer Beziehung geschenkt hat. Sie ist trocken. Ihre Farbe ist ein tiefdunkles Rot geworden.

Plötzlich habe ich die Stimme meiner Mutter gehört, wie sie mir und meiner Schwester einmal sagte: «Ihr seid meine Rosen, euer Duft ist für mich ein Stück Paradies, das ewig hält.» Ihre Stimme hat mich wieder in diesen Raum versetzt, den ich so lange gemieden habe. Ich habe mich vom Fenster abgewendet und mich an den leeren Esstisch gesetzt, auf dem nur Daniels Buch liegt, und meinen Laptop eingeschaltet.

Ich starre auf den leeren Bildschirm, und er beginnt sich mit Geschichten und Bildern zu füllen, von denen ich dachte, sie seien für immer verschwunden. Wie ein Spiegel, der alles sieht, ohne es aufzubewahren. Ich er­­innere mich, dass mir Schreiben schon einmal gehol­fen hat.

Als der Zug losfuhr und ich Daniel zurückwinkte, er­­innerte ich mich daran, wie ich ihn das erste Mal sah. Es war im Sommer 2010 im Kreuzlinger Seeburgpark. Ich war im ersten Lehrjahr in der Mediathek der Pädagogischen Hochschule in Kreuzlingen, er war an der Pädagogischen Maturitätsschule. Manchmal verbrachte ich meine Nachmittagspause am See. Einmal war auch er da, mit einer Gruppe von Klassenkameraden. Er war groß, hatte kräftige Hände und strahlend blaue Augen.

Er näherte sich der Bank, auf der ich saß, und fragte: «Stört es dich, wenn ich mich hier setze?»

«Nein», sagte ich und schaute in die Ferne, der blaue Himmel verschmolz mit dem Blau des Sees. Ich spürte, wie ich tiefer atmete, als würde meine Lunge größer werden. Wir schauten in dieselbe Richtung, aber das, was uns beschäftigte, waren bestimmt ganz unter­schied­liche Dinge.

«Arbeitest du in der Bibliothek? Ich habe dich oft dort gesehen», begann er.

«Ja, ich mache da meine Ausbildung.»

«Schön ... Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Daniel.»

«Ich bin Aida», antwortete ich zögernd und presste mich an die Lehne. Ich wollte eigentlich gehen, tat es aber nicht. Stattdessen atmete ich noch tiefer und suchte nach Halt im weiten Blau.

«Ich dachte, du seist Spanierin. Habe ich recht?», fuhr er fort.

«Spanierin?», antwortete ich mit einem fragenden Lächeln.

«Ja, ich weiß nicht, du siehst ein wenig so aus. Darf ich dich fragen, woher du kommst?»

«Ich bin ursprünglich aus dem Irak.»

«Aha, der Irak. Interessant. Hast du Familie hier?»

«Nein.»

«Lebst du hier ganz allein?»

«Ja, meine Eltern leben im Irak», antwortete ich genervt, ich packte meine Sachen in meinen Rucksack und sagte knapp: «Ich muss jetzt gehen.»

Er wünschte mir einen schönen Tag und blieb sitzen.

Auf dem Weg zurück zur Bibliothek beobachtete ich einen Mann, wie er mit seinem Kind spielte, singend gingen sie vor mir her. Ich hörte meine Mutter singen: «In meinem Herzen befindet sich ein Garten, alle seine Bäume sind mit Früchten beladen, wie süß sind die Früchte, wie reich bin ich an Geschichte, du bist meine Allerschönste.»

Damals lebte ich in Frauenfeld in einem Flüchtlingsheim nur für Frauen. In diesem Heim waren noch zwei andere arabischstämmige Frauen: Maisem aus Algerien und Dane aus Syrien. Beide Frauen waren kaum älter als ich und eng miteinander befreun­­det.

«Araber in der Schweiz haben gute Gründe, einander kennenzulernen und Freundschaft zu schließen. Wieso bist du uns gegenüber so reserviert? Willst du nicht einmal ein Wochenende mit uns verbringen? Du wirst es nicht bereuen», sagte mir Dane zwinkernd.

Sie rauchte Haschisch im Zimmer und hatte deswe­gen Probleme mit der Hausleiterin. Dies auch, weil sie beim Schlafen das Licht nicht ausmachte. «Ich will mich an der Dunkelheit, die ich erleben musste, rächen», sagte sie auf Arabisch.

Auch Maisem hatte es nicht leicht; wiederholt be­­schwerten sich die Mitbewohnerinnen, weil sie ständig sang. Sie sang auf Arabisch, aber weder ich noch Dane verstanden ihr Arabisch wirklich. «Singen macht glücklich. In jedem Lied ist ein Gedicht oder ein kleiner Trost zu Hause», meinte sie.

Ich verstand sie nicht, aber ihre Haltung zur Heimat erinnerte mich an meinen Vater. «Zu Hause konnte ich nicht mehr schlafen, wenn meine Mutter nur schon mein Bett etwas verschoben oder mein Kissen anders gerichtet hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal aus meiner Heimat fliehen müsse und nun selbst so weit verschoben bin.»

Als ich nach dem Treffen mit Daniel nach Hause kam, saßen Dane und Maisem in der Küche. «Wir machen Tabouleh, magst du mit uns essen?» Wir sprachen eine Art Hocharabisch, um uns zu verständigen.

«Nein, danke. Ich habe im Zug gegessen und bin müde», antwortete ich und ging die Treppe zu meinem Zimmer hoch.

Am nächsten Morgen ging ich zufrieden zur Arbeit. Das Sonnenlicht glänzte über der Stadt, die Stille der letzten Nacht war verflogen, es war, als würden die Vögel ihre Lieder mir vorsingen. Am Nachmittag sah ich Daniel in der Bibliothek wieder. Er holte ein paar Bücher, und bevor er den Raum verließ, lächelte er mir zu.

Einige Zeit später aßen wir gemeinsam zu Mittag. Die Gespräche mit ihm halfen mir weiter mit meinem Deutsch. Wir sprachen und lachten über Witze, die Lehrkräfte der Schule verulkten, unser Lachen flog über den See.

Beim Abschied fragte mich Daniel: «Wie oft verreist du in den Irak?»

Die Frage überrumpelte mich, ich blieb einen Mo­­ment still. Dann gab ich ihm die Frage zurück: «Darf ich dir etwas sagen?»

«Natürlich.»

«Ich rede nicht gern über meine Familie oder meine Herkunft. Bitte versteh mich nicht falsch, aber ich will einfach nicht danach gefragt werden.»

«Sicher doch. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.»

Ich nahm seine Entschuldigung an, bedankte mich und ging.

Die Treffen mit Daniel häuften sich, und jedes Mal fühlte ich mich glücklicher. Eine Hoffnung leuchtete auf wie ein Weizenfeld unter der irakischen Sonne. Ich begann, mich wieder über kleine Dinge zu freuen.

Er lud mich zu einem Fest an seiner Schule ein. Er erschien in traditionellen Appenzeller Kleidern und sah lustig aus. Sein Hut glich dem Barett der päpstlichen Schweizergarde. Er war der Attraktivste und Coolste in seiner Gruppe. Nach der Feier stand er hinter einem großen Tisch und stützte seine Hände auf ein großes, dickes Buch, als ob er einen Eid ablegen wollte. Er blickte mir tief in die Augen, wie in einer theatralischen Szene. Dann sagte er: «Aida, ich liebe dich.»

 

Es war ein ungeheurer Satz, der mich erfasste wie ein Bergbach, rasend und geheimnisvoll. Er beglückte mich, aber auf einmal überkam mich ein schlechtes Gefühl. Meine Lippen wurden trocken. Mir fiel Vater ein, wie er vor unserer Rückkehr in den Irak mit Mutter sprach, an einem Samstagmorgen, sie waren in der Küche, Nosche und ich auf dem Balkon.

«Unsere Töchter könnten den westlichen Lebensstil annehmen. Was, wenn eine von ihnen sich mit einem jungen Mann trifft? Wenn eine unserer Töchter eine Lesbe würde? Welche Schande! Was bleibt von meinem guten Ruf übrig, wenn eine mir nicht mehr gehorchen würde? Du musst mir helfen, in unser Dorf zurückzukehren, bevor es zu spät ist!»

«Ja, ich helfe dir», antwortete meine Mutter und schenkte ihm Schwarztee ein. Was hätte sie sonst sagen können? Aber sie wollte ohnehin in den Irak zurückkehren.

Daniel starrte mich an. Ich blieb ruhig.

«Du musst nichts sagen», lächelte er mich an. Ich lächelte zurück.

Unsere Beziehung hatte schon neun Jahre gehalten, als er wieder mit meiner Vergangenheit kam. Konnte das für unsere Zukunft von Belang sein? Ich hasste es, wenn er mich mitleidig anschaute, mich als Opfer sah. Dass ich über die Vergangenheit nicht reden kann, drängt mich noch mehr in diese Rolle.

Im Kern seiner Fragen empfand ich eine unange­nehme Neugier, mir kam es dann vor, als sei er nur der Ethnologiestudent und nicht mein Freund. Er hörte nicht auf, und schließlich spürte ich seine Fragen kör­perlich. Ich ärgerte mich. «Beim Schwimmen und wenn man sich ärgert, ist es besser, wenn man den Mund hält», sagen die Iraker.

Kurz darauf saßen Daniel und ich abends vor dem Fernseher. In einer Dokumentation drangen Männer der Terrorgruppe IS mit Äxten, Hämmern und anderen Gegenständen in ein Museum in Mosul ein, um wertvolle Schätze zu zerstören.

«Die Zivilisation, die Kultur der Menschheit schreit unter den Schlägen dieser Terroristen. Es macht mich traurig, dass die ganze Welt diese Bilder sieht und nichts dagegen unternimmt», kommentierte Daniel verzweifelt.

«Ja, vor ein paar Wochen habe ich ein berührendes Buch für die Bibliothek katalogisiert; die Autorin ­schildert, wie der IS Dörfer der Jesiden angreift. Es sind schreckliche Szenen. Sie brachten die Männer um und nahmen Frauen als Sexsklavinnen mit. Für hundert bis tausend Dollar wurde eine Frau auf einem ‹Frauenmarkt› in Mosul zum Verkauf angeboten, je nach Alter. Frauen zwischen fünfzehn und zwanzig behielten die IS-Anführer für sich.»

«Das ist in der Geschichte nicht einmal neu. Man kennt das von Kriegen im Mittelalter oder von noch früher», antwortete Daniel. Er interessierte sich für die Jesiden im Irak und fand es vor allem sehr merkwürdig, dass es im Jesidentum, im Gegensatz zu vielen anderen Religionen, kein Glaubensbuch gab.

«Es ist bemerkenswert, dass ein Glaube, der fünftausend Jahre alt ist, sich nur durch mündliche Überlieferungen halten konnte», sagte er verwundert.

«Ja, sie sind aber ein bisschen radikal, auch wenn sie kein Buch haben», entgegnete ich.

«Wie meinst du das? Sie haben doch keine heiligen Bücher, die die Freiheit einschränken könnten. Ihre Religion ist durch Erzählen und Reden entstanden. Jede Generation, wenn nicht jede Person in der Ge­­schich­­te dieses Glaubens, hat ein Stück gebaut, egal, ob klein oder groß, Hauptsache, jeder war und ist ein Teil der Erzählung. Ich finde das sehr demokratisch.»

«Ja, schon. Aber du darfst nicht vergessen, dass man zu diesem Glauben nicht übertreten darf. Man wird als Jeside geboren, und es müssen auch beide Eltern Jesiden sein. Eine Heirat über die Glaubensgrenze hinweg ist nicht erlaubt und kann schwere Folgen haben; ich kenne dazu eine traurige Geschichte», antwortete ich.

«Ja, aber auch bei euch Muslimen darf die Frau keinen Mann, der nicht Muslim ist, heiraten, oder?»

«Ja.»

«Ich bin kein Muslim.»

«Und? Ich bin nicht religiös.»

«Ja, ich weiß, aber ich frage nur. Was würden deine Eltern sagen, wenn sie wüssten, dass du mit mir lebst und mit mir auch Kinder haben möchtest? Wie würden sie das aufnehmen?»

«Ich weiß es nicht, keine Ahnung, aber ich glaube, sie wären nicht glücklich», sagte ich in der Hoffnung, das Gespräch zu beenden.

«Würden sie ihr Enkelkind anerkennen oder nicht?»

«Ich weiß es nicht, Daniel. Du fragst nach einem En­­kelkind, das weder da noch unterwegs ist. Alles, was ich dir sagen wollte, ist, dass ich die Religionen mit ihren Dogmen für etwas Radikales halte, egal, ob sie Bücher haben oder nicht. Das ist alles, was ich dir sagen wollte. Es hat nichts mit unserer Beziehung zu tun. Ich habe mich selbst aufgeklärt, und wir beide sind liberale ­Menschen. Ein Kind von uns bräuchte nicht unter dem Schirm einer Religion zu stehen. Und für mich persönlich brauche ich keine Lehren der Geschichte, um mein jetziges Leben zu begreifen. Verstehst du?»

«Ja, ich verstehe alles, außer, dass du dich sofort aufregst und eine Verteidigungshaltung einnimmst, wenn wir miteinander ein bisschen über deine Eltern oder deine Identitäten als Araberin oder Muslimin reden. In meinen Augen bist du auch radikal, weil du alles verschweigst.» Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Wie ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt wurde, schwieg ich. Ich ertrug es nicht mehr. Seit einigen Monaten erwähnte er immer und immer wieder den Irak und die Flucht meiner Familie. Wieso spürte er nicht, wie ich darunter litt?

Ich wünschte, ich könnte einige Teile aus meiner Geschichte ausradieren und andere einsetzen. Ein Wind aus meiner Vergangenheit hat Worte aus meiner Sprache gerissen und sie an einen fernen Ort getragen. Arabische Worte, die ich einst beim Abendtee zu meiner Familie sagte. Worte, für die es in anderen Sprachen keine Übersetzungen gibt und wenn, dann nur kalte und seelenlose.

Am 5. Oktober, am Tag vor Daniels Abreise, frühstück­ten wir gemeinsam. Wir saßen auf dem kleinen Balkon unserer neuen Wohnung im Quartier Gundeldingen. Daniel hatte darauf beharrt, in diesen Teil von Basel zu ziehen.

In Gundeldingen treffe ich immer wieder auf die verschiedensten Menschen, darunter auch auf solche, die meinen Alltag bereichern und mich fröhlich ma­­chen. Das war selten im alten Quartier, wo wir etwa drei Jahre gelebt hatten. «Dort waren wir beide fremd», meinte Daniel einmal. Zu den Nachbarn fanden wir keinen Kontakt. Außer sich im Treppenhaus zu grüßen und zwei Worten über den Schlüssel zur Waschküche gab es nichts mitzuteilen. Das einzige Mal, dass jemand mit mir plauderte, war vor dem Haus. Eine ältere Dame wohnte mit ihrem Hund allein in der Wohnung unter uns und trug immer faszinierende Hüte. Die Hüte waren nicht das einzige Bemerkenswerte an ihr. Sie hatte makellos gepflegte Hände, die sanft über das Treppengeländer glitten. Die immer wechselnden, aber geschmackvollen Farben auf ihren Fingernägeln wurden betont von ihrem alten Schmuck. Prunkvolle Ringe und Armreifen umschmeichelten ihre runzeligen Hände, die jetzt die Hundeleine fest im Griff hielten.

«Ich bin nicht gegen Flüchtlinge, aber einige beste­hen darauf, Europa in einen Mülleimer zu verwandeln. Wir haben den Krieg erlebt und konnten Europa mit großem Aufwand wiederaufbauen. Wir wollen hier nicht alles ruinieren, weil anderswo Krieg herrscht. Ich weiß nicht, was all diese Leute hier machen. Lieben sie ihre Heimat? Warum bauen sie sie nicht wieder auf, statt sie zu verlassen? Für mich sind die Flüchtlinge Gäste hier, und irgendwann muss der Gast doch nach Hause gehen», teilte sie mir ohne Einleitung mit.

Ich war überrascht und wusste nicht, worauf sie ab­­zielte. Ich sagte: «Wissen Sie, meine Mutter meinte, Flüchtlinge seien Gäste, und ein irakisches Sprichwort sagt: ‹Der Gast ist wie ein Fisch im Kühlschrank. Nach drei Tagen verdirbt er und beginnt zu stinken.›»

«Das ist aber gut!», entgegnete sie lachend.

«Ja, aber Gäste können auch wie Vögel sein, es gibt sol­­che, die den Rhein lieben gelernt haben, auch wenn sie von einem anderen Fluss stammen.»

«Ja, ja, Ausnahmen gibt es immer», murmelte sie mit gesenktem Kopf, zog ihren großen, schwarzen Hund an der Leine und ging.

Unsere neue Wohnung liegt an der Hauptstraße, die zum Bahnhof führt. Diese Straße ist ein ständiger Schauplatz von Verabschiedungen und Begegnungen. Ich mag es, die vorbeigehenden Passanten oder die vorbeifahrenden Trams zu beobachten.

In der Nähe des Fensters hat Daniel den Sessel seines Vaters platziert. Da sitzt er gerne zum Lesen, aber selten sah ich ihn so in Gedanken versunken in einem Buch le­­­­­­­sen wie in den letzten Tagen. Was fesselte ihn seit einer Woche an diesem Buch? Er merkte gar nicht, dass ich ihm Saft einschenkte.

«Ist das Buch so interessant?»

«Ja, die Geschichte ist spannend», sagt er und streckte mir das Buch entgegen.

«Lies mal diese Stelle. Es ist, als würde er von unserer Beziehung reden.»

«Meinst du das ernst? Was sollen wir damit zu tun haben?» Ich gab ihm das Buch zurück.

«Wieso? Denkst du nicht, dass unsere Beziehung kalt geworden ist?»

«Was willst du von mir?»

«Dass eine Leere zwischen uns entstanden ist, musst du auch bemerkt haben. Ich finde es nicht in Ordnung. Du weichst immer aus, wenn es um deine Geschichte geht, weißt aber alles über mich. Du bist auf der Hut und erzählst entweder gar nichts oder sehr sparsam, wie ein Politiker. Ich weiß nicht mal, wie du in die Schweiz gekommen bist.»

«Ich habe nie von dir verlangt, mir etwas zu erzählen, was du nicht willst. Ist dir meine Vergangenheit wichtiger als das Leben, das wir jetzt teilen? Interessiert dich an mir überhaupt noch etwas anderes als meine irakische Identität, die dich in letzter Zeit maßlos reizt?»

«Die Wahrheit über eine geliebte Person in der Be­­ziehung zu kennen ist wie Sex haben. Für Bedürfnisse braucht man keine Begründung. Es beschäftigt mich, dass du nur halb mit mir lebst: mit der Hälfte deines Herzens, der Hälfte deiner Aufmerksamkeit und der Hälfte deiner Lust. Für mich gibt es immer eine ab­­we­sen­­­de Hälfte, die ich selbst füllen oder suchen muss. Es ist eine missverständliche Beziehung gewor­den, denn es gelingt mir nicht immer, das abwesende Stück zu ersetzen.»

Ich senkte meinen Blick. Ich hätte ihn am liebsten gefragt, ob nicht, wenn er die Geschichte meiner Familie erfahren würde, unsere Beziehung vielleicht auf eine ganz andere Bahn geraten würde. Das konnte er natürlich nicht wissen. Aber ich habe Angst vor dem, was mit unserer Liebe geschehen würde, wenn ich die Schatten der Vergangenheit hervorholte. Davor fürchte ich mich.

Daniel knetete seine Hände und starrte mich an: «Vertraust du mir nicht? Liebst du mich noch?»

«Wollen wir jetzt nicht endlich frühstücken? Ich habe extra Rösti mit Spiegelei zubereitet.»

Er fragte, ob ich etwas vor ihm verberge, was mich am Erzählen hindere.

«Bitte, Daniel, hör jetzt auf zu übertreiben! Wieso Zeit verschwenden mit dieser immergleichen Diskussion? Lass uns frühstücken und danach auf den Markt gehen. Du musst noch deine Tasche packen. Ich verstehe sowieso nicht, warum du unbedingt nach Graubünden musst. Vier Monate am Stück, vier Monate sitze ich dann hier allein.»

Auf dem Markt sah ich eine afrikanische Frau mit ihrem Kind, wohl um die sieben Jahre alt. Das Kind hatte ein Skateboard dabei. Die Sprache der Mutter verstand ich nicht, das Kind antwortete auf Schweizerdeutsch. Es war wie bei Nosche und mir damals in Frauenfeld, wenn wir unserer Mutter antworteten. Wir wollten unbedingt zum Turnen gehen. «Nicht auf Schweizerdeutsch!», befahl sie.

Daniels Einkaufsliste abzuarbeiten dauerte zwei Stunden. Danach lud er mich zu einem Kaffee ein. Die meiste Zeit verging schweigend, er saß da mit einem finsteren Gesicht, als ob er auf Präsident Trump warte­te. Wir fragten uns nicht, womit wir beschäftigt waren – spürten es aber schon. Er saß stumm da, und ich überlegte, ob ich es wirklich wagen sollte, etwas zu sagen.

«Weißt du, viele Araber meinen, dass es in der arabischen Sprache ein heiliges Geheimnis gebe, beispielsweise Wörter, die glücklich machen, und andere, welche die Trauer und das Pech vertreiben. Und wenn man ein bestimmtes Wort gemeinsam ausspricht, bringt einem das Glück.»

«Interessant. Kennst du diese Wörter?»

«Ja, natürlich. Ich bin zwar nicht abergläubisch, aber benutzt habe ich sie schon oft. Sollen wir gemeinsam ein Wort aussprechen?»

 

«Ja, warum nicht.»

«Na gut, sag mit mir: Aiin».

«Was bedeutet das?»

«Wasserquelle.»

«Aiin», sagte er zweimal und musste dabei über seine eigene Aussprache lachen. Unser Lachen zerriss die dicke Atmosphäre.

«Siehst du? Das Glück kann kommen wie ein Milan, der plötzlich am Himmel auftaucht.»

Am Abend rief uns Angela, die Mutter von Daniel, an. Ich nenne sie Siri, weil sie auf alles eine Antwort kennt. Nur selten ist sie ratlos. Angela ist über fünfzig, sieht aber viel jünger aus. Sie ist schlank, hat dicke Lippen, und ihre kleinen, blauen Augen sehen hinter den Bril­lengläsern etwas größer aus. Die Schuhe, die sie anzieht, und die Art, wie sie sich kleidet, sind für mich ein Fas­zi­nosum. Ich war perplex über die Sammlung, als ich einmal einen Blick in ihren Schuhschrank werfen konnte.

Angela treibt fast jeden Tag Sport und geht im Sommer im Bodensee schwimmen. Sie raucht nicht und trinkt nur bei besonderen Anlässen. Anstatt fernzusehen, vertieft sie sich lieber in ein Buch, nur auf den «Tatort» verzichtet sie selten. «Mit dieser Sendung bin ich groß geworden. Ein Sonntag ohne sie ist für mich unvorstellbar. Ich könnte die Woche nicht richtig an­­fangen», sagte sie mir einmal.

Ihre Arbeit ermöglichte ihr ein gutes Leben, und von ihren Eltern hatte sie ein Stück Rebberg in Weinfelden geerbt, für das sie eine jährliche Pacht erhielt. Daniel erzählte mir, sein Vater habe sie verlassen, weil sie fortwährend Druck auf ihn ausübte, was man essen oder besser nicht essen sollte und wie man gesund blieb. «Ich war noch ein Primarschüler, aber ich erinnere mich gut, wie sie jeden Tag stritten. Irgendwann war es für ihn zu viel. Er verließ sie von heute auf morgen. ‹Dein Vater ist weg›, meinte sie nur, als ich sie fragte, wieso mein Vater nicht mehr zu Hause ist.» Auch Daniel musste sich regelmäßig lange Vorträge über gesundes Leben anhören, auch diesmal wieder. Sie bat ihn, ihr aus Graubünden zu schreiben.

Daniel war nicht begeistert davon, sich alle die Ratschläge anzuhören und die endlosen Fragen zu beant­worten. Angela war nicht begeistert, dass Daniel, statt zum Militär zu gehen, Zivildienst leisten wollte. Er hatte die Aushebung erfolgreich bestanden, war tauglich, aber aus moralischen Gründen wollte er nicht zur Armee. Er mochte keine Waffe tragen.

Nach der pädagogischen Maturitätsschule hatte er sechs Monate Zivildienst in der Kantonsbibliothek Frauenfeld, in einem Altersheim in Kreuzlingen und im Kantonsspital Münsterlingen geleistet. Und jetzt nach seinem Ethnologiestudium in Basel musste er die letzten vier Monate ableisten. «Weil ich mehr vom Leben in den Bergen erfahren und Zeit zum Lesen haben möchte. Es ist jetzt zu spät, darüber zu diskutieren», sagte er genervt zu seiner Mutter.

«Ich weiß nicht, wie lange mich meine Mutter noch wie ein kleines Kind behandeln will.» Er legte sein Telefon auf den Tisch.

So eine fürsorgliche Mutter hätte ich gerne gehabt. Auch mein Vater war ein belehrender Erzähler und ein schlechter Zuhörer. Ich erinnere mich gut daran, wie er sich ärgerte, weil wir einen Text von ihm gelesen hatten und mehr darüber wissen wollten, ein Satz, der auf der Rückseite einer Fotografie stand, die ihn an einem Fluss zeigte. «Ich habe euch nicht Arabisch beigebracht, damit ihr mich ausspioniert!» Er hatte geschrieben: «Es geht mir nirgendwo gut außer neben dir, du Euphrat. Ich wünschte mir, ich wäre ein Olivenbaum, der von dir bewässert wird.»

Daniels Vater ist ganz anders, er ist lieber Zuhörer als Redner. Er ist ein erfolgreicher Architekt. Das ge­­mein­­­same Haus, das er selbst entworfen hat, schenkte er bei der Scheidung Angela. Er lernte eine Spanierin kennen und lebt mit ihr in Spanien, hat aber sein Büro in Kreuzlingen bis heute nicht aufgegeben.

Daniel hat viel von seinem Vater geerbt. Wenn er lacht, senkt er den Kopf zwischen die Schultern und sieht wie eine Eidechse aus. Doch beim letzten Abendessen vor seiner Reise gab es nichts zu lachen, stumm packten wir seinen Koffer. Vom Fenster unseres Schlafzimmers sahen wir den Mond mitten in der Finsternis wie einen Hafen der Hoffnung im dunklen Meer.

Nachdem alle wesentlichen Sachen, auch Daniels dicke Bücher, gepackt waren, saßen wir zusammen am Tisch und schlürften Tee.

Schließlich redeten wir über seine Arbeit auf dem Bauernhof: «Über den Winter wird auf diesem Hof viel gearbeitet, weil die junge Familie selbständiger wohnen will als in einer kleinen Wohnung im alten Elternhaus. Und die alte Wohnung, aus der sie ausziehen werden, wollen sie renovieren und als Ferienwohnung vermie­ten.» Er zeigte mir den Ort auf Google Maps. «Schau, Thalkirch liegt etwa tausendsiebenhundert Meter über dem Meer; ein schöner und ruhiger Ort im Safiental.»

Ich fragte, ob es möglich sei, Post dorthin zu schicken.

«Ja, ich glaube schon, es gibt ein Postauto, das von Ilanz hochfährt. Es sei denn, die Straßen sind wegen Lawinengefahr gesperrt.»

«Und Telefon?»

«Ich weiß es nicht, ich lasse mich überraschen.»

Wir schwiegen noch eine Weile, bis er sagte, dass er früh ins Bett müsse.

«Ja, du hast morgen eine lange Reise», entgegnete ich.

«Gute Nacht», sagte er und gab mir einen kalten Kuss.

Ich räumte den Tisch ab und bemerkte seinen Ro­­man. Hatte er ihn mit Absicht auf dem Tisch liegenlas­sen?

Ich zog meine Joggingkleider an, um meine Strecke bis ans Rheinufer zu laufen. Meistens habe ich meine Kopfhörer im Ohr, dieses Mal nicht. Ich war beunruhigt, Daniels Worte beschäftigten meine Gedanken und füllten meine Ohren. Und sie riefen die Stimme meines Vaters in Erinnerung, die oft unerwartet kommt wie ein Fisch, der aus dem Wasser springt.

Mein Vater heißt Mansur Al Gamali. Er wurde 1959 in Abu Rajat im Irak geboren und stammt aus einer reichen, angesehenen Familie. Er studierte Religionswissenschaft in Bagdad. 1985, einen Monat nach seinem Abschluss an der Universtität, wurde er vom Geheimdienst aus dem Haus geholt, weil er im Verdacht stand, sich politisch gegen das Regime zu engagieren. Aus Mangel an Beweisen wurde er nach einem Jahr entlas­sen. Er zog als Soldat in den Krieg zwischen Iran und Irak, erlebte zwei Jahre lang Gräuel, Hunger und Durst an den Fronten im Süden und Norden des Landes. Nach dem Ende des Kriegs im November 1988 wurde er aus der Armee entlassen. Er fand eine Arbeit als Theologielehrer in Nadschaf und blieb dort bis zu seiner Flucht aus dem Dorf. Meine Mutter Delal Schenschul wurde im Jahr 1963 im selben Dorf wie mein Vater geboren. «Es liegt hundertsechzig Kilometer südwestlich von Bagdad und ist wie eine Oase von Dattelpalmen und Olivenbäumen umgeben», pflegte es mein Vater zu beschrei­ben.

Wenn er über den Irak sprach, waren seine Worte wie ein heftiger Wind, der sich plötzlich beruhigt und sich anfühlt, als würde er ein Boot sanft vorantreiben. Aber dann wütete er wieder und zerstörte alles wie ein Wirbelsturm, der sich nimmt, was er will. «Der Krieg hat in unserer Sprache seine Narben hinterlassen», sagte er einmal über den irakischen Dialekt.

Auch wenn der Krieg zu Ende ging, er trug ihn weiter in sich. Er erzählte nicht viel davon, ein paar Fragmente, mehr nicht. «Ich war im Kino, es war ein Kriegsfilm aus dem Iran. Mitten im Film musste ich den Saal verlassen. In einer Szene versuchte sich ein Soldat von der Front zu retten. Er rannte um sein Leben, und jedes Mal, wenn er stolperte, schmerzte mein Fuß.»

Von seiner Angst vor dem Wasser erfuhren wir zu­­fällig, dass sie mit dem Krieg verbunden war: «Im Fe­bruar 1987 fand östlich von Basra die heftigste Schlacht während des Iran-Irak-Kriegs statt. Saddam Hussein nannte ihn ‹die größte Ernte›, der Iran ‹Operation Karbala›, während er im Volksmund als die Schlacht am Fluss Jassim bekannt war. Ich war Infanterist. Ich musste den Fluss überqueren. Das Wasser war rot gefärbt, und immer wieder musste ich Leichen von mir wegschieben, um mir einen Weg ans andere Ufer bahnen zu können. Es war wie ein schreckliches Märchen. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen spürte, dachte ich mir, auch ich sei eine Leiche, mit dem Unterschied, dass ich mich noch bewegen konnte. Ich weiß nicht, wie ich überlebt habe. In dieser Schlacht wurde ein enger Freund von mir getötet. Sie hatten ihn für einen speziellen Auftrag ausgesucht. Es war ein kalter Morgen, als er mich zum letzten Mal umarmte. Mitten in der Kälte spürte ich seine warmen Tränen auf meinem Gesicht.»