Die schiere Wahrheit

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Die schiere Wahrheit
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Über dieses Buch

In einem Seebad am Atlantik begegnen sich ­im Jahr 1937 un­verhofft zwei Meister: Friedrich Glauser, mit seinem letzten Geld angereist auf der Suche nach einem Morphiumrezept, und Georges Simenon, auf Urlaub im noblen Grand Hôtel de la Plage in Saint-Jean-de-Monts. Sie unterhalten sich, finden Gefallen aneinan­der – und beschließen, an Ort und Stelle ge­meinsam einen Kriminalroman zu entwerfen. Simenon legt einen Toten an den Strand, Glauser macht ihn zu einem Amerikaschweizer, Grund genug, Wachtmeister Studer an den Atlantik abkommandieren zu lassen. Simenon lässt ihm Amélie Morel, die Tante des lokalen Inspektors, in die Quere kommen. Denn seinen Kommissar Maigret hat er in den Ruhestand geschickt.

Und so spinnt der eine die Einfälle des andern weiter, nicht ohne Debatten: wozu es das Verbrechen in der Geschichte braucht, welche Indizien zum richtigen Zeitpunkt auf den Weg der Ermittler und Leserschaft gestreut werden, wie man all die Fäden, Ficelles und Schnüre am Schluss richtig verknüpft. Als sich am Ende Recht und Gerechtigkeit bekämpfen, gefällt die Auflösung weder Studer noch Mlle Morel. Also finden Glauser und Simenon eine Lösung, die so unberechenbar ist wie das wirkliche Leben.

«Ursula Hasler kann schreiben, flüssig, schlackenfrei, elegant.» Tages-Anzeiger


Foto Ayşe Yavaş

Ursula Hasler Roumois ist in Schaffhausen aufgewachsen und lebt in Baden. Sie studierte in Zürich Germanistik und Psychologie. Nach einem Studienjahr in Frankreich wurde Paris der Lebens­mittelpunkt für fast zehn Jahre. Zurück in der Schweiz, arbei­tete sie als Dozentin an der Dolmetscherschule Zürich, danach als Pro­fessorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wis­sen­schaften. 2016 erschien im Limmat Verlag ihr erster Roman «Blindgänger».

Ursula Hasler

Die schiere Wahrheit

Glauser und Simenon schreiben einen Kriminalroman

Limmat Verlag

Zürich

«Es wird kein Kriminalroman, es wird eine andere Angelegenheit. Und ich freue mich direkt, dass die Leute es wie einen Kriminal­roman von der ein wenig lang­wei­ligen Sorte lesen werden und lache mir ins Fäustchen, weil es doch etwas anderes wird und es niemand merken tut.»

Friedrich Glauser


Grand Hôtel de la Plage in Saint-Jean-de-Monts im Juni 1937 – eine Begegnung mit Folgen

Dort unten im Sand irgendwo!

Der Kellner zeigt mit einer vagen Handbewegung in Richtung Strand, bevor er sich wieder der Dame zuwendet und ihr mit einer angedeuteten Verbeugung die kühle Limonade serviert. Das hechelnde Hündchen zu ihren Füßen bekomme so­fort einen Napf mit Wasser.

Auf der Terrasse des Grand Hôtel de la Plage herrscht wie je­den Tag zur Stunde des Aperitifs ein lebhaftes Kommen und Gehen, wobei das Kommen überwiegt, viele Gäste suchen vergeblich nach einem freien Tischchen. Sie sind früh vom Strand hochgekommen, haben sich eilig für das Mittagessen umgezogen, und wieder waren andere schneller.

Der berühmte belgische Schriftsteller Georges Simenon steht mit Doktor Schöni, einem Arzt aus der Schweiz, mit dem er allabendlich im Hotel Bridge spielt, am Rand der Terrasse des Grandhotels und schaut suchend über die Strandkabinen, de­ren blauweiß gestreifte Tücher im Wind flattern. Doktor Schöni tupft Stirn und Nacken mit dem Taschentuch, welch eine Hitze, hier oben unter der Markise ist kein Lufthauch zu spüren.

Doktor Schöni beschattet die Augen, lässt sie über den Strand von Liegestuhl zu Korbsessel wandern, das übliche Gewusel kurz vor Mittag, Mütter, Kindermädchen, Großmütter, man sam­melt die verstreuten Eimerchen, Schaufeln und unwilligen Kinder zusammen.

Endlich entdeckt er ihn, einen der wenigen Männer am Strand, die Väter und Ehemänner warten geduldig an der Theke im Strandcafé bei einem kühlen Bier auf ihre Familien. Die sollen sich ruhig Zeit lassen. Weit vorne, beinahe am Wasser, sitzt er, der Schriftsteller Frédéric Glauser, von dem Simenon bis heute noch nie etwas gehört hat.

Er ist wenig erpicht darauf, dass Schöni ihm diesen «Kollegen» vorstellen will, ein Schweizer, ein Landsmann des Doktors, er hat gleich abgewunken, war sauer, weil der Doktor sei­ne morgendliche Zeitungslektüre unterbrochen hatte.

Er, Schöni, schulde diesem Glauser einen Gefallen – eine kom­plizierte Geschichte –, und ihn, den berühmten Georges Si­menon persönlich kennenzulernen, wäre eine gelungene Überraschung. Allerdings ein schwieriger Zeitgenosse. Aber ein genialer Schreiber. Seine Kriminalromane hätten ihn bekannt gemacht, sein Kommissär Studer sei auch schon mit Mai­gret verglichen worden. Der Glauser schreibe deutsch, er spreche aber sehr gut Französisch.

Weil Simenon nichts Besseres vorhatte, sagte er schließlich seufzend zu, den andern zu treffen. Das hat man davon, wenn einen die Leute kennen.

Ich seh ihn, kommen Sie!

Schöni eilt voraus, die breite Treppe hinunter, die von der Terrasse direkt auf den Strand führt, und stelzt dann steif wie ein Hahn durch den Sand, bei jedem Schritt den Fuß hoch in die Luft und dann vorsichtig gerade aufsetzen, ja kein Schlurfen. Eklig dieser Sand, schimpft er. Trotz der Wärme, eher un­gewöhnlich im Juni, trägt er hohe Schuhe mit Gamaschen.

Simenon, barfuß in sommerlichen Leinenschuhen, stapft hinter ihm her und schmunzelt mit der Pfeife im Mundwinkel.

Da, zwei Schritte vor ihnen, sitzt oder vielmehr hängt sein Schweizer Double in einem Strandsessel – die enthusiastische Presse habe ihn als schweizerischen Simenon bezeichnet, hat der Doktor mit einem letzten Argument nachgedoppelt. Allerdings, was die äußere Erscheinung anbetrifft, kann man sich kaum einen größeren Unterschied vorstellen. Der Mann sitzt zusammengesunken da, die Beine ausgestreckt, in ausgebeulter Hose.

Die Kleider verraten Simenon sofort, dass der Mann weder im Geld schwimmt noch sich um sein Aussehen schert. Es gibt etwas, was man dir nie verzeiht: ärmlich auszusehen! Diesen Rat fürs Leben hat Simenon als Zwanzigjähriger vom verarmten Marquis de Tracy bekommen, für den er damals als Privatsekretär arbeitete, und seither beherzigt er ihn streng.

Über die Rücklehne ragt ein zerknitterter weicher Hemdkragen, ein dünner Hals und ein dunkler, dichter Haarschopf. Der Mann schaut auf das Meer hinaus.

Friedrich Glauser schaut auf das Meer hinaus. Am Horizont bauscht eine Jacht ihre Segel, ein verspäteter Fischkutter tu­ckert vorbei und zieht einen Schwarm lachender Möwen hinter sich her. Glauser sieht nichts. Seine Verzweiflung hat in der letzten Stunde eine solche Schwere erreicht, dass sie ins Bodenlose abgesunken ist, der Mann nur noch eine leere Hülle inmitten des fröhlichen Strandtreibens. Er ist über die Maßen müde und hoffnungslos.

Kurz nach zehn Uhr ist er im Grand Hôtel de la Plage angekommen, über zwei Stunden dauerte die Fahrt mit der Eisenbahn von La Bernerie-en-Retz bis hierher. Das Geld hat knapp für die dritte Klasse in der Staatlichen gereicht. Für das letzte Stück der Strecke nahm er das Küstenzüglein Tramway de la Ven­dée. Die Landschaft war bestimmt ganz reizvoll, davon hat man in der Anspannung nichts mitbekommen.

Im Hôtel de la Plage in Saint-Jean-de-Monts würde der Dok­tor Schöni logieren, ein Schweizer Arzt, der Bekannte einer Bekannten, die ihm den Tipp gegeben hat. Er braucht dringend ein Rezept. Für Mo.

Seit März lebt Glauser mit Berthe Bendel im kleinen Badeort La Bernerie, das Leben war dort anfänglich beinahe paradiesisch und er konnte endlich schreiben. Man will sich in Frankreich eine Existenz als Schriftsteller aufbauen, fern von den Zwängen und wiederholten Internierungen in der Schweiz. Aber der Druck, mehr und mehr zu produzieren wegen der ewigen Geldnöte, wurde in den letzten Wochen so gewaltig, dass er einen Rückfall erlitt. Er kann nicht mehr schreiben ohne. Er hält es nicht aus ohne. Ohne Opium wird man den eigenen Sachen gegenüber so viel kritischer eingestellt, dass es einen weiß Gott eher lähmt als hilft.

Die letzten vierzehn Tage hat er so intensiv an der «Fieberkurve» geschuftet, dass sein Gehirn nun leer, leerer, am leersten ist. Auch am «Chinesen» – am Wettbewerbsroman – sollte man dringend weiterarbeiten, aber der Stil macht einem große Mü­he, die Sätze, die man schreibt, decken sich gar nicht mit den Gedanken und fließen lauwarm und banal. Es ist eine Qual. Und dann der Auftragsroman für den «Beobachter», den konnte er nicht ablehnen, sie brauchen das Geld dringend.

Unglaubliche Überwindung hat es ihn gekostet, den unbekannten Doktor Schöni um ein Rezept für Morphium zu bitten. Höflich zu bitten. Er hat allen unredlichen – welch schönes Wort! – Versuchen, Mo zu beschaffen, abgeschworen. Alles für die Katz jetzt. Natürlich hat der Doktor keinen Rezeptblock in die Ferien mitgenommen. Es tue ihm leid, meinte Schöni, aber vermutlich würde Herrn Glauser das Rezept eines Schwei­zer Arztes hier in Frankreich eh nicht viel nützen. Er bedaure sehr, denn er halte viel von ihm, seine Frau lese gerade begeistert Wachtmeister Studers zweiten Fall «Matto regiert». Die Irrenanstalt als Tatort, haha, schön mutig von Ihnen, die eigenen Erlebnisse zu nutzen! Beinahe hätte der Doktor ihm auf die Schulter geklopft. Er bedaure wirklich sehr.

Seit einer Stunde sitzt Glauser jetzt hier, er hat einen verwaisten Strandsessel in Beschlag genommen, kein Geld für ein Mittagessen, die letzten Francs für die Rückfahrkarte ausgegeben. Für nichts. Zigaretten hat er noch drei. Der Zug zurück fährt erst am späten Nachmittag.

 

Wenn der Glauser zurückfährt. Wenn der nicht einfach hier sitzen bleibt. Es ist alles so schwarz und vermauert, so bodenlos nutzlos. Er möchte schreiben, hat den Kopf voll schöner Dinge. Aber dann stößt sein Kopf wieder an eine blöde Wirklichkeit und dann ist die Leere wieder da. Die man nur mit Mo aushält. Und manchmal erstickt man fast an sich selbst. Es ist, als ob das Ich plötzlich die Wassersucht bekommen hätte. Es kommt jetzt alles Unverdaute, die langen Internierungsjahre, Witzwil, die Kindheit, wie ein Schwall von üblem Wasser heraus, sodass man fast daran ertrinkt.

Aber nein. Die Flut fließt zurück, das Wasser flieht. Selbst das Meer weicht vor ihm zurück. Er sitzt hier fest. Bis in alle Ewigkeit.

Die Ewigkeit ist manchmal gnädig und von kurzer Dauer.

Ein mächtiger Schatten wächst plötzlich im Sand vor Glauser. Grell ist die Sonne. Zwei Männer stehen im Gegenlicht vor ihm.

Doktor Schöni entschuldigt sich für die Störung. Er habe ihn überall gesucht.

Herr Glauser, ich möchte Ihnen jemanden vorstellen, Monsieur Georges Simenon, der Autor der Mai­gret-Romane, von dem Sie bestimmt schon gehört haben.

Verwirrt legt Glauser die Hand über die Augen. Vermutlich leidet man bereits an Entzugshalluzinationen.

Nein. Auf Glausers Augenhöhe stehen hellgraue Flanell­hosen und dunkelblaue Leinenschuhe, die sehr wirklich aussehen. Der Herr, der sich ihm jetzt vor die Sonne stellt und seinen Schatten auf ihn wirft, damit es ihn nicht so blende, ist mittelgroß, eine sportlich elegante Erscheinung.

Glauser springt auf, hat kaum Zeit zu denken: Herrgott! Wenn ich einmal so elegant daherkommen könnte! Wer solchen Herrenschneider besäße!, als sich genau in diesem Augenblick die peinliche Szene mit dem roten Ball ereignet. Der Ball trifft Glauser so wuchtig am Hinterkopf, dass er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.

Er wehrt heftig ab, als Doktor Schönis fürsorglicher Arm ihn auffangen will.

Simenon liest den Ball auf, sieht sich um und entdeckt in einigen Metern Entfernung einen Jungen, der sich nicht traut, sein Geschoss wieder zu holen, und ein Kindermädchen, das ihn heftig ausschilt. Simenon winkt dem Kleinen, entschuldige dich, dann kriegst deinen Ball wieder!

Schon gut, wehrt Glauser erneut ab. Den Kopf in den Sand stecken möchte man am liebsten wegen dieser beschämenden Ballszene, ausgerechnet vor dem großen Simenon. Keine Ursache sich zu schämen, der Ball hätte doch genauso gut den an­dern treffen können. Nein, einen Georges Simenon trifft nie ein hinterhältiger Ball am Kopf. Es gibt Leute, die beschützt das Leben, einfach so, die haben meistens Glück, während un­sereins ständig Pech hat. Bis heute.

Seit über einer Stunde schlendern Georges Simenon und Friedrich Glauser jetzt über den Strand und reden und reden. Doktor Schöni hat sich bald verabschiedet, Mittagessen mit der Familie, die Herren wollen ihn entschuldigen.

Mittlerweile ist Ebbe. Simenon holt mit der Pfeife in der Hand zu einer weiten Geste über die flache Sandebene aus. In der Ferne plätschert olivgrün der Ozean.

Sehen Sie, Monsieur Glosère, dieses erwartungsvolle Ab­warten des Meeres bei Ebbe, es scheint all seine Kräfte zu sammeln, um Anlauf zu nehmen, den Strand wieder zu fluten. Kleine braune Wellen scharren ungeduldig am Sand, wie nervöse Rennpferde vor dem Start … die Leute hier sagen, das Wasser steige bei Flut mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes. Na ja. Fischerlatein vermutlich.

Die ganze Situation ist unwirklich, geradezu rauschhaft. In seinen kühnsten Fantasien hätte Glauser sich nicht auszumalen gewagt, dass der Glauser eines Tages mit dem Simenon am Atlantikstrand spazieren geht, einfach so, und noch viel ver­rück­ter, mit seinem «Lehrer» über das Schreiben von Kriminalromanen redet!

Vor zwei Monaten erst hat er den offenen Brief an Brockhoff – eine Replik auf dessen alberne «Zehn Gebote für den Kriminalroman» – mit den Sätzen abgeschlossen: «Ich möchte Geor­ges Simenon danken. Was ich kann, habe ich von ihm gelernt. Er war mein Lehrer – sind wir nicht alle jemandes Schüler?»

Und jetzt reden und gestikulieren die beiden Schriftsteller und sehen nichts um sie herum, weder die grauen Wolken, die am Horizont aufziehen und sich immer häufiger vor die Sonne schieben, noch dass sie inzwischen weit und breit die einzigen Spaziergänger auf dem Strand sind. Immer hält mal der eine, mal der andere an, um eine erloschene Pfeife anzuzünden oder die bald letzte Zigarette anzustecken, um ein Argument zu prä­zisieren oder eine Aussage zu bekräftigen, was sich alles schlecht mit dem Gehen vereinbaren lässt. Bis das Ungeheuerliche ge­schieht.

Der Austausch zwischen den beiden Männern über ihre Erfahrungen beim Schreiben von Kriminalgeschichten verläuft so angeregt, dass Glauser in einem Anfall von Größenwahn ruft – auch später, wenn er an diesen Augenblick dachte, blieb ihm unverständlich, was in ihn gefahren war, vielleicht wirkte das Mo nach –, er ruft: Man müsste das mal an einem Fall ausprobieren!

Simenon schaut auf.

Sie meinen, konkret an einer Geschichte anwenden? An einem Fall, den wir beide gerade hier und jetzt erfinden? Ge­meinsam erfinden? Ihre Vorstellungen und meine, meine Er­fah­rungen und Ihre. Ihre Einfälle, meine Ideen …

Verstohlen riskiert Glauser einen Blick zu Simenon hinüber, das kann der wohl nicht ernst meinen. Dem jedoch gefällt die Idee so außerordentlich, dass er Glauser auf die magere Schulter klopft, welch ein Ritterschlag!, und bevor der sich fassen kann, legt Simenon los:

Wir lassen unseren Fall gleich hier vor Ort spielen, im Hôtel de la Plage in Saint-Jean-de-Monts. Das mache er oft. Er reise sehr viel und siedle die Handlung seiner Romane gerne an den Orten an, die er besucht hat, so kenne er die Umgebung, das Mi­lieu, habe die Luft dort eingeatmet. Noch nie habe er ein Milieu erfunden, eine Atmosphäre wie die Kritiker sagen.

Diese viel zitierte Atmosphäre, Monsieur Glosère, sie ist in meinem Gedächtnis! Die Bilder habe ich alle im Kopf. Bevor ich einschlafe, lasse ich mein persönliches Kino laufen, sobald ich die Augen schließe, tauchen die Bilder auf und tanzen vorbei. Sehr wichtig, dass man die Stimmung gut erfasst – sie ist der Schlüssel zu den Leuten, zu ihren dunklen Geheimnissen!

Glauser nickt.

Aber wir ändern den Namen des Ortes, wir brauchen etwas dichterische Freiheit, sonst schränken uns die realen Fakten zu sehr ein. Der Einfachheit halber, Simenon lacht – ein ganz wenig verlegen, scheint es Glauser, nennen wir den Ort doch Saint-Georges. Hoffe, Sie haben nichts dagegen!

Ein bisschen eitel, der Simenon, denkt sein Begleiter, aber wer so berühmt ist, kann sich das erlauben.

Nein, er hat nichts dagegen. Was soll Glauser sonst vorschlagen, Saint-Frédéric? Wäre origineller, aber gibt es überhaupt einen heiligen Friedrich?

Simenon nimmt die Pfeife in die Hand und dreht sich zu Glauser.

Sie müssen wissen, Monsieur Glosère, dass ich meinen Mai­gret in den Ruhestand geschickt habe, wir brauchen also eine Geschichte, in der er als Rentner ermittelt … er könnte mit Ma­dame Mai­gret einige Tage Urlaub hier im Hotel de la …

Simenon bricht plötzlich ab. Er starrt mit zusammengezogenen Augenbrauen aufs Meer, die Hände in den Taschen seiner hellgrauen Flanellhose vergraben, die Pfeife im Mundwinkel festgebissen.

Der vermaledeite Mai­gret hat ihn wieder erwischt! Gibt keine Ruhe, obwohl er vor vier Jahren dafür gesorgt hat, dass es mit Mai­grets Karriere zu Ende war. Er hat ihn von den Vortei­len der vorzeitigen Pensionierung überzeugt, ihm ein hübsches Landhaus in der Nähe von Orleans erfunden, am Ufer der Loire, in Meung-sur-Loire, geruhsames Landleben mit Mada­me Mai­gret, Gartenarbeit, Rosen, Tomaten, Kohlköpfe … was will man mehr.

Glauser wundert sich über Simenons plötzliches Schweigen, dann versteht er. Er weiß, dass Simenon die erfolgreiche Mai­gret-Reihe beendet hat. Manchmal verhindert genau der Erfolg, dass man sich als Schriftsteller weiter entwickeln kann.

Glauser seufzt. Auch er, bei Weitem nicht so bekannt wie der Schöpfer der Mai­gret-Romane, ist nach zwei Studer-Romanen bereits der Gefangene seiner Figur und des Publikums. Er hockt in der Studer-Falle.

Natürlich freut es einen, dass die Leute den Studer mögen. Es geht einem zwar ein wenig wie dem Zauberlehrling. Man hat den Studer zum Leben erweckt – und sollte jetzt auf Teufel komm raus Studer-Romane schreiben und schriebe doch viel lieber etwas ganz anderes. Ja, man hat Angst, in der Manier zu erstarren und das natürliche Feld der Begabung zu verengen, wenn man nur im Kriminalschema bleibt. Auf einmal ist man als Sensationsschriftsteller verschrien und niemand nimmt einen mehr ernst. Und manchmal muss er seine Fantasie so anstrengen, um für Kriminalromane Handlungen zu erfinden, dass er glücklich ist, wenn er einmal etwas schreiben darf, wo er sich nicht mit Fäden, Ficelles und anderen Schnüren abplagen muss. Denn Glauser möchte endlich etwas «Anständiges» schreiben.

Ebenso Simenon, der seinen Kommissar in Pension ge­schickt hat, um sich endlich einen Namen als wahrer Schriftsteller zu machen, Schluss mit Schreiberling von «Polars». Jetzt möchte er die nächste Stufe erreichen.

Er dreht sich zu Glauser.

Sie wissen vermutlich, Monsieur Glosère, dass ich die Mai­gret-Reihe nicht mehr weiter führe. Als Fayard, mein alter Verleger, es erfuhr, hat er mir wütend prophezeit, dass es noch nie ein Kriminalschriftsteller in die große Literatur geschafft ha­be, dass ich nicht dafür gemacht sei, sondern für populäre Literatur. Was das einfache Volk lese.

Simenon gestikuliert mit seiner Pfeife.

Dabei hat ausgerechnet dieser Fayard mir damals vorgeworfen, als er die Manuskripte meiner ersten Mai­grets gelesen hatte, das breite Publikum wolle sowas nicht lesen, es seien keine Liebesgeschichten, weder wirklich gute noch wirklich böse Figuren, keine Helden und es ende immer schlecht. Es seien düstere Geschichten, aber keine Kriminalromane. Sie drehen sich nicht um ein Problem, das es zu lösen gelte wie bei einer Schachpartie. Es gebe keine Rätsel, also sei es auch kein Kriminalroman … Der Held sei nur ein simpler Beamter, weder schön noch stark noch außergewöhnlich … Er sei schwerfällig und habe keinen Schneid …

Simenon nimmt einen kräftigen Zug aus der Pfeife.

Nun, Fayard hat sich gründlich getäuscht. Die Leser liebten meinen Mai­gret. Ich hab dann fast ein Jahr später – ich brauchte Geld – einen allerletzten Mai­gret nachgeschoben: Der pensionierte Kommissar muss seinen Neffen Philippe aus der Patsche holen. Offensichtlich sind mir da ein paar Fehler zu Mai­grets Biografie unterlaufen, wie mir aufmerksame Leser vorgeworfen haben. Mein Gott, die Leute vergessen, dass Mai­grets Leben eine erzählte Welt ist, die sich halt verändert. Zu­dem lese ich meine eigenen Romane nach dem Schreiben nicht mehr. Was soll’s, es war eh der letzte Mai­gret.

Er hat weit über dreißig ernst zu nehmende Romane veröffentlicht, seit zwei Jahren beim renommierten Literaturverlag Gallimard. Und vor zwei Monaten ist sein erster großer Roman erschienen, über die Reederfamilie Donadieu aus La Rochelle. Sein Meisterwerk! Und jetzt, Monsieur Glosère, bin ich bereit für die große Literatur!

Glauser wirft seinem Begleiter einen schnellen Seitenblick zu, an Selbstzweifeln scheint der Simenon jedenfalls nicht zu leiden. Ganz im Gegensatz zu einem selbst. Aber da täuscht sich Glauser.

Simenon schaut in die Weite, die Pfeife im Mundwinkel, die Hände wieder in den Taschen seiner maßgeschneiderten Hose.

Zugegeben, letzten Herbst ist er kurz schwach geworden und hat schnell eine Serie von acht kleinen Mai­gret-Erzählungen für das Feuilleton von «Paris-Soir Dimanche» verfasst. Fin­ger­übungen. Schnell und leicht verdientes Geld, das er brauchte …

Jetzt aber – was war er soeben im Begriff zu tun? Doch wie­der einen richtigen Mai­gret-Fall zu erfinden? Er hat Mai­gret in den Ruhestand geschoben, um vor ihm Ruhe zu ha­ben. Aber der Kommissar will sich nicht zur Ruhe setzen. Er brummt in seinen Gedanken herum. Hatte Fayard doch recht, als er ihm hämisch voraussagte, er werde den Geist des hartnäckigen Kom­missars, einmal gerufen, nicht so leicht wieder los?

Das wollen wir doch mal sehen. Der Simenon auf dem Weg hinauf zum literarischen Olymp wird mit Sicherheit keinen Mai­gret-Rückfall erleiden. Also endgültig Schluss mit dem Kommissar, mit dem Quai des Orfèvres, Schluss mit den Inspektoren Lucas, Torrence und Janvier, die Mai­gret herumkommandieren durfte.

 

Simenon holt tief Luft und dreht sich zu Glauser.

Nein, für unsere Geschichte schaffe ich eine ganz andere Figur. Als Gedankenspielerei, als Versuch. Kein Kommissar, kein Polizist, keine Erfahrung als Detektiv, jünger, ja, in allem das Gegenteil von Mai­gret. Um ihn gründlich zu exorzieren.

Simenon, leicht verlegen, verspürt große Lust, zur Abwechslung mal einen weiblichen Detektiv zu schaffen. Ein Laie, eine Frau, die auf ihre Weise bei der Aufdeckung der Wahrheit hinter einem Verbrechen mitarbeitet ...

Was halten Sie davon, Monsieur Glosère?

Er scheint nicht ernsthaft von Glauser eine Antwort zu er­warten und schaut wieder über die Wellen.

Amélie Morel soll sie heißen, um die fünfzig herum, mit flinkem Verstand und wachen Augen, sie steckt ihre Nase gern in fremde Angelegenheiten … eine Krankenschwester …

Warum eine Krankenschwester?, wagt Glauser schüchtern zu fragen.

Medizinische Kenntnisse sind immer von Vorteil, wenn man es mit Verbrechen zu tun hat, meint Simenon mit der Pfeife im Mundwinkel, Medizin habe ihn immer fasziniert. Er hatte Medizin studieren wollen; nach dem frühen Tod seines Vaters hieß es jedoch, sofort Geld zu verdienen.

Er nickt. Amélie Morel steht bereits vor ihm, eine kleine, umtriebige Dame, dunkle Haare, in denen die ersten Silberfä­den schimmern, immer eine vorwitzige Locke in der Stirn, sie nickt ihm zu und lächelt, beinahe komplizenhaft. Sie ist im Hôtel de la Plage im Urlaub … das kann sie sich als Krankenschwester aber nicht leisten … sie muss irgendwie zu Geld ge­kommen sein … Ja, genau. Bis vor Kurzem war sie als Pflegerin bei einem alten Mann in Stellung, ein Industrieller aus Nantes. Als er starb, hat er ihr ein wenig Geld vermacht. Damit gönnt sie sich jetzt erstmals in ihrem Leben richtig Urlaub, im Hôtel de la Plage in Saint-Georges.

Simenon sinniert immer noch über das Meer.

Da die Dame keine polizeiliche Ermittlung durchführen kann, brauchen wir einen Inspektor, der aber eine Nebenrolle spielen soll … Laurent Picot, ein junger Inspektor mit noch we­nig Erfahrung … und er ist Amélie Morels Neffe! Sie muss ja irgendwie an die Informationen kommen, nicht wahr.

Simenon pafft ein paar Züge. In seinem Kopf beginnen die Bil­der zu tanzen, sich ineinanderzufügen, das Räderwerk der Handlung setzt sich unaufhaltsam in Bewegung … Wie verbringt Amélie Morel die ersten Urlaubstage ihres Lebens, Tage ohne Aufgaben, ohne Pflichten, ohne geregelten Ablauf, ohne Routine, dafür mit viel Langeweile? Bestimmt hat sie sich vom ersten Tag an eine Ordnung geschaffen, die ihr Halt gibt. Sie ist frühmorgens oft die Erste am Strand, wer ein Leben lang früh auf muss … Sie kommt mit einem Buch und holt sich selbst ei­nen Liegestuhl, wenn der Strandjunge etwas Verspätung hat …

Glauser steht neben ihm, die Hände in den ausgebeulten Ho­sentaschen, wartet und wundert sich, warum das Meer nicht blau ist. Warum so bräunlich?

Es ist der aufgewühlte Sand im Wasser, murmelt Simenon. Und dann dreht er sich wie elektrisiert zu Glauser.

Hören Sie mal, Monsieur Glosère, so könnte unsere Ge­schich­te anfangen:

Man hätte an diesem klaren Morgen, die Sonne gab sich red­lich Mühe, die frische Juniluft zu erwärmen, nicht weiter weg von der dunklen, der verbrecherischen Seite des Lebens sein können als die kleine Dame, die sich seufzend in ihren Liegestuhl fallen ließ und sich sogleich wieder mühsam und schimpfend hochzog, wer hatte ihr den Stuhl verstellt?

Die beiden nehmen ihren Spaziergang wieder auf, und nach ein paar Schritten im weichen Sand formuliert Simenon den zweiten Satz, den dritten, eine angetrocknete Alge wickelt sich zwischen dem vierten und fünften Satz um seinen Leinenschuh, den sechsten, den siebten Satz, beim achten Satz streift er die Alge ärgerlich ab, als er sie endlich bemerkt hat, dann den neunten Satz und einfach so weiter ...

Bis zum Satz:

Und wenn sie recht hat, die Ehefrau?, fragte Amélie Morel hinter seinem Rücken.

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