Kafka und Felice

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Kafka und Felice

Roman


»Wie kam man nur auf den Gedanken,

dass Menschen durch Briefe mit einander

verkehren können! Man kann an einen

fernen Menschen denken und man kann

einen nahen Menschen fassen, alles andere

geht über Menschenkraft.«

Franz Kafka

Inhalt

Ein Brautkleid für Felice

Damals bei Brods

Post aus Prag

Fröhliche Weihnachten

Verschwörung der Frauen

Der Tänzer vom Silvesterball

Rendezvous mit Kleist

Ist das noch Berlin?

Das Frankfurter Schweigen

Allein auf Ruinen

Körper und Geist

Der verlorene Sohn

Schlaflos auf Sylt

Brief an den Schwiegervater

Deine Hand in meiner

Der Wille zum Glück

Hochzeitsvorbereitungen

Mazel tov zu Pfingsten

Vermittlung der Schlange

Wenn der Postmann nicht mehr klingelt

Franz im Blaubeerwald

Letzte Nacht in Marienbad

Liebesdienst im Scheunenviertel

Auf den Leib geschrieben

Doppelporträt mit schwarzer Handtasche

Begegnung in der Leipziger Straße

P. S.

Hinweise

Ein Brautkleid für Felice

Franz und Felice, zwei Namen wie erfunden füreinander. Mit der Aussicht auf die bevorstehende Hochzeit im kommenden Mai lässt sich sogar der Gedanke an den harten Berliner Winter ertragen. Mit dem unsteten Leben zwischen Postämtern und Bahnhöfen, auf Parkwegen und in Hotels wird endlich Schluss sein, wenn Franz erst in Berlin ist, für immer. Schönen Feierabend, Fräulein Bauer, ruft der Pförtner Felice aus seiner Loge zu, als sie das Gebäude der Technischen Werkstätten verlässt und hinaustritt auf die Markusstraße. ›Sprungbrett der Lustigkeit‹, so hatte Franz die letzte Arbeitsminute vor dem Büroschluss mal bezeichnet.

Felice geht gern zu Fuß durch die Straßen der Stadt, ihr knöchellanger Rock schwingt bei jedem Schritt auf den Granitplatten, die noch die Sommerwärme abstrahlen. Eine S-Bahn hält kreischend am Bahnhof Jannowitzbrücke, ein Eisenbahnzug dampft in Richtung Ostkreuz, unter der Spreebrücke zieht ein Apfelkahn dahin. Die Uhr auf dem Spittelmarkt zeigt halb fünf, Tauben umschwirren die Postmeilensäule auf dem Dönhoffplatz, in der Leipziger Straße herrscht Hochbetrieb. Den Läden auf dem prächtigen Einkaufsboulevard sieht man auf den ersten Blick nicht an, dass das Angebot jetzt im dritten Kriegsjahr 1917 äußerst eingeschränkt ist, dass es alles nur auf Marken gibt und die Konsumtempel zu Magazinen geworden sind, zu Verteilstellen für rationierte Waren. Erst abends, bei Einbruch der Dunkelheit, wirkt die Stille befremdlich, und es bleibt seltsam schummrig, denn die Geschäfte sind angehalten, bestenfalls eine Notbeleuchtung einzuschalten. Aber jetzt, am späten Nachmittag, fällt die Augustsonne schräg von Südwesten in die schnurgerade Straße und vergoldet die Fassaden. Die große Weltkugel auf dem Dach des Kaufhauses Tietz scheint sich zu drehen im Licht, Hermes, Gott der Kaufleute, reckt sein Haupt in den Himmel, üppige, halb nackte Frauengestalten füttern Greifvögel und zähmen Bestien in luftiger Höhe, Bären und Stiere, und hinter der spiegelnden Glasfassade schemenhaft die Parade kopfloser Kleiderständer. Felice Bauer träumt sich in ein Brautkleid hinein, das sie im Journal Die elegante Welt gesehen hat, ein schulterfreies Modell, eng anliegende Seide und ein üppiger, bodenlanger Volantrock aus Tüll. Aber nein, es ist vermessen, jetzt, wo selbst Kleidung nur auf Karte zu haben ist und zum Umarbeiten alter Kleider aufgefordert wird, an ein prächtiges Brautkleid zu denken, wer trägt denn Weiß in diesen Zeiten? Zahllos die Frauen in Schwarz, alte wie junge, Witwenschleier haben Konjunktur. Doch Träumen ist erlaubt. Dass Kersten & Tuteur im prächtigen Eckhaus Berlins erste Adresse für Damenmode ist, daran erinnert ein purpurrotes Kleid im Schaufenster wie ein Traum von besseren Zeiten. Ein farbiges Brautkleid wäre ein Ausdruck künftiger, neuer Lebensfreude; ohnehin ist es zu spät für unschuldiges Weiß.

Felice Bauer ist verlobt, zum zweiten Mal mit ein und demselben Mann, mit Franz Kafka, einem Schriftsteller aus Prag. Da er bislang kaum etwas veröffentlicht hat und weit davon entfernt ist, seinen Lebensunterhalt mit der Schreiberei zu verdienen, geschweige denn, damit eine Familie ernähren zu können, ist es beruhigend, dass er auch einen ordentlichen Beruf hat. Franz ist in solider Stellung bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen, falls es mit dem Schreiben nichts wird, lässt sich in Berlin notfalls an diese Vita anknüpfen. Dass er Beamter ist und sogar promovierter Jurist, beruhigt auch Felices Eltern. Ein Herr Doktor, das gibt es noch nicht in der Familie. Dass er außerdem stiller Teilhaber an einer Fabrik ist, die Asbest herstellt, bedeutet eine zusätzliche Absicherung. Franz Kafka kommt aus gutem Hause, der Vater ist ein tüchtiger Kaufmann, er führt ein Galanteriewarengeschäft im prächtigen Kinsky-Palais am Altstädter Ring, im Herzen Prags. Für Felice ist es vor allem ein Segen, dass Franz keine Soldatenuniform tragen muss. Seine Vorgesetzten sind ihm wohlgesonnen und schätzen sehr, dass ihr Mitarbeiter größte Sorgfalt selbst auf nüchterne und staubtrockene Texte verwendet, in denen er versicherungstechnische Vorgänge und Gefahren beschreiben muss, die von so unaussprechlichen Geräten wie Sicherheitshobelmesserwellen ausgehen. Franz legt jedes Wort auf die Goldwaage, als zuverlässiger Diener des Unternehmens ist er unabkömmlich, es kommt gar nicht infrage, den fragilen jungen Mann den Gefechtsmühlen an der Front auszuliefern. Für Franz indessen ist die Arbeit im Kontor nur eines von zwei Übeln. Er hasst den täglichen Trott der Büroarbeit, der ihm alle Kraft zum Schreiben absaugt. Lieber heute als morgen würde er seinen Beamtenposten hinschmeißen, um sich ausschließlich seiner größten Leidenschaft zu widmen, der Literatur.

Einen von Franz’ Briefen hat Felice auswendig im Kopf: »Meine Lebensweise ist nur auf das Schreiben hin eingerichtet und wenn sie Veränderungen erfährt so nur deshalb, um möglicher Weise dem Schreiben besser zu entsprechen, denn die Zeit ist kurz, die Kräfte sind klein, das Bureau ist ein Schrecken, die Wohnung ist laut und man muss sich mit Kunststücken durchzuwinden suchen, wenn es mit einem schönen geraden Leben nicht geht.«

Vor fünf Jahren, im November 1912, als Franz dies schrieb, da hatte Felice noch fest an einen schönen, geraden Lebensweg geglaubt, an eine gemeinsame Zukunft in den üblichen Verhältnissen, er der Ernährer, sie die Hausfrau, irgendwann Kinder. Doch ein bürgerliches Familienleben ist nichts für Franz, das hat sie längst eingesehen, und auch Felice liebt ihre Arbeit in der Firma mehr, als sie es sich früher eingestehen wollte. Auch als verheiratete Frau Kafka wird sie beruflich nicht zurückstecken, sondern weiter als Prokuristin tätig sein. Manchmal übt sie den neuen Namen schon auf dem Papier: Felice Kafka, mit freundlichen Grüßen.

Wie unendlich lange haben sie gebraucht, wie viele Briefe mussten zwischen Berlin und Prag hin und her gehen, um einander zu finden! Wohl kein anderes Brautpaar auf der Welt hatte eine solche Achterbahnfahrt hinter sich wie Franz und Felice.

Damals bei Brods

Am 13. August 1912 war Felice Bauer Dr. Franz Kafka zufällig im Hause der Familie Brod in der Prager Schalengasse begegnet. Sie war auf Durchreise nach Budapest und stattete Max Brod, mit dem sie um Ecken verwandt war – ihr Cousin hatte Max’ Schwester Sophie geheiratet –, am frühen Abend einen Besuch ab. Felice, der durch seine Brille etwas neunmalklug blickende Max, dessen jüngerer Bruder Otto und die Eltern Brod saßen beim Nachtmahl am Tisch, als es an der Tür läutete. Mit dem Eintreffen des seltsamen Herrn Kafka zu vorgerückter Stunde, neun Uhr war schon vorüber, empfand Felice sich unversehens als Störenfried. Der schriftstellernde Doktor war eigens hergekommen, um mit seinem Freund Max über Literatur zu sprechen, über sein Manuskript, das den Titel Betrachtung trug. Einen fremden, unerwarteten Gast in der Familie vorzufinden, schien ihm daher so gar nicht in den Kram zu passen. Und dass Otto später auch noch anfing, zur Unterhaltung der Gäste auf dem Klavier herumzuklimpern! Felice versuchte, ihre Verunsicherung zu verbergen, sie verschanzte sich hinter einer förmlichen Begrüßung des mit unhöflicher Gleichgültigkeit dreinblickenden Herrn Dr. Kafka, die jede Herzlichkeit vermissen ließ. Umso überraschter war Felice, als der alsbald auftaute und während des Essens Fotografien aus der Tasche zauberte, die jemand auf einer Fahrt mit dem Dampfschiff Thalia gemacht hatte, das neben anderen fernen Ländern auch Palästina ansteuerte. Felice legte das Besteck auf den Teller und schaute sich, vor allem erleichtert über die unvermittelte Lockerung des späten Gastes, aber durchaus mit Interesse, die Aufnahmen an, die er ihr über den Tisch hinüberreichte. Sie zeigten eine luxuriöse Schiffskabine und den stattlichen, weißen Dampfer, der vor einer malerischen Kulisse an der Küste Palästinas vor Anker lag. Unvorsichtigerweise prahlte Felice damit, dass sie angefangen habe, Hebräisch zu lernen, der Doktor fühlte ihr gleich auf den Zahn: Ob sie dann auch wisse, was der Name der Stadt Tel Aviv bedeute. Peinlich, Felice musste passen. Ihr Unwissen bedeute aber keineswegs, dass sie sich nicht für den Zionismus interessiere, schickte sie rasch hinterher, die Bewegung, die einen israelischen Staat in Palästina anstrebe, sei der beste Impuls gegen den Antisemitismus, der auch in Berlin immer wieder aufflamme. Max Brod pflichtete bei, seit er Martin Buber in Prag übers Judentum hatte sprechen hören, sei er ein glühender Anhänger des von Theodor Herzl 1897 ins Leben gerufenen Zionismus. Prager Deutsche und Tschechen waren sich nicht besonders grün, doch arrangierten sie sich zwangsläufig unter der Krone, und was sie einte, war der Hass auf die Juden, unter diesen Umständen erschien der Siedlungsgedanke im Nahen Osten wie ein Silberstreif am Horizont, Palästina, das klang wie ein magisches Zauberwort. Wie auf Kommando zog Kafka eine Ausgabe der gleichnamigen Zeitschrift aus der Tasche, und Felice traute ihren Ohren nicht, als der Fremde, den sie gerade eben kennengelernt hatte, ihr nun allen Ernstes eine gemeinsame Reise ins Gelobte Land vorschlug. Sie lächelte höflich, mit entwaffnender Geste streckte ihr Franz Kafka über den Tisch die Hand entgegen. Überrumpelt, leicht amüsiert und durchaus geschmeichelt durch diesen Überfall, schlug Felice ein.

 

Da Franz Kafka auch noch das jiddische Jargontheater ansprach, für dessen Tradition er sich interessierte, brachte Felice das Gespräch geschickt auf Berlin und die lustige Aufführung der Posse Das Autoliebchen, die sie neulich im Thalia-Theater in der Dresdener Straße gesehen hatte. Ja, das haben die Mädchen so gerne war ein Ohrwurm aus der Revue, der seitdem die Runde machte und auf Schellackplatte zu haben war. Kein Thema, das bei den Männern auf fruchtbaren Boden fiel, mit populären Possen schienen sie sich nicht abgeben zu wollen. Franz kannte das Theater von einem früheren Berlin-Besuch, hatte allerdings »mit einem Gähnen meines ganzen Menschen größer als die Bühnenöffnung« in dem prächtigen Saal gesessen. Das Duett aus dem Autoliebchen ging Felice aber nicht aus dem Kopf: ›Hat ein Jüngling sich erklärt, dass er Herz und Hand begehrt, heißt es: Nun mal flink den Verlobungsring!‹ Felice, die gern mal ein Liedchen anstimmte, verkniff es sich lieber, das schmissige Couplet hier in der ernsten literarischen Runde zum Besten zu geben.

Als Kafka seine drei Schwestern erwähnte, erzählte Felice ihrerseits von drei Schwestern, alle brünett wie sie, und von Ferdinand, genannt Ferri, ihrem einzigen Bruder, der sie, Felice rieb sich demonstrativ den Unterarm, als sei der Schmerz bis heute nicht von ihr gewichen, immer gehauen hatte, als er ein kleiner Junge war, so heftig, dass sie blaue Flecke davontrug. Ob der so wohlerzogen wirkende Herr Kafka seine Schwestern auch derart malträtiert hatte? Schwer vorstellbar, dass er nicht schon als Kind jene Ernsthaftigkeit ausgestrahlt hatte, mit der er auftrat. Frau Brod kümmerten weder Zionismus noch Berliner Revuen oder Geschwister; sie schwärmte den ganzen Abend vom schönen Batistkleid, das sie in Felices Hotelzimmer gesehen hatte, wo man sowas Feines in Prag wohl bekommen könne?

Zu Felices eher unbehaglichen Erinnerungen an den Abend bei Brods in Prag gehörten vor allem ihre durchnässten Schuhe, mit denen sie tagsüber durch den schrecklichen Dauerregen gelaufen war, bis hinauf auf den Hradschin, den ihr ein Prager Kollege trotz des Hundewetters unbedingt hatte zeigen wollen. Wie hatte sie bloß ihren Regenschirm in der Bahn vergessen können! Als das Geschirr abgeräumt wurde und sie ins Klavierzimmer wechselten, und als Felice sich vom Tisch erhoben hatte, fiel Herrn Kafkas verwunderter Blick auf ihr Schuhwerk: Sie trug die Pantoffeln der Frau Brod, weil die Stiefel austrocknen mussten. Etwas verlegen, weil sie glaubte, ihren leicht schlurfenden Gang erklären zu müssen, verriet Felice, dass sie zu Hause an Pantoffeln mit Absätzen gewöhnt sei. Dass es sowas wie Pantoffeln mit Absätzen überhaupt gab, löste bei Kafka große Verwunderung aus, offenbar hatte er sich trotz dreier Schwestern nie näher mit Damenpantoffeln befasst.

Im Klavierzimmer saß Felice Herrn Kafka direkt gegenüber, der nun endlich dazu kam, seine Manuskriptseiten auf dem Tisch auszubreiten, noch unentschieden, in welcher Reihenfolge er die einzelnen Erzählungen der Betrachtung präsentieren sollte. Ob das Stück mit dem Titel Das Unglück des Junggesellen vor dem stehen sollte, das Entlarvung eines Bauernfängers hieß, oder ob der Junggeselle besser ganz ans Ende gehöre und der Bauernfänger an den Anfang. Felice ließ die beiden Schriftsteller wissen, sie schriebe gern Manuskripte ab, vielleicht könne Max ihr gelegentlich ein wenig Arbeit schicken. Kafka schlug bei ihren Worten energisch mit der Hand auf den Tisch. In sein Gesicht trat ein erstaunter Ausdruck. Mit Frauen, die sich zutrauten, literarische Texte fehlerfrei zu kopieren, schien er noch keine Bekanntschaft gemacht zu haben. Auch hatte er bislang noch nichts veröffentlicht, blieb zu hoffen, dass er nicht den gleichen modischen Quatsch fabrizierte wie Max, Felice hatte sich schon mehrmals am expressionistischen Stil des schreibenden Verwandten die Zähne ausgebissen. Max lobte die Junggesellengeschichte seines Freundes, die kaum eine Seite lang war.

Felice warf einen Blick auf das Blatt mit Kafkas flüssiger Handschrift, und was sie las, ließ hoffen: »Es scheint so arg, Junggeselle zu bleiben, als alter Mann unter schwerer Wahrung der Würde um Aufnahme zu bitten, wenn man einen Abend mit Menschen verbringen will, krank zu sein und aus dem Winkel seines Bettes wochenlang das leere Zimmer anzusehen, immer vor dem Haustor Abschied zu nehmen, niemals neben seiner Frau sich die Treppe hinaufzudrängen, in seinem Zimmer nur Seitentüren zu haben, die in fremde Wohnungen führen, sein Nachtmahl in einer Hand nach Hause zu tragen, fremde Kinder anstaunen zu müssen und nicht immerfort wiederholen zu dürfen: ›Ich habe keine‹, sich im Aussehn und Benehmen nach ein oder zwei Junggesellen der Jugenderinnerungen auszubilden.«

Wenn ich diesen Text kopieren müsste, dachte Felice, würde ich mir vielleicht erlauben, aus dem einen langen Bandwurmsatz drei Sätze zu machen. Ein bisschen schwer zu folgen, bis endlich der Punkt am Ende kam. Worum es in dem Text ging, verstand Felice jedoch sehr gut, es ging um die Notwendigkeit zu heiraten. Es ging um nichts anderes als um das, was die Mädchen so gerne hatten.

Über der Frage, wie seine Betrachtung auf dem sichersten Wege zum Verleger Rowohlt gelange, wobei Max sich erfolgreich als zuverlässiger Sendbote anpries, hatte Otto sich ans Klavier gesetzt und zu spielen begonnen. Frau Brod duselte während des kleinen Hauskonzerts auf dem Kanapee ein und sah aus, als träumte sie vom Berliner Brokatkleid, der alte Herr Brod machte sich am Bücherregal zu schaffen, er schien einen bestimmten Band zu suchen. Das Gespräch kam unglücklicherweise auf Max’ Roman Schloss Nornepygge.

Den konnte ich leider nicht bis zu Ende lesen, gab Felice unumwunden arglos zu.

Das lange Schweigen, das ihrer Offenbarung folgte, klang so, als hätte Felice Max soeben einen Stümper geheißen, eine heillose Anmaßung. Diese konfuse Geschichte über einen ewig unentschiedenen Helden hatte Max vor vier Jahren als jungem Spund immerhin das Entrée in die eitlen Berliner Literatenkreise verschafft. Der Roman war aber wirklich schlecht, Felice ermüdeten die seitenweisen, angestrengt originellen Formulierungen, die sich zu keinem Sinn fügten, doch jetzt musste sie schleunigst zurückrudern.

Schon gut, Max, ich muss mir deinen Roman wirklich noch mal vornehmen, beeilte sie sich betont gelassen zu sagen, irgendwas muss ich da nicht begriffen haben.

Gottlob, da hatte sie gerade noch die Kurve gekriegt! Felice blätterte betont interessiert in dem Propyläen-Band mit Goethe-Darstellungen herum, den Max’ Vater ihr in den Schoß gelegt hatte, mit den Worten: Goethe, der Dichterfürst.

Felice suchte nach einer Steigerung: Er bleibt ein König auch in Unterhosen, kam es ihr über die Lippen.

Franz Kafka verzog bei diesem saloppen Spruch jäh das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Schon wieder ein Fettnäpfchen, die lauerten überall. In diesen hochsensiblen Literatenkreisen musste man höllisch aufpassen, was man so von sich gab. Der Unterhosen-Spruch stammte aus einer Märchenaufführung, die Felice vor einiger Zeit sehr gefallen hatte, aber der war jetzt wahrscheinlich wieder zu respektlos gewesen. Felice lenkte das Gespräch auf ebeneres Terrain. Sprach über ihre Arbeit in verantwortlicher Stelle als Prokuristin bei der namhaften Grammofonfabrik Lindström, über die Kolleginnen in der Registratur, die so flink tippen konnten, über die internationale Kundschaft des expandierenden Unternehmens. Brods und Kafka hörten aufmerksam zu. Mit den beruflichen Themen war sie immer auf der sicheren Seite.

Es war spät geworden, Felice hatte ihre Sachen im Hotelzimmer noch nicht zusammengepackt, wollte im Bett noch ein wenig lesen und drängte zum Aufbruch. Sie beeilte sich, die Pantoffeln loszuwerden und in ihre inzwischen im Flur getrockneten Stiefel zu schlüpfen. Du bist ja flink wie eine Gazelle, bemerkte Frau Brod. Felice setzte ihren Hut auf und befestigte ihn mit Nadeln an ihrer Steckfrisur. Herr Kafka ließ es sich nicht nehmen, Felice zusammen mit Max Brods Vater Adolf noch durch die dunklen Straßen in ihre Unterkunft, das Hotel Blauer Stern am Graben, zu begleiten, gegenüber vom Pulverturm.

Ob sie viel ausgehe in Berlin, fragte Kafka, mit einem Fuß im Rinnstein neben ihr herlaufend, und Felice verneinte, sie gehe aber, wie gesagt, hin und wieder ins Theater, und beim späten Nachhausekommen öffne ihr die Mutter auf lautes Händeklatschen hin die Tür. Offenbar kannte Kafka das neuartige Berliner System mit dem Durchstecker nicht, ein schwerer Schlüssel mit zwei Bärten, den man durchs Schloss schieben musste, um ins Haus hineinzukommen, und den sie ungern in ihrer Handtasche herumtrug. Adolf Brod fragte nach dem Straßenverkehr in Berlin, man höre ja einiges vom enormen Verkehrsaufkommen, und Felice erzählte von den in dichter Folge die Leipziger Straße hinunterfahrenden Elektrischen, nein, kein Vergleich mit dem beschaulichen Prag, wo sich auch die Anzahl von Automobilen in Grenzen hielt. Über den technischen Fortschritt redeten sie, über das Problem, dass in der Leipziger Straße immer öfter Kutschpferde durchgingen, die wegen der zunehmenden Elektrisierung erregt waren. An den Kreuzungspunkten stauten sich die Straßenbahnen oft derart, dass man ernsthaft darüber nachdenke, sie unter den Straßendamm zu verlegen, erklärte Felice dem Herrn Brod.

Vorm Hotel angekommen, komplimentierte ein Page Felice hinein, die Drehtür kreiselte, und statt, wie es sich vielleicht gehört hätte, einen Moment zu warten, zwängte sich Kafka, der seit der Schlüsselgeschichte schweigend neben Felice hergelaufen war, in dasselbe Abteil der Drehtür wie sie. Für einen kurzen Augenblick im Niemandsland zwischen draußen und drinnen, verharrten beide auf Tuchfühlung zwischen zwei Glasscheiben. Im Foyer überspielte Felice diesen peinlichen Moment, indem sie sich an den Pagen wandte, sie bräuchte keine Droschke morgen früh, sondern gehe gern zu Fuß zum Bahnhof, es sei ja nicht weit. Auf die Ankunft des Fahrstuhls wartend, erinnerte Herr Kafka Felice an ihr Reiseversprechen, ob sie es wirklich ernst meine damit.

 

Ich bin keine wankelmütige Person, ließ Felice ihn wissen und reichte ihm abermals die Hand, bevor die Fahrstuhltür sich zwischen ihnen schloss und Felice alleine nach oben fuhr. Im Zimmer sah sie sich im Spiegel an, ihre Steckfrisur sah ganz zerzupft aus. Dieser Doktor Kafka mit seinem forschenden Blick hatte sie so nervös gemacht, dass sie ständig mit den Händen in ihrem Haar herumgenestelt hatte.

Tags darauf, recht früh am Morgen, reiste Felice weiter zu ihrer Schwester Else. Die war seit zwei Jahren mit dem ungarisch-jüdischen Maler Bernát Braun verheiratet und junge Mutter, die kleine Gerda Vilma, von allen nur Muzzi genannt, zählte noch kein Jahr. Schon im Zug nach Budapest, als Felice ihr Frühstück im Speisewagen einnahm, verlor sie kaum einen Gedanken mehr an den Vorabend bei Brods und den etwas wunderlichen Herrn Kafka. Ihre Überlegungen kreisten angestrengt um die Frage, wie sie der Schwester, die sich in Ungarn noch nicht recht eingelebt hatte und sich ein wenig einsam fühlte, am besten unter die Arme greifen konnte.

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