Cork, noch mehr Mord

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Cork, noch mehr Mord
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adakia Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Richard-Wagner-Platz 1, 04109 Leipzig

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig.

Gesamtherstellung: adakia Verlag, Leipzig

Coverfoto und Fotos im Buch: Ursula Schmid-Spreer

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

1. Auflage, März 2020

ISBN 978-3-941935-78-5

Mögest Du die Kraft haben,

die Richtung zu ändern,

wenn Du die alte Straße

nicht mehr gehen kannst.

Gott gebe Dir

für jeden Sturm einen Regenbogen,

für jede Träne ein Lachen,

für jede Sorge eine Aussicht,

und eine Hilfe in jeder Schwierigkeit,

für jedes Problem,

das das Leben schickt,

einen Freund, es zu teilen,

für jeden Seufzer ein schönes Lied

und eine Antwort auf jedes Gebet.

(Irischer Segensspruch)

*

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

I

We start a regular’s table

„get together“ – irischer Stammtisch

1. Kapitel

Oktober, Mallow

Der Wurst-Mord

Samhain

Mallow

Barn Burger

Stout

»O« in irischen Namen

Tullamore Dew

2. Kapitel

November

Glengarriff, Brigid geht tanzen

Glengarrif (das raue Tal)

Coddle

3. Kapitel

Dezember

Kanturk, Kalte Füße

Kanturk

Weihnachten in Irland

St. Stephen‘s Day

Weihnachtsschwimmen

Gewürztes Rindfleisch (Spiced beef)

Plumpudding

Irische Cookies

Francisca well Brewery

4. Kapitel

Januar

Macroom, Ein raffinierter Fall

Macroom

Farran Woods

Irischer Schokoladenkuchen

Seafood Chowder

5. Kapitel

Februar

Cloyne, Eine tödliche Party

Cloyne

Valentinstag

Hähnchentopf mit Guinness

6. Kapitel

März

Cork, Aus dem Ruder gelaufen

Basilikumtarte

Grüner Nudelsalat

Cork

St. Patrick’s Day

7. Kapitel

April

Dunmanway, Es ist oft nicht so, wie es aussieht

Dunmanway

Ostern

Gefüllte Lammkeule, irische Art

Irische Osterbrötchen

Mythen

8. Kapitel

Mai

Von Dublin nach Cork, Mitchelstown, Truckerleben

Mitchelstown

Cashel

Muttertag in Irland

Gubbeenkäse

Cheddar

9. Kapitel

Juni

Timoleague … drum prüfe, wer sich ewig bindet

Timoleague

Kartoffelbrot

Whiskey-Butter

Leinster Topf

10. Kapitel

Juli

Bandon, Die Leich’ muss weg

Bandon

Murphy’s

Murphy’s red

Irischer Lachs mit Gurken und Senf-Dill-Soße

11. Kapitel

August

Crosshaven, Ich bin ja so verschossen in deine Sommersprossen

Redheads

Crosshaven

 

Red-Hair-Convention

Irischer Nussbraten (vegetarisch)

12. Kapitel

September

Cork, Madeleine

Garda

Holy Trinity Church

Daly’s Bridge

Irisches Bierfleisch

II

Bodega, oldtown Whiskey bar

Bodega

Irisches Teegebäck

I


»get together« – irischer Stammtisch

Klatsch machte es und noch einmal klatsch. Louise McCarty klopfte ihrem Ehemann auf die Finger.

»Was hast du in meiner Küche verloren?«

Ian zog erschrocken, aber auch beleidigt die Finger zurück, die sich eben in die Pastasoße verirrt hatten.

»Seit wann bist du so ein Drachen geworden, Louise?«, knurrte er gekränkt.

»Seitdem du unaufgefordert in meine«, sie betonte das Wort meine grimmig, »Küche kommst und deine Nase in die Kochtöpfe steckst. Wenn es nur die Nase wäre! Nein, auch deine Finger kannst du nicht bei dir behalten. Himmel noch mal, such dir ein Hobby! Es ist ja nicht zum Aushalten mit dir. Seitdem du in Pension bist, gehst du mir gehörig auf den Senkel!«

Ian hatte hinter ihrem Rücken entsprechende Hand- und Lippenbewegungen nachgemacht.

»Du brauchst mich gar nicht so nachzuäffen«, sagte Louise. »Ich habe auch hinten Augen!«

Ertappt schlug sich Ian selbst auf die Hand, grinste und meinte: »Du hast ja recht, holdes Eheweib. Ich muss was tun – und ich weiß auch schon, was!«

Ungefähr zur gleichen Zeit spielte sich in einem anderen Haushalt eine ähnliche Szene ab.

Ann, die Ehefrau von DCI Kevin Mulligan, beschwerte sich bei ihrem Mann im schönsten Dialekt der Aran-Inseln.

»Kevin, du gehst mir auf den Geist. Warum rennst du mir laufend nach? Ich putz das Bad, du rennst mir nach. Ich geh in den Keller, du rennst mir nach. Ich schäl Kartoffeln, du stehst neben mir und schaust ein wenig blöd. Himmel noch mal, weißt du nichts mit deiner Zeit anzufangen? Ruf deinen Kollegen an, vielleicht ist dem auch fad?«

Kevin verzog nachdenklich die Stirn. Die ersten Wochen seines Ruhestandes hatte er ja noch ganz toll gefunden, sie mit süßem Müßiggang zu verbringen. Jetzt langweilte er sich tödlich. Ann hatte recht: Er musste etwas tun!

Daniel Cerigh schenkte sich einen Fingerbreit Whiskey in die bereitgestellten Gläser. »Prost, mein deutscher Freund. Herzlich willkommen auf der Grünen Insel. Jetzt bist du Mick.«

Michael Tischer prostete seinem Freund Daniel zu. »Ich danke dir für die freundliche Aufnahme. Und du meinst, dass du es ein ganzes Jahr mit mir aushältst?«

»Das Gästezimmer steht dir zur Verfügung. Und falls es wirklich nicht gehen sollte, dann musst du halt in eine Pension ziehen.« Daniels Augen lächelten, als er das zu seinem deutschen Freund Mick sagte.

»So machen wir es. Du wirst sehen, ich werde noch ein Ire werden. Jetzt freue ich mich aber erst einmal auf die Zeit, die vor mir liegt. Ich kann es gar nicht glauben: Ist es wirklich schon wieder ein ganzes Jahr her, dass ich bei dir war? Wie die Zeit rennt. Ich werde dir zur Seite stehen und von dir lernen.«

»Ich kann ja auch von den deutschen Ermittlungsmethoden lernen«, schmunzelte Daniel. »Ihr habt doch eine andere Vorgehensweise, Mordfälle zu lösen.«

»Das stimmt. Du wirst lachen, ich hole mir auch öfter mal Rat von Kollegen, die bereits in Pension sind. Die haben eine andere Sicht auf Mordfälle. Von der Erfahrung mal ganz zu schweigen.«

Daniel nippte an seinem Whiskey, richtete nachdenklich seinen Blick in die Ferne. »Du bringst mich da auf eine Idee.«

Mick hob eine Augenbraue. »Du machst mich neugierig. Welche Idee hast du?«

»Wie sagt man das auf Deutsch? Treffen mit Freunden, Bier trinken, essen …«

»Stammtisch«, unterbrach Mick. »Was für eine tolle Idee!

»Prost, Kollegen!« Vier Münder versanken im Bierschaum.

»Das war eine geniale Idee von dir, Ian, einen Stammtisch ins Leben zu rufen.«

»45 Dienstjahre kann man halt doch nicht so einfach wegwischen«, antwortete Kevin zufrieden und wischte sich den Schaum vom Mund.

»Und dass du, lieber Daniel, auch zu unserer neu gegründeten Tischrunde mitgekommen bist, finde ich echt stark.« Ian grinste breit.

Daniel lachte und meinte frech: »Absagen, ne, das hätte ich mich gar nicht getraut. Auch wenn ich dein Nachfolger bin, Ian.«

»Daniel hatte auch die Idee für ein ›get together‹. Wir haben telefoniert und schon sitzen wir hier, essen, trinken …«, »… lösen Fälle und erzählen von alten«, ergänzte Kevin.

Die Männer lachten, nahmen einen tiefen Zug vom Guinness. Als Mick das Glas absetzte, bildete sich ein weißer Schaum auf seiner Oberlippe. Wie hatte er das vermisst! Guinness schmeckte im Ursprungsland einfach besser. Wie es samtig die Kehle entlanglief, danach der leicht bittere Geschmack, den er so liebte.

»Und unser deutscher Kollege«, Kevin zeigte auf Mick, »du bist natürlich auch herzlich in unserer Runde willkommen.«

Mick erhob sich, deutete einen Diener an und orderte bei der Bedienung vier Tullamore Dew. »Mein Einstand«, sagte er.

»Hört zu, was ich mir gedacht habe.« Ian räusperte sich. »So viele Dienstjahre bei der Garda, so viele Fälle gelöst. Lasst sie uns gegenseitig erzählen und dann aufschreiben. Wir machen ein Buch! Was haltet ihr davon?«

Beifälliges Gemurmel erklang.

»Das ist wirklich eine gute Idee!« Mick klatschte Ian begeistert auf die Schulter. »Da ihr ja für den gesamten County Cork zuständig wart, lerne ich somit mehr Land und noch mehr Leute kennen. Und …«, er machte eine Pause, sah seine irischen Kollegen an, »… lerne auch noch zusätzlich etwas über irische Ermittlungsarbeit.«

»Du hast doch schon bei deinem letzten Aufenthalt hier im Bezirk etliches über Mord und Totschlag erfahren«, warf Daniel ein. »Auch im kleinen Irland und im Distrikt geht es nicht immer friedlich zu. Selbst vor Kühen macht das Böse nicht Halt.«

Mick begann erst verhalten, dann immer lauter zu lachen. Es war so ansteckend, dass schließlich Ian und Kevin mit einstimmten, ohne zu wissen, warum Daniel und Mick so lauthals feixten.

Unter Schluckauf erzählte Mick in wenigen Worten, wie Rachel, die Kuh aus Youghal, angeblich ermordet worden war. Wie sich später herausstellte, hatte sie Eiben gefressen und sich damit selbst vergiftet.

»Und der Junge hatte seiner Rachel für den Wettbewerb extra noch einen goldenen Zahn gemalt und dann hat sie auf das falsche Feld gekackt und den Schiedsrichter aufs Horn genommen. Die ganze Geschichte muss ich euch mal bei Gelegenheit erzählen.« Daniel grinste breit, als er an diese Episode dachte.

»Ihr seht, es gibt viel zu erzählen. Was haltet ihr von meiner Idee?«

Die drei Angesprochenen nickten, hoben ihre Gläser und prosteten sich zu.

Die Kellnerin, sie hatte ein Schildchen mit dem Namen Molly an ihrer Bluse, rief fröhlich: »Barn Burger gibt’s heute. Mit Gemüse und Rosmarinkartoffeln.«

Die vier nickten unisono.

Daniel Cerigh lehnte sich weit zurück, stemmte die Hände in die Hüften und rülpste dezent. Fein hatte der Burger geschmeckt. Kathy, die neue Köchin im Franciscan Well an der North Mall, war wirklich eine Zauberkünstlerin am Herd. Nicht nur ihre Pizzen schmeckten vorzüglich, auch an den Burgern konnte man sich laben.

»Noch jemand ein Guinness?«, fragte Mick.

»Sag bloß, du hast dich mittlerweile an unser leckeres Bier gewöhnt?«, konterte Ian McCarty.

Mick verzog das Gesicht, hob eine Augenbraue, grinste und orderte vier Stouts.

Der vierte Kommissar in der Runde, Kevin Mulligan, strich sich genussvoll über seinen nicht unbeträchtlichen Bauch. Wie sehr er die Neckereien seiner ehemaligen Kollegen genoss! Und dieser Austausch-Kommissar, Mick Tischer aus Deutschland, war ein feiner Kerl.

Molly, die Kellnerin, stellte die vier Biere auf den Tisch. Jeder nahm sein Glas, sie prosteten sich zu und dann ergriff Ian das Wort.

»Mick, du weißt sicher, dass Halloween ein altes keltisches Fest ist. Hierzulande heißt es Samhain.«

Mick nickte. »Ich weiß sogar noch mehr«, sagte er. »Die Iren, die ausgewandert sind, haben das Fest nach Amerika gebracht, wo es einfach nur umbenannt wurde und als Halloween wieder nach Europa zurückschwappte.«

»Brav, du hast deine Hausaufgaben gemacht«, griente Daniel und schlug Mick auf die Schulter.

»Dann hört euch mal den folgenden Fall an, den ich euch jetzt erzählen möchte«, sagte Ian. »Samhain spielt eine große Rolle in Mallow.«


Es war einer dieser hektischen Tage gewesen, an denen man zwar arbeitete wie besessen, aber nichts vorwärtsging. Jeder wollte etwas von Erin Sullivan. Sie konnte es sich nicht erlauben, grantig zu sein oder gar ihren Launen nachzugeben. Im Gastgewerbe war man auf Gäste angewiesen. War man unfreundlich, kamen sie nicht mehr wieder – und das machte sich im Geldbeutel bemerkbar. Besonders schlimm war es an Samhain. Da schienen die Leute alle guten Manieren zu vergessen. Hinter der Maske von diversen Gnomen, schwarz gekleideten Hexen oder anderen Kostümen führten sie sich wild auf. Das hatte nichts mehr mit Abschrecken der Geister in einer Anderswelt zu tun. Das war einfach schlechtes Benehmen. Sie konnte von Glück reden, dass der Pub nicht demoliert worden war. Erin war nicht nur für sich alleine verantwortlich, sie beschäftigte fünf feste Mitarbeiter und einige Aushilfskräfte. Es war ein hartes Erbe, das der Vater ihr vermacht hatte. Mallow war ein kleiner Ort im Südwesten Irlands, rund 35 Kilometer nördlich der Stadt Cork. Wie gerne wäre sie damals in eine größere Stadt gegangen: vielleicht Dublin, oder auch nur nach Cork. Aber nein, sie musste in der Metzgerei helfen.

Ihre jüngere Schwester Donna nahm das Recht für sich in Anspruch, eine Künstlerin zu sein. Verhätschelt und verzärtelt, das war sie schon immer gewesen. Dads Liebling, während Erin schon früh in der Metzgerei und auch im Wirtshaus helfen musste. Donna durfte ihren Hobbys nachgehen. So kam es, dass sie bereits in der 4. Generation das Gasthaus »Green Flower« führte. Heute wollte Erin nur noch nach oben in ihre Privatwohnung gehen und sich ins Bett legen, ihre Ruhe haben und schlafen. Samhain hatte ihr mehr zu schaffen gemacht, als sie zugeben wollte. Bevor sie wegdämmerte, fielen ihr die Worte ihres ehemaligen Lehrers ein. Samhain markiert den keltischen Jahreskreis, den Beginn der dunklen Jahreszeit. Ende Oktober, Anfang November würde sich das Tor der anderen Welt öffnen. Ein neues Jahr würde beginnen. Da sich die Menschen vor bösen Wesen fürchteten, mussten diese vertrieben werden. Nur der Tod war in der Lage, neues Leben zu erschaffen. Erin drehte sich ächzend um. Warum musste immer so übertrieben werden? Eine als Hexe verkleidete Person war auf einmal in ihrer Küche gestanden und hatte sie erschreckt. Wütend war ihr Kellner John dazwischen getreten. Die verkleidete Person hatte er am Kragen gepackt und vor Erin hingeschubst. Die Hexe entpuppte sich als verkleideter Mann. Er trug eine grüne Plastikfolie und hatte sich Efeu um Haare, Kopf und Hals gewickelt.

»Ich habe ihn beim Klauen erwischt«, hatte John gemeint. »Ich rufe die Garda.«

Dagegen waren die Samhain-Bräuche ja direkt noch harmlos. Jetzt setzte sich Erin im Bett auf, ließ den Tag Revue passieren. Drei junge Mädchen hatten Apfelschalen über die Schulter geworfen. Aus der Form, wie die Schalen gefallen waren, wollten sie Anfangsbuchstaben erkennen. Das sollte wohl der neue Partner sein.

 

Normalerweise schaute sie immer noch bei ihrem Vater ins Zimmer, bevor sie schlafen ging, wenn sie unter dem Türspalt Licht sah. Der alte Herr hatte sich vollkommen ins Privatleben zurückgezogen. Solange er seine Zigarren rauchen konnte, täglich seine Sausages mit extra scharfem Senf bekam, war er friedlich. Heute war alles still. Erin überließ es ihrem Oberkellner John, die Kasse zu machen und abzuschließen. John war schon viele Jahre bei der Familie und zuverlässig.

»Morgen ist auch noch ein Tag, ich will jetzt einfach an nichts mehr denken müssen.«

Sie hatte sich ins Bett fallen lassen, die Nachttischlampe ausgeknipst und sich auf ihre Einschlafseite gerollt. »Sausages gehen aus, die muss ich morgen gleich als Erstes ordern, das darf ich nicht vergessen«, waren neben dem Samhain ihre letzten Gedanken, bevor sie sich dem wohligen Gefühl des Einschlafens hingab.

Es war noch dunkel, als sie aufwachte. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an und sie spürte, dass sie zur Toilette musste. Barfuß tapste sie in Richtung Bad, ohne Licht anzumachen. Schlaftrunken ging sie weiter in den Gastraum, um sich eine Flasche Wasser zu holen. Nur das schwache Licht einer Laterne leuchtete in das Lokal. Erins Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Es roch seltsam.

Sie wollte gerade einen großen Schluck aus der Wasserflasche nehmen, machte aber einen Satz auf die Seite. Vor ihr stand jemand, den Rücken gekrümmt, das Gesicht nach unten gebeugt. Mit einem erneuten Satz rückwärts schrie sie vor Schreck auf. Was war hier los? Es kostete sie Überwindung, das Licht anzuknipsen. Ein Mann war da – in gebückter Haltung. Das Gesicht lag auf dem Rost.

Hellwach war Erin nun. Nicht zum ersten Mal beglückwünschte sie sich, dass sie auf einem stationären Telefon beharrt hatte. Wie oft kam es vor, dass sie ihr Mobiltelefon irgendwo hinlegte und es dann nicht gleich fand. In der Gaststube sollte so etwas nicht vorkommen. Man musste immer wieder mal telefonieren, ein Taxi oder den Krankenwagen rufen oder die Garda – so wie jetzt.

Der Kommissar wirkte trotz der frühen Stunde – drei Uhr – hellwach. »McCarty« hatte er sich kurz vorgestellt, ohne Titel, ohne Schnörkel, nur »Wo ist die Leiche?«

Innerhalb kürzester Zeit wimmelte es von Menschen in weißen Overalls, die gewichtig Spuren sammelten.

Erin war fassungslos. Sie identifizierte den Toten als ihren Oberkellner John Walter. Er war mit aller Gewalt auf den heißen Rost gedrückt worden. Längsrillen hatten sich tief in sein Gesicht eingebrannt. Auch die Hände waren schwarz, gerade so, als hätte sich John am Gitterrost festgekrallt. Zu seinen Füßen lag eine Stahlbürste.

»Wahrscheinlich wollte er den Grill noch sauber machen. Ich habe das nicht mehr geschafft. Ich fasse es nicht. Wer kann so etwas getan haben? Hat es vielleicht mir gegolten?«

»Wie kommen Sie darauf, Mrs. Sullivan?«

»Ich habe heute früher Schluss gemacht, weil ich so kaputt war, Samhain hat mich geschafft. Ich habe John gebeten, den Rost zu reinigen und die Kasse abzurechnen. Er war damit auch für das Zusperren des Ladens verantwortlich. Ich mache das sonst normalerweise. Vielleicht wollte jemand die Kasse klauen oder mich …?« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

McCarty winkte einem jungen Mann. Leise sprach er, sodass Erin nichts verstand.

Er wandte sich wieder Erin zu: »Das können wir ausschließen. Die Tasche mit den Einnahmen ist gefunden worden. Hm, erzählen Sie mir etwas über Ihren Oberkellner.«

»Er war sehr zuverlässig. Meine rechte Hand. Er hat bei meinem Vater in der Metzgerei gelernt.«

»Er wusste also, wie man Ihre berühmten Sausages macht«, fiel McCarty schmunzelnd ein.

»Stimmt, die meisten Zutaten kannte er, aber alles wusste er auch nicht. Mein Vater war da sehr vorsichtig. Ich bin mir aber sicher, dass John unser Geheimrezept nie verraten würde. Es ist Tradition in unserem Haus, dass die Rezeptur in der Familie bleibt. Und John war so etwas wie ein Familienmitglied für uns.«

Als der Kommissar die Augenbraue hochzog, fuhr Erin fort.

»John wurde uns vor Jahrzehnten schon von einer staatlichen Einrichtung empfohlen. Er hat seine Jugend dort verbracht. Seine Eltern waren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Aber spielt das eine Rolle?«, fragte sie gereizt.

»Aber natürlich! Wir müssen so viel wie möglich über das Opfer erfahren. Oft lässt sich daraus ein Motiv ableiten. Erzählen Sie weiter.«

»Nun, er hat sich gut angestellt, war pünktlich und zuverlässig. Mein Vater war sehr von ihm angetan. Er war ja erst 14 und man konnte ihn leicht lenken. Er wurde so etwas wie sein Ziehsohn, nachdem mein Vater nur Töchter hat.«

»Höre ich da einen leichten Unterton heraus? Warum arbeitet Mr. Walter nicht mehr in der Metzgerei?«

»Er wollte mal was anderes machen, kann ich auch verstehen.«

»Und da hat er den Oberkellner für Sie gemacht. Hat er das gelernt?«

»Nein, er kann gut mit Zahlen umgehen und hat Charme den Gästen gegenüber. Ich meine ›hatte‹ Charme.« Erin brach ab und schniefte in das Taschentuch, das ihr der Kommissar hinhielt.

»Ich kann es Ihnen leider nicht ersparen, aber Sie müssten morgen in die Pathologie kommen, um noch einige Formalitäten zu erledigen. Bis dahin wissen wir auch, wie er gestorben ist, denn auf dem Rost ist er sicher nicht zu Tode gekommen. Ihren Vater und ihre Schwester hätte ich auch gerne gesprochen. Richten Sie den beiden doch bitte aus, dass sie ebenfalls morgen ins Kommissariat kommen sollen.«

Erin nickte. An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken. Sie musste es ihrem Vater sagen, am besten gleich. Der alte Herr schlief sowieso nicht mehr, sie hatte ihn an der oberen Treppe gesehen. Bei dem Lärm, den die Leute von der Spurensicherung gemacht hatten, wäre selbst ein Stein aufgewacht.

So ging Erin schwer atmend die Treppen hoch, klopfte kurz am Zimmer ihrer Schwester, wartete ein »Herein« erst gar nicht ab und öffnete mit Schwung die Tür.

»Steh auf, Schwester, und tu nicht so, als wenn du tief schlafen würdest. Du hast alles ganz genau mitbekommen.«

Ein rot gefärbter Lockenkopf kam unter der Bettdecke hervor. »Das war ja auch nicht zu überhören.«

»Und du bist kein bisschen neugierig, was vorgefallen ist? Das passt gar nicht zu dir«, sagte Erin spöttisch. »Dein heiß geliebter John lag mit dem Gesicht zuerst auf dem Rost. Das hat verdammt hässlich ausgesehen, das kann ich dir sagen.«

Ein Wehlaut erklang. »John!«

»Ja, tu nicht so scheinheilig. John ist tot, mausetot, und jetzt?«

»Wie kannst du nur so herzlos sein, du eifersüchtige Schlange. Mich hat er geliebt, nicht dich!«

»Das meinst auch nur du! Jedem Rock hat er hinterhergesehen, auf seine Sausagemasche sind alle reingefallen. ›Ich kenne das Geheimrezept der Sullivan Sausage‹«, äffte Erin ihn nach, »und dann hat er sich mit den Weibern verabredet. Und da, das kannst du mir glauben, haben sie sich bestimmt nicht über unsere Wurst unterhalten. Meine gute Kinderstube verbietet mir zu sagen, was er mit dem Würstchen …«

»Schweig!«, hörten sie eine herrische Stimme von der Tür her. »Wenn ich gewusst hätte, dass meine beiden Töchter nichts anderes zu tun haben, als sich über John zu zerfetzen, hätte ich schon früher eingegriffen.«

Beide Damen schwiegen betreten. Mit zerzaustem Haar, in langen Unterhosen und einem T-Shirt bekleidet, stand der alte Sullivan im Zimmer seiner jüngeren Tochter Donna.

»Versucht noch etwas zu schlafen, wir müssen morgen zur Garda und da brauchen wir unsere Kraft«, wandte sich Erin an Vater und Schwester.

Erin und Donna waren sich nur äußerlich ähnlich. Sie waren vom Wesen her grundverschieden. Erin bodenständig, Donna mehr der künstlerische Typ. Ian McCarty, Hauptkommissar bei der Garda County Cork, erkannte das auf den ersten Blick. Der alte Herr an ihrer Seite wirkte zwar gebrechlich, aber sein rotes Gesicht ließ viel Willenskraft erkennen. McCarty wies mit der geöffneten Hand auf die Besucherstühle in seinem Büro und bat die drei, Platz zu nehmen.

»Mr. John Walter ist stranguliert worden, während er wahrscheinlich gerade den Gitterrost reinigte. Unter seinen Fingernägeln befanden sich Seifenlauge und Partikel eines Putzschwämmchens, das mit Eisenspänen versetzt war. Er trug keine Handschuhe.«

Ian beobachtete fasziniert das Mienenspiel der Anwesenden. Es reichte von Bestürzung über Trauer zu Unbeweglichkeit.

»Können Sie mir etwas dazu sagen? Haben Sie etwas gehört?«

Alle drei schüttelten den Kopf.

»Nun gut, dann darf ich Sie bitten, meiner Kollegin zu folgen, um den Toten endgültig zu identifizieren. Kein schöner Anblick; er ist mit dem Kopf auf den heißen Gitterrost gedrückt worden. Bitte halten Sie sich zu meiner Verfügung, falls ich noch Fragen habe.«

»Du lässt sie einfach gehen?« Ians Partner und Kollege schüttelte den Kopf. Er hatte vom Nebenzimmer aus alles gehört und konnte die Familie Sullivan ausgiebig beobachten.

»Ich will sie ein bisschen schmoren lassen, vielleicht auch in Sicherheit wiegen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Samhain nichts damit zu tun hat. Ich glaube auch nicht, dass John das Zufallsopfer einer verkleideten Hexe war. Einer von den drei Sullivans wars, da bin ich mir sicher. Es ist niemand von außen reingekommen und hat diesen Oberkellner umgebracht.«

»Er hatte doch viele Frauengeschichten. Vielleicht hat er nicht einmal vor verheirateten Frauen haltgemacht?«, warf der Assistent ein.

»Das schaut mir eher nach einer Affekttat aus«, ließ sich Ian nicht aus dem Konzept bringen. »Der Zeitpunkt war wohl günstig. Also auf, Recherchearbeit, Nachbarn befragen, schnüffeln eben.«

Zwei Tage später hatte Ian McCarty einen Packen Papier auf dem Schreibtisch liegen. Mit seinem Kollegen ging er die einzelnen Punkte noch einmal durch. »Ich hatte wieder einmal recht – ruf die drei Sullivans an, sie sollen heute Nachmittag in die Garda kommen.«

Sichtlich nervös und angeschlagen saßen die beiden Damen Erin und Donna vor ihm. Mister Sullivan war blass, seine Augen flackerten.

*

Ian hielt kurz inne. Seine drei Kollegen hatten ihn kein einziges Mal während seiner Erzählung unterbrochen.

»Die Befragungen haben ein interessantes Bild ergeben. In vielen Familien gibt es Leichen im Keller; nie wird darüber gesprochen. Und dann kommt es zur Katastrophe. Es ist nicht immer das, wonach es aussieht. Ihr werdet überrascht sein, wer letztendlich John Walter umgebracht hat und warum.«

*

»Ich fange mit Ihnen an, Erin. Eigentlich wollten Sie etwas anderes machen, aber die Tradition hat Sie verpflichtet, das Geschäft zu übernehmen. Sie haben sich all die Jahre nie getraut, Ihrem Vater zu sagen, dass Sie Vegetarierin sind und die Sausages nicht einmal riechen können. Es ekelt Sie richtig davor. Nur mit Mühe konnten Sie John davon abhalten, dass er Sie an Ihren Vater verpetzt.«

Erin schlug betreten die Augen nieder. Ganz fest presste sie die Lippen aufeinander. Man sah deutlich, wie sie ihre Schultern straffte und selbstbewusst sagte: »Und daraus leiten Sie ein Mordmotiv ab? Lächerlich!«

»Sie waren ganz froh, dass Ihr Vater diesen John, trotz seiner dunklen Vergangenheit, damals als Lehrling einstellte. So mussten Sie wenigstens keine Metzgerlehre machen. Allein der Gedanke, Tiere schlachten zu müssen, das viele Blut, all das verursachte Ihnen Ekelgefühle.« Kommissar Ian McCarty sah Erin fest an. Dann wandte sich sein Blick zu Aaron Sullivan. »John war anfänglich dankbar und sehr gefügig. Irgendwann einmal muss diese Dankbarkeit in Hass umgeschlagen sein. Was war der Auslöser? Haben Sie ihn schikaniert, Mr. Sullivan? War das der Zeitpunkt, als Sie ihn wissen ließen, dass er nur ein Angestellter für Sie war und dass er nichts, aber auch gar nichts zu erwarten hatte?«

Aaron Sullivan schnappte hörbar nach Luft. Auch seine Töchter sahen ihn entgeistert an.

»Aber Daddy«, meinte Donna, »du wolltest ihm doch die Metzgerei überschreiben, nachdem Erin und ich sie nicht haben wollten.«

Der alte Herr sagte noch immer kein Wort. Er machte nur »pfff«.

»Und Sie, Donna«, fuhr Ian unbeeindruckt fort, »Sie hatten alle Freiheiten, die Sie nur wollten. Sie durften sich Ihrer brotlosen Malkunst widmen. Nur, der Herr Papa hat Ihnen den Geldhahn zugedreht, als sich herausstellte, dass Ihre Bilder unverkäuflich waren. Sie sollten endlich mal einen Abschluss machen – den haben Sie nämlich immer vor sich hergeschoben – und nicht nur sein sauer verdientes Geld ausgeben.«

Donna sog die Luft durch die Nase, atmete prustend aus, sah ihre Schwester schuldbewusst an.

»Sie hätten also alle drei ein Motiv. Ich habe überlegt: Erin, Sie haben sich ein bisschen was auf die Seite gelegt. Hätte John gepetzt, wäre das für Sie kein Weltuntergang gewesen. Außerdem waren Sie sich sicher, dass Sie Ihrem Vater zu wertvoll waren, als dass er die Metzgerei und den Pub dann aufgegeben hätte.« Ian wandte sich an Donna. »Sie konnten Ihren Vater schon immer um den Finger wickeln. Und Sie wussten, wenn Sie dem alten Herrn ein bisschen schmeichelten, dann hätte er schon wieder ein Scheinchen locker gemacht. Ja, somit bleiben nur noch Sie übrig, Mister Sullivan.«

Erschrocken sahen die beiden Damen ihren Vater an.

»Erpressen wollte er mich, der Saukerl«, schrie Aaron Sullivan unbeherrscht los. »Erpressen, mein Sausagerezept wollte er an die Konkurrenz verkaufen. Seit Jahrzehnten ist es im Familienbesitz, und dieser hergelaufene Kerl, dem ich eine Ausbildung und Arbeit gegeben habe, der wollte mich erpressen. Außerdem hat er meine Töchter gegeneinander ausgespielt. Und hinter ihren Rücken hat er es mit jedem Rock getrieben. Die Gelegenheit war günstig, als er da so am Herd stand. Ein Liedchen hat er sogar gepfiffen. Ich konnte nicht anders handeln, Herr Kommissar.«

Sullivan wurde abgeführt. Seine Töchter verließen zutiefst betroffen das Büro.

*

»Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich tief seufzte und den Aufkleber ›erledigt‹ auf die Akte Wurstmord gestempelt habe«, sagte Ian.

Es war eine Weile still am Tisch. Dann ergriff Daniel das Wort. »Nach außen hin ist oft eitel Sonnenschein.«

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