Blindgänger

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Blindgänger
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Über dieses Buch

Ein Mann erwacht nach einem Sturz im Krankenhaus und hat sein biografisches Gedächtnis verloren. Widerspenstig setzt er sich mit dem ‹Andern› auseinander, der er zuvor gewesen sein soll, ein eher farbloser Französischlehrer an einem Gymnasium.

Frau und Tochter besuchen ihn – keine Erinnerung. Wie mag ihre Ehe gewesen sein, ihr Familienleben? Sein offenbar bester Freund, ein Lehrerkollege, erzählt von ihrer beider Frust und ihren Aussteigerträumen. In den Dateien auf ‹seinem› Laptop macht er sich auf die Suche nach seiner Geschichte und verarbeitet auf Anraten des Arztes seine eigenen, ihm nun fremden Aufzeichnungen des vergangenen Sommers. Vor dem Unfall hat der Französischlehrer ein Sabbatical in Royan an der französischen Küste verbracht. Offenbar soll er dort in den letzten Kriegswirren geboren und als Waisenkind in die Schweiz gebracht worden sein.

Je mehr er über die Person erfährt, die er angeblich ist, desto weniger weiss er, ob er in deren Leben zurück will. Aber Frau und Tochter warten auf seine Rückkehr, der Arzt auf seine Erinnerungen …

«Blindgänger» ist ein überraschender Roman über die Verweigerung gegenüber der Geschichte – der kleinen biografischen wie der großen geschichtlichen –, der zurückführt in einen Sommer am Atlantik und in die Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs.


Foto Ayșe Yavaș

Ursula Hasler ist in Schaffhausen aufgewachsen und lebt heute in Baden. Sie studierte in Zürich Germanistik und Psychologie. Aus einem Studienjahr in Frankreich wurden in der Folge fast zehn Jahre Leben und Arbeiten in Paris. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz arbeitete sie als Übersetzerin und Dozentin an der Dolmetscherschule Zürich. Sie ist heute als Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften tätig und hat zu wissenschaftlichen Themen publiziert. «Blindgänger» ist ihr erster Roman.

Ursula Hasler

Blindgänger

Roman

Limmat Verlag

Zürich

Die nette Frau, die behauptet, meine Frau zu sein, hat mir gestern das Laptop ihres Mannes mitgebracht.

«Typische Ausdrucksweise von Marty», habe ich an den Rand meiner Gesprächsnotizen unserer ersten The­ra­­piesitzung gekritzelt. Jean-Pierre Marty war ohne Zwei­fel mein sonderbarster Fall, und an eigenartigen Fällen mangelte es mir beileibe nie.

In weiser Voraussicht hatte ich kraft meiner Auto­­rität als leitender Arzt der Klinik Rychenegg den Fall Jean-­Pierre Marty zur Chefsache erklärt. Zu Beginn deutete nichts darauf hin, dass seine Krankengeschichte in irgendeiner Weise ungewöhnlicher wäre als vergleichba­re Anamnesen von Gedächtnisverlust. Im Ge­genteil, meine Einschätzung der Heilungschancen war aufgrund der neurologischen Abklärungen vorsichtig optimistisch. Dann nahm die Geschichte eine merkwürdige, für mich bis heute kaum nachvollziehbare, geschweige denn medi­zinisch erklärbare Entwicklung. Ich bin auf der ganzen Linie ratlos, was beim Fall Marty wahr ist, ob irgendetwas wahr ist.

Die erste Sitzung war am Dienstag, 9. September 2003, auf zehn Uhr angesetzt, in meinem Büro im alten Ost­flügel der Klinik, in dem jegliche Assoziation mit einer ärztlichen Praxis sorgsam vermieden wird, ein herrschaftlicher Raum mit hohen Fenstern, durch die an diesem Vormittag eine kräftige Septembersonne drängte, in Schach gehalten von unästhetischen, aber äußerst praktischen Hängestoren, die eine subtile Regelung des Lichteinfalls ermöglichen.

Beim Eintreten fiel Martys Blick sogleich auf die Couch, von mir zwar nie gebraucht, aber doch als analytisches Requisit vorhanden. Er wünsche ein gleichberechtigtes Gespräch, face à face.

Ich bat ihn, im Sessel mir gegenüber Platz zu nehmen.

Er sei mit dem festen Vorsatz zur Sitzung gekommen, sich nicht in therapeutische Spielchen verwickeln zu lassen, er wolle klare Antworten auf schwierige Fragen. Ob ich als Psychiater in der Lage sei, seine Lage zu erfassen?

Ich schluckte, die Professionalität gebot mir, vorerst zu schweigen.

Marty sprach jedoch nicht weiter, er saß im Besuchersessel mit Blick auf das Fenster, sah mich unverwandt an und bat nach einiger Zeit, die Plätze zu tauschen.

Er brachte mich ein erstes Mal aus dem Konzept.

Bitte schön, ich erhob mich, schritt um den breiten Glastisch herum und überlegte fieberhaft, welches Spiel er zu spielen beabsichtigte. Nach dem Platzwechsel saß Marty mir gegenüber, hinter dem Schreibtisch auf dem ledernen Therapeutensessel, meinem Sitz, und ich befand mich erstmals auf dem leicht tieferen Klientensessel, eine wesentliche Kleinigkeit. Ich sah Marty und sah ihn nicht, sah auf der andern Seite der spiegelnden Tischplatte im Gegenlicht einen Schattenriss, eine dunk­le Sil­hou­ette.

Wie weiß man, wer man ist?

Marty hatte eine Weile gewartet, sich zurückgelehnt und die Frage gestellt: Wie weiß man, wer man ist? Was, wenn mit dem Gedächtnis auch das Ich ausgelöscht ist?

Ich schwieg vorsichtshalber, die Fragen stellt eigentlich der Therapeut. Aber auf dessen Sessel saß jetzt Marty.

Hmh, wer kann schon von sich behaupten zu wissen, wer er ist? Die Identität, vielleicht ist sie ein Sammelsurium der Spekulationen über die Bilder, die andere von einem haben.

Es klang wenig überzeugend, ich nahm einen neuen Anlauf.

Eine psychologische Theorie besagt, dass die Identität der Filter ist, der entscheidet, wie Erlebnisse als Erinnerungen gespeichert werden.

Marty zuckte die Schultern. Eben, dann verschwinde logischerweise bei Gedächtnisverlust auch die damit verbundene Identität. Er habe keine mehr.

Seine Hände schoben die Patientenakten auf meinem Tisch umher. Die Sinnlosigkeit der entstehenden Unordnung machte mich ganz nervös.

Wie war einer, der sich so kleidete wie der Besitzer dieser Kleider? Marty zupfte nun an seinem Hemd herum.

Jeden Morgen betrachte er, was ihm in den Kleiderschrank gehängt worden war, und wähle aus. Heute das hellblaue Leinenhemd und die dunkelbeige Twill­hose, die Hosen seien ihm übrigens alle ein bisschen zu weit. Da hingen noch feine Cordhosen mit Bundfalten und eine Jeans, weitere unifarbene Hemden, zwei feine Wollpullover, dunkelblau mit Rundausschnitt und dunkelgrün mit V-Ausschnitt, und eine braune Wildlederjacke. Auch drei Schlafanzüge aus bestem Baumwolljersey. Unterwäsche und Socken seien nicht weiter nennenswert. Dass er hier nicht in rotglänzendem Trainingsanzug und klotzigen Sportschuhen mit drei Streifen vor mir sitze, ich muss erstaunt den Kopf gehoben haben, ja, solche Exemplare seien ihm in den Gängen begegnet, das beweise doch nur, abgesehen davon, dass solches nicht im Schrank hänge, dass er, oder müsste er vielmehr sagen: der Besitzer dieser Kleider, damit die Zugehörigkeit und Identifikation mit einer bestimmten sozialen Gruppe signalisieren wolle.

Meine Frage, ob er sich denn unwohl fühle in diesen Kleidern, wusste er nicht gleich zu beantworten.

Keine Gefühle, nein. Ohne Vorstellung einer Iden­tität wisse er schlicht nicht, welcher Kleiderstil ihm entsprechen würde. Also sei es egal, wie er sich zurzeit kleide, er könne genauso gut die Kleider dieses Gymnasiallehrers Marty tragen, offensichtlich ein Feingeist mit ganz gutem Geschmack. Vielleicht auch derjenige seiner Frau.

Marty schwieg, und ich nutzte die Gelegenheit für einen den konventionellen Standard wieder etablierenden Platzwechsel. Auf dem vertrauten Sessel und mit der Sicherheit der hergestellten Ordnung, auch die Patien­tenakten säuberlich zurück auf einer Beige, lenkte ich den weiteren Verlauf der Therapiesitzung, wie es sich gehörte.

Gut, ich denke begriffen zu haben, dass Ihr Problem nach dem totalen Verlust der Erinnerungen die Frage nach der Identität ist. Ob er sich hier in der Klinik Rychenegg wohlfühle, ob er bereits Gelegenheit hatte, den wunderschönen Park mit dem alten Baumbestand zu erkunden, ich klang schon wie der Marketingfritz unserer Klinik.

Er nickte abwesend.

Ob er mir nicht erzählen wolle, wie er die beiden Tage seit seiner Ankunft verbracht habe? Das ihn überweisende Kantonsspital hatte eine retrograde Amnesie als Folge eines Sturzes mit seitlichem Aufschlagen des Kopfes diagnostiziert. Marty schien aufgrund erster Un­tersuchungen unter ei­nem kompletten Verlust per­sön­licher Erinnerungen zu leiden, jedoch ohne Beeinträchtigung der andern Gedächtnissysteme, ich vermutete ein mnestisches Blocka­desyndrom des episodischen Lang­zeit­gedächt­nis­ses.

Er nickte erneut. Die nette Frau, die behaupte, seine Frau zu sein, habe ihm gestern Vormittag das Laptop ihres Mannes mitgebracht.

Martys demonstrative Abwehr machte mich hellhörig, er akzeptiere doch, dass keine Zweifel über seine faktische Identität bestünden? Dass er Jean-Pierre Marty sei. Es sei leider nicht zu überhören, wie angestrengt er die Ichform zu vermeiden trachte, wenn er über die Zeit vor dem Gedächtnisverlust spreche. Es höre sich für einen Außenstehenden an, als handle es sich bei Jean-Pierre Marty vor dem 15. August um eine andere Person.

Richtig. Unerwartet erhob sich Marty, beugte sich erregt über den Schreibtisch, ich hätte den Finger treffsicher in die Wunde gelegt. Täglich erwache er in einem ihm komplett fremden Körper. Jeden Morgen putze er sich die Zähne mit dessen Zahnbürste, benutze dessen Rasierer und Rasierwasser, unsicher, ob er den Duft überhaupt möge. Jeden Morgen ziehe er sich die Hüllen des Besitzers dieser ­Kleider über, selbstverständlich alles frisch gewaschen, schlüpfe täglich in dessen Haut, und manchmal ekle es ihn. Sein Ich sei, er rechnete kurz, genau neunzehn Tage alt, davor steckte ein Jean-Pierre Marty im gleichen Körper, ja, diese Tatsache sei ihm bes­tens bekannt. Er sei ein Schauspieler, der zwar den Namen seiner Figur kenne, bloß leider das Stück nicht, das gespielt werde.

 

Ich bat ihn, sich wieder zu setzen. Und weiterzuerzählen.

Ja. Das Laptop liege seither auf seinem Tisch, genau in der Mitte, eine zugeklappte Auster. Er habe Kreise um den Tisch gedreht, wollte es erst öffnen, wenn er sichergehen konnte, nicht mehr gestört zu werden. Nach dem Essen lasse man ihn gewöhnlich in Ruhe. Aber dann habe er nicht gewagt, das Ding zu berühren. Er habe die Balkontür aufgerissen, kühle Luft mit heiteren Geräuschen sei von außen in den Raum geflossen und er habe sich draußen in den Korbstuhl gesetzt, als ihn plötzlich eine unbändige Lust zu rauchen anfiel. Keiner habe ihn vorgewarnt, offensichtlich sei Marty kein starker Raucher gewesen, der süchtige Körper hätte dem unwissenden Kopf sonst längst gezeigt, was er braucht. Hastig habe er einen Schluck Wasser getrunken, überall und jederzeit stünden in der Klinik ja Mine­ral­was­serflaschen und Gläser herum, Wassertrinken als Grundlage und Vor­aussetzung jeglicher Behandlung, wenn nicht der Existenz überhaupt. Trinken Sie, Herr Marty, Sie haben ja heute noch gar nichts getrunken! Wie oft er das zu hören bekomme, der Wasserstand in der Flasche markiere seine Folgsamkeit oder Rebellion. Die sei schwach, gegen die Überzeugungskraft des Wassers komme er nicht an, also trinke er, soll sich dieses Gehirn, das ihn so schmählich im Stich lasse, doch vollsaugen wie ein Schwamm, besser noch ersaufen im lauwarmen Mineralwasser. Er habe mit der Faust auf das Eisentischchen geschlagen, das Glas sei weggerutscht, auf dem Steinboden zersprungen. Solche Wutanfälle überfielen ihn häufig, unvorbereitet und kurz, vermutlich Hinweis auf eine cholerische Persönlichkeit, nicht wahr.

Ich schüttelte den Kopf, es sei unwichtig, ob er aus der Erinnerung beschreiben könne, was er von seinem Balkon aus sehe.

Marty verzog den Mund, belustigt, ihm sei schon klar, dass ich ihn testen wolle, nur zu. Also, er habe sich ans Geländer gelehnt, es laufe das ganze Stockwerk entlang, bestimmt hundert Meter, auch über die zwei Stockwerke darun­ter und noch eines über ihm. Eine uniforme Balkonfassade auf der Südseite des Gebäudes, halb trans­parente, in Eisenrahmen gefasste Glaswände begrenzten die jedem Zimmer zugeteilten Balkonmeter. Vermutlich ehemals ein Kurhotel, nicht wahr, Jahrhundertwende, wie er angesichts der hohen Räume und verzierten Eisengeländer schätze.

Ich nickte.

Im Klinikpark rauschende Eschen oder Ulmen, so gut kenne er die Bäume nicht, aber die Namen tauchten ohne Nachdenken im Kopf auf, wie er mit Erleichterung festgestellt habe. Unten schlängelten sich Wege zwischen mächtigen, in die Jahre gekommenen Büschen. Rhododendren, Azaleen, Hortensien, auch die Sträuchernamen fielen ihm problemlos ein, sein Gedächtnis könne also Schulwissen abrufen, welch lächerlicher Trost.

Ich nickte erneut und notierte: semantisches Gedächtnissystem funktionsfähig.

Er möge den Blick von oben, Personal in weißen Schürzen querte den Park, immer beschäftigt, oder sie taten so, andere Personen spazierten oder ruhten auf Bänken, in der bequemen, das heißt unverkennbar schlabbrigen Bekleidung, mit der sich niemand ins Freie trauen würde, außer im Schutz einer Klinik.

Ich schmunzelte und schrieb: perzeptuelles Gedächt­nissystem ebenfalls nicht betroffen.

Die jetzt überall draußen sitzenden Insassen seien Patienten, man werde aber mit professionellem Lächeln, das mit keinem Widerspruch rechne, als Gäste bezeichnet. So viel habe er gelernt. Auch er ein Gast, Aufenthalts­dauer unbestimmt, Ende ungewiss.

Selbstredend enthielt ich mich einer Antwort, schrieb: ausschließlich retrograde Amnesie.

Er wisse, warum er hier sei, und wisse doch nichts. Täglich falle sein Blick beim Aufstehen als erstes auf die Uhr und das leuchtende Datum, beides zu wissen gehöre wohl zur Therapie, Uhrzeit, Datum, unbestechliche Mess­größen für Realität und die stumme Aufforderung an ihn, sie sich zu merken. Das dürfte doch die wirkliche Bestimmung des Digitalweckers sein, nicht wahr. Nicht ihn zu wecken. Jeden Morgen hole ihn eine weiß gekleidete Person mit weißen, leise knirschenden Gesundheits­schuhen aus dem Schlaf. Aus einem schweren, traumlosen, vermutlich medikamentösen Schlaf, man nötige ihn zur Einnahme einer beachtlichen Men­ge von pharmazeu­tischen Mitteln. Noch schicke er sich drein, eines nach dem andern, aber zu gegebener Zeit würde er sich genau­er mit dem Pharmacocktail beschäftigen.

Ich beruhigte ihn, Wahl und Dosierung der me­di­ka­men­tösen Behandlung seien Teil der Therapie und würden gemeinsam mit ihm beschlossen. Dazu brauche es jedoch genauere Kenntnis meinerseits über seinen eher ungewöhnlichen Fall. Ich bat ihn, nun an den Anfang zurückzugehen, zum Zeitpunkt des Aufwachens aus dem Koma.

Ja, der Anfang seines jetzigen absurden Zustands las­se sich genau festlegen, es begann an jenem Sonntag, dem 24. August, als er im Kantonsspital erwachte, in einem älteren Männerkörper, da gab es nichts zu deuteln. Und kein Ende in Sicht. Der Kopf fühle sich merkwürdiger­wei­se nicht leer an, obwohl da nichts Brauchbares mehr drin war. Marty fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, diese Geste, sehen Sie, scheint eine typische Hand­be­wegung von mir zu sein. Unverständliche Gesten, unwillkürliche kleine Ticks, er beobachte sich gnadenlos. Ein neugeborener Geist im erfahrungsmüden Körper ei­nes bald Sechzigjährigen. Es sei nicht auszuhalten.

Das Aufwachen aus dem Koma, in dem er nach Aussagen der Ärzte des Kantonsspitals über eine Woche gelegen hatte, war schubweise verlaufen. Nach einigen Anläufen habe er es geschafft, wach zu bleiben, fühlte sich gesund und wusste nicht, weshalb er an Schläuchen angeschlossen in einem Spitalbett lag, an dem ein Schild mit Jean-Pierre Marty hing. Die Pflegerin, deren freundliche Stimme unermüdlich versucht hatte, ihn bei seinen Auftauchern festzuhalten, begrüßte ihn fröhlich, so Herr Marty, diesmal haben wir es geschafft, möchten Sie was trinken? Ja, sein Mund fühlte sich pelzig an. Aber in welchem Irrenhaus war er da gelandet? Warum sie ihn ständig Marty nenne, das Sprechen fiel ihm schwer, die Zunge so dick, er heiße doch … Bleierne Leere im Kopf und keine Vorstellung, wer er war. Ein Panzer lag ihm auf der Brust, er rang nach Luft, bloß weg hier, gleich würde er aus dem Albtraum aufwachen, er sank wieder weg. Die Pflegerin schüttelte ihn unsanft, nicht mehr einschlafen, Herr Marty, bleiben Sie hier. Gut, dann blieb er halt, auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wer dieser Marty war und wo er bleiben sollte. Keine Erinnerung. Nichts.

Das wortlose Entsetzen nach dem Aufwachen vermöge er auch jetzt, zwei Wochen später, noch beliebig auszulösen, sobald er den inneren Film wieder ablaufen lasse. Die Leere liege nicht im Kopf, nein, im Herzen, in der Seele, falls es denn so was geben sollte, flaumig weich und nicht zu fassen. Der Geist erwachte in einem unbekannten Leib. Wieder und wie­der habe er seine Hände betrachtet, eher schmal, schlanke Finger, die sich Tausende Male gedehnt und die zugepackt hatten, Haut mit Falten und ohne Schwielen, welche Tätigkeit gehörte zu diesem Mann? Jede Minute habe sich im Gedächtnis eingebrannt, das nach dem Neustart, so nenne er das Aufwachen an jenem Sonntag, 24. August, wieder zuverlässig arbeitete, geradezu auf Hochtouren, sich alle Einzelheiten einprägte, wie um das Verlorene bei ihm gutzumachen.

Am Sonntagnachmittag war nach dem Erwachen nur wenig Zeit geblieben, das Ungeheure zu erfassen. Die Ärzte beruhigten ihn, solch temporäre Amnesien könnten nach einem mittelschweren Schädel-Hirn-Trauma wie in seinem Fall auftreten, die Erinnerungen seien in der Regel nach Stunden, manchmal auch Tagen langsam wieder abrufbar. Er solle sich keine unnötigen Sorgen machen, Aufregung sei ganz schlecht, jetzt werde erst mal abgewartet. Kaum hatten die Ärzte die ersten Untersuchungen beendet, öffnete sich die Tür, und eine nicht mehr ganz junge, gutaussehende Frau und ein etwa gleich großes Mädchen stürzten freudig ins Zimmer. Mit knapper Not habe er der Umarmung der beiden fremden Frauen ausweichen können.

Das Drama begann. Stunden, Tage, Nächte vergingen, er marterte sein Gehirn, sprach die Namen Annet und Nadine laut aus, vielleicht gab es über die Ohren einen Zugang zum Gedächtnis, er suchte fiebrig, kein noch so winziges Bildfetzchen blitzte auf, nur graue Flusen, wo einst seine Erinnerungen lagen. Hartnäckig besuchten ihn die Frau und das Mädchen, versuchten alles Mögliche, gemeinsame Erlebnisse, Familienausflüge, Kindergeschichten von Nadine, Vertrautes aus dem Alltag. Sie kamen mit Fotoalben, lieb gewonnenen Gegenständen, Souvenirs. Hilflos und gerührt ließ er alles über sich ergehen, kam gar in Versuchung, Erkennen zu simulieren, die Kleine tat ihm leid.

Er musste unbedingt wissen, weshalb er ins Koma ge­fallen war. Die Frau hatte ihn in seinem Studierzimmer am Boden liegend gefunden, als sie von der Arbeit kam, an jenem Freitagabend des Jahrhundertunwetters, am 15. August. Beim offenen Fenster in einer Wasser­lache. Vermutlich war er ausgerutscht und mit dem Kopf seitlich so unglücklich an der Möbelkante oder am Boden aufgeschlagen, dass er bewusstlos wurde. Ein Rätsel, weshalb er bei dem heftigen Regen das Fenster nicht geschlossen hatte.

Ein Unfall also. Sie fügte an, dass das Laptop lief, als sie ins Zimmer kam, sich jedoch später ausgeschaltet hatte, Akku leer. Die Frau zögerte, nervös, wollte seine Hand ergreifen und brach rechtzeitig ab, er ertrug keine Berührung. Seine Sinne reagierten überscharf, unterfordert, wie sie waren, sie vermochten keinen Eindruck mit Erlebtem zu vergleichen, besonders Geruchssinn und Tastsinn. Die ganze Haut schien ihm in ständiger Alarmbereitschaft.

Der wahre Schock stand ihm noch bevor. Zwei Ta­ge nach dem Aufwachen hatten sie all die hinderlichen Schläuche entfernt und ihn von der Intensivstation auf die Medizin verlegt. Er fühlte sich fit, hatte bloß seitlich eine kleine Platzwunde am Kopf, er konnte aufstehen. So erlebte er beim Betreten der Toilette den zweiten Schlag. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken blickte ihn ein Mann an, dem das blanke Entsetzen im Gesicht stand.

Langsam hob er seine Hände, der Unbekannte im Spie­gel fixierte ihn. Er sah, wie beide Hände über die stoppeligen Wangen strichen, die Haut noch mit einer Sommerferienrestbräune, die Mundwinkel zuckten, die Finger pressten auf jeder Seite die Schläfen, die Augenlider flatterten kaum merklich, der Mann im Spiegel hatte auffäl­lig blaugrüne Augen. Die Finger spreizten sich und strichen die dunklen, bereits stark angegrauten Strähnen zurück, die ins Gesicht fielen. Ein Haarschnitt war überfällig.

Er schloss die Augen, gab dem Mann im Spiegel drei Sekunden, um zu verschwinden, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Der Mann hatte sich nicht geregt, blickte ihn unverwandt an, nun eher neugierig. Ich. Nein.

Er begriff zum ersten Mal die volle Bedeutung des Wortes Gesichtsverlust. Genau genommen hatte er nicht sein Gesicht verloren, sondern ein unbekanntes gefunden. Was auf dasselbe hinauslief. Die Physiognomie ­ei­­nes Mannes in den sogenannt besten Jahren. Der Spiegelmann sah recht gut aus, feingeschnittene Ge­sichts­züge, er gefiel ihm. Glücklicherweise. Aber ich bin es nicht.

In den folgenden Tagen hatte er beim Rasieren stun­den­lang auf das Spiegelbild gestarrt, prägte sich Haut­poren, Bartstoppeln, Hautfalten ein. Jeden Qua­drat­­zen­timeter musste er sich aneignen, die Falten füllen mit Erfahrungen, das Erlebnis erfinden, das mit der kaum sichtbaren Narbe an der Unterlippe geendet hatte. Man brachte ihm mit fragendem Blick den zweiten Spiegel, um den er gebeten hatte. Mit der Verdoppelung des Spiegelbildes würde er den Mann so sehen, wie die andern ihn sahen. Das Bild des Bildes schafft erst die Wirklichkeit. Doch es half nicht, der andere blieb ein Anderer, täglich wusch er unvertraute Haut, rasierte einen Fremd­ling und fuhr mit dem Kamm durch den Haarschopf eines völlig Unbekannten.

Frau und Tochter schwankten zwischen Verzweiflung und Zweifel, Unglauben, Zuversicht und Ratlosigkeit. Nichts konnte er tun, er begriff, dass der Albtraum jeden Morgen erneut beginnen würde. Selbst der uner­schütterliche Optimismus der Ärzte zeigte Risse, immer öfter besprachen sie sich bei der Visite so, dass er kein Wort verstehen konnte. Sie ordneten neue oder ergänzende Untersuchungen an, Elektroenzephalogramm, Com­putertomografie, prüften seine Verarbeitung von Reizen, während er Bilder eines unbekannten Hauses und von fremden Leuten betrachten musste. Natürlich löste das keine emotionalen Reize in seinem Gehirn aus, wie sollte es auch.

 

Man meinte etwas hilflos, dass die Wissenschaft seinen Zustand sehr wohl einzuordnen und zu benennen wisse, nämlich retrograder, das heiße rückwirkender ­Gedächtnisverlust, ausschließliche Störung des episodisch-autobiografischen Gedächtnisses, normale Funktion der Gedächtnissysteme für Motorik, Priming, Per­zep­­­tion, Semantik. Kurz, mit Ausnahme der persönlichen Erinnerungen funktionierte sein Gedächtnis einwandfrei, er wusste, wie Geräte zu bedienen waren, kannte be­lang­lose Jahreszahlen, die Namen von unwichtigen Politikern und konnte auf Bildern Schädlinge korrekt bezeichnen. Man könne sich medizinisch jedoch nicht plausibel erklä­ren, weshalb seine nur mittelschwere und mittlerweile wieder ausgeheilte Gehirnerschütterung die anhaltende Amnesie induziere. Eine allfällige psychogene Ursache werde nicht mehr ausgeschlossen.

Als er das gehört habe, sei ihm nur noch Sarkasmus geblieben.

Ich sah in Martys Blick bodenlose Verzweiflung. Wieder seine Geste mit beiden Händen im Haar, nach vorn gebückt.

Der ganz persönliche Erinnerungsschatz, die unwiederbringlichen Erlebnisse aus einem achtundfünfzigjährigen Leben, sein Alter hatten sie ihm sagen müssen, alles weg. Verschwunden. Und mit ihnen auch die Gefüh­le. Alles auf einen Schlag unzugänglich, was er in seinem Lebensarchiv abgelegt und vermeintlich mittels Erin­nerungen gesichert hatte. Zugriff verweigert. Was bloß habe der «Andere» getan, dass das Gehirn zu einem solchen Radikalschnitt gezwungen wurde. Und ihn als Ahnungslosen schutzlos ins Leben zurückgeworfen ha­be.

Jetzt wollte ich die Sache ansprechen. Ob er es auch so ausdrücken könne: Ich, was bloß habe ich getan, dass mein Gehirn jegliche Erinnerung daran blockiert?

Er schüttelte den Kopf, er habe kein Bild eines Ichs. Und schuld an seiner Misere jetzt sei doch eindeutig der frühere Andere, nicht sein frisch geborenes Ich, oder?

Ich schwieg, beunruhigt, eine merkwürdige Abspaltung, vermutlich notwendig, um nicht auch noch die Schuld am Gedächtnisverlust tragen zu müssen, die Verantwortung dafür lag beim «Anderen». Im Auge behalten.

Es sei ihm schlicht unmöglich gewesen, nach dem Krankenhaus, aus dem sie ihn nach drei Wochen entlassen hatten – organisch sei alles in Ordnung –, an den Ort zurückzukehren, den die Frau und das Mädchen als Zu­hause bezeichneten, wo er ihren beharrlichen Bemühun­gen, mit allen Mitteln sein Gedächtnis zu wecken, hilflos ausgeliefert gewesen wäre. Deshalb habe er sich für eine nachbehandelnde Therapie hier in die Klinik Rychenegg einweisen lassen, bekannt für Behandlungen von posttraumatischen Störungen, auf Empfehlung einer jüngeren Oberärztin im Kantonsspital. Er brauche einen neutralen Ort, ohne den Druck von scheinbar vertrauten Gegenständen, sowie Zeit. Zeit herauszufinden, wer der «Andere» war, dieser Kerl mit Namen Jean-Pierre Marty. Warum er ihm diese Amnesie eingebrockt habe.

Meine Worte wog ich mit wissenschaftlicher Vorsicht ab. Es bestehe durchaus Hoffnung, dass sich durch Gedächtnistraining und spezifische Therapien die Er­in­nerungen wieder schrittweise öffnen lassen. Das epi­so­dische Langzeitgedächtnis sei ja nicht organisch gestört, nur der Zugang blockiert.

Marty zweifelte, er habe Angst vor weiteren Streichen seines Gehirns. Die Panik, eines Morgens wieder in einem unbekannten Zimmer zu erwachen und erneut mit einem fremden Namen begrüßt zu werden, begleite ihn hartnäckig.

Ich schlug vor, ihn für eine PET/CT-Untersuchung in das Universitätsspital Zürich zu überweisen, und erklärte auf seinen skeptischen Blick, dort sei dieses neue bildgebende Verfahren zur Sichtbarmachung der Stoffwechselprozesse in den verschiedenen Hirnarealen vor zwei Jahren weltweit erstmals klinisch eingesetzt worden. Ein hervorragendes diagnostisches Verfahren, um die Aktivität von Hirnzellen über Stoffwechselvorgänge sichtbar zu machen.

Marty nickte, gut, einverstanden.

Jetzt Hausaufgaben auf die nächste Sitzung, das sei ihm als Lehrer bestimmt vertraut. Ich bat ihn alles aufzuschreiben, was er über sein früheres Leben in Erfahrung bringen könne, Fakten, aber ebenso eine Charakterisierung seiner Persönlichkeit durch seine Familie.

Sie meinen wohl über diesen Unbekannten namens Jean-Pierre Marty; er zweifle, dass das etwas bringe, aber er tue sein Bestes.

Noch am selben Nachmittag suchte ich Marty in seinem Zimmer auf, seine Frau hatte am Mittag beim Empfang eine Plastiktüte für ihn abgegeben. Ich öffnete auf sein Herein wohl etwas schnell die Tür, Marty schloss ertappt den Kleiderschrank.

Ach, warum sollen Sie es nicht wissen, und er zog mit einem kräftigen Ruck die leicht klemmende Schranktür wieder auf, an deren Innenseite der Spiegel hing. Er vermöge an keinem Spiegel vorbeizugehen, ohne kurz das Gesicht zu prüfen. Was, wenn ihn unerwartet wieder ein anderer, neuer Unbekannter anstarrte? Er beruhige sich jeweils erst, wenn er den gleichen vertrauten Fremden erblicke.

Keine Sorge, ich stellte die prall gefüllte Tüte auf den Stuhl, es gebe wahrlich schlimmere Zwangshandlungen, und die seinige sei durchaus nachvollziehbar. Ich wies auf die Tüte, die habe er laut Aussage seiner Frau so aus Royan zurückgebracht nach seinem dreimonatigen Weiterbildungsurlaub und seither offensichtlich nicht mehr angerührt. Ich überreichte ihm auch einen Brief, der in seinem Postfach lag. Postbote zu spielen zählte zwar nicht zu meinen Kernaufgaben, diente diesmal aber als praktischer Vorwand, ich wollte mit Marty besprechen, wie er mit den Inhalten seines Laptops umgehen solle, meines Erachtens eine heikle Angelegenheit.

Er riss den an Jean-Pierre Marty adressierten Brief auf. Das Gefühl, unrechtmäßig fremde Post zu lesen, verlasse ihn nicht. Briefpapier des Rektorats der Kantonsschule, unterschrieben von der Rektorin, die Jean-Pierre Marty duzte, eine offizielle Mitteilung, aber in herzlichem Tonfall, die beiden schienen sich seit Langem und bestens zu kennen. Seine Beurlaubung aus Krankheitsgründen sei vom Personalamt des Kantons bis nach den Herbstferien am 20. Oktober bestätigt worden, danach würde man weitersehen. Sie schicke ihm die Besserungswünsche aller Kolleginnen und Kollegen, man respektiere seinen Wunsch, keine Besuche zu erhalten. Marty rechnete, ihm blieben sechs Wochen. Entweder er würde die Gedächtnisblockade lösen oder genug über diesen Jean-Pierre Marty in Erfahrung bringen, um zu entscheiden, ob er dessen Leben weiterführen wolle. Was, wenn nicht? Gab es eine dritte Option, ein neues Leben ab achtundfünfzig ohne Erinnerung? Kann man die Zukunft gestalten, ohne eine Vergangenheit zu haben?

Er ließ sich in den Lehnstuhl fallen, die Finger strichen über den dunkelgrünen, an einigen Stellen abgewetzten Samt, immer gegen den Strich. Er sitze oft hier und betrachte sein Zimmer, ein helles Eckzimmer, auf der Südseite der große, gedeckte Balkon, auf der Westseite ein weiteres Fenster, durch das jetzt bereits die blasse Nachmittagssonne schien. Er traue seinem neuen Gedächtnis keine Sekunde und präge sich zum wiederholten Mal alle Details ein. Sein Kopf arbeite jetzt ohne Ballast der Erinnerungen logisch und effizient. Welch eine Ironie, nicht wahr.

Mein Blick fiel auf den Tisch, das Laptop lag in der Mitte, nach wie vor geschlossen. Wie er das Material sichten wolle? Gemäß Aussagen seiner Frau habe er auf dem Laptop immer schon eine Art Tagebuch geführt. Er müsse darauf gefasst sein, dass seine eigenen Texte, ganz besonders die Mails der vergangenen Monate, un­ter Umständen unerwartete Reaktionen provozieren könnten. Weiter wies ich ihn darauf hin, dass im Haus weder Mobiltelefone noch Laptops erlaubt, die Zimmer ohne Internetzugang seien. Sein Laptop habe er dank einer Ausnahmebewilligung erhalten, als Teil der Therapie. Und dass ich den Prozess des Auswertens eng zu begleiten wünsche.