Das Proust-ABC

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Aus der Reihe: Reclam Taschenbuch
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Das Proust-ABC
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Ulrike Sprenger

Proust-ABC

Vorwort von Alexander Kluge

Mit 7 Abbildungen

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: Raymond Moretti (1931–2005), Marcel Proust, Detail © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961828-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011327-1

www.reclam.de

Inhalt

  Vorwort

  Abraham

  Académie française

  Agostinelli, Alfred (1888–1914)

  Aimé

  Akazienallee

  Albaret, Céleste (geb. Gineste, 1891–1984)

  Albertine (Simonet)

  Alkohol

  Allegorie

  Allergie

  Alter

  Andrée

  Angst

  Antisemitismus

  Apfelbäume

  Aquarium

  Aristokratie

  Arzt

  Austern

  Auteuil

  Autobiographie

  Automobil

  Badeanzug

  Balbec

  Balzac, Honoré de (1799–1850)

  Bäume

  Bergotte

  Bergson, Henri (1859–1941)

  Berma

  Birne

  Bloch, Albert

  Botanik

  Bruder

  Camembert

  Cattleya

  Charlus oder Baron Palamède de Guermantes

  Chrysantheme

  Combray

  Competition, The All-England Summarize Proust

  Contre Sainte-Beuve

  Dreyfus

  Duell

  Ehe

  Eifersucht

  Eindruck, erster

  Eisenbahn

  Elstir

  Erinnerung, unwillkürliche

  Erinnerung, willkürliche/intellektuelle

  Erwachen

  Erzähler

  Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht

  Etymologie

  Europa

  Farben

  Film

  Firnis

  Fontäne

  François le Champi

  Françoise

  Fuller, Loïe (1862–1928)

  Gedichte

  Geld

  Genealogie

  Genoveva von Brabant

  Gewohnheit

  Gilbert der Böse

  Gilberte (Swann)

  Großmutter

  Guermantes, Basin Herzog von

  Guermantes, Gilbert Fürst von

  Guermantes, Marie-Hedwige oder Marie-Gilbert Fürstin von

  Guermantes, Oriane Herzogin von

  Haar

  Hermaphrodismus

  Homosexualität, männliche

  Homosexualität, weibliche

  Hut

  Huxley, Thomas Henry (1825–1895)

  Impressionismus

  Jasmin

  Jean Santeuil

  Joyce, James (1882–1941)

  Judentum

  Jupien

  Konversation

  Körper

  Krieg

  Kunst

  Kuss

  La Pérouse, Jean François de Galaup, comte de (1741–1788?)

  Laterna magica

 

  Leben nach dem Tod

  Lektüre

  Léonie, Tante

  Liebe

  Madeleine

  Martinville, Kirchtürme von

  Masturbation

  Metapher

  Mond

  Monokel

  Moralistik

  Musik

  Mutter

  Namen

  Nase

  Odette de Crécy, spätere Madame Swann

  Pflastersteine

  Qualle

  Regenmantel

  Ringleinspiel

  Roman

  Ruhm

  Saint-Loup-En-Bray, Robert Marquis de

  Sainte-Beuve, Charles Augustin (1804–1869)

  Salat aus Ananas und Trüffeln

  Salon

  Schlaf

  Schmetterling

  Schuhe

  Sessel

  Sévigné, Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de (1626–1696)

  Sex

  Sinne

  Snobismus

  Spargel

  Spitznamen

  Sprache

  Sprachschnitzer

  Stereoskop

  Stimme

  Strohmatte

  Swann, Charles

  Telefon

  Tochter

  Tod

  Traum

  Übersetzung

  Unstetigkeiten des Herzens

  Urämie

  Vater

  Venedig

  Vergessen

  Weißdorn

  Zeit, verlorene

  Zimmer

  Auswahlbibliographie

  Danksagung

Für meinen Vater Peter Ludolf Sprenger

Vorwort

Ein wesentlicher Teil der Moderne entstand und entsteht immer erneut aus der Ernsthaftigkeit von Verhältnissen und der Not. Dabei gibt es auch die Imitatio, die Verschiebung der Notzeit über die Generationen hinweg. Der Vater Marcel Prousts war ein Arzt. Er war verantwortlich für Frankreichs Abwehr der vierten und der fünften Attacke der Cholera. Eine seiner Antworten war die Quarantäne. Diese Abschottung wiederholt sich dann in den Räumen, in denen der Poet Marcel Proust, sein Sohn, lebte und arbeitete. Kork-Täfelung, schwere, schalldichte Vorhänge, Verdunkelung gegen die Werbewelt, Hysterie, die Elektrizität und Unruhe der Gegenwart: Davor schützt das abgeschottete Zimmer den Dichter. In dieser Trennung von der Aktualität gedeiht seine Einbildungskraft.

Die Quarantäne, die wir derzeit erleben, ist nicht freiwillig gewählt. Neben der Spiegelung des Ernstes der Lage ist eine solche Quarantäne aber auch heute ein »literarisch wirksames Instrument«. Die Abschottung begünstigt die Konzentration. Sie potenziert das Organ des Poetischen: die Introspektion. Es geht um die Neuordnung der Eindrücke, das Entstehen neuer Übersichtlichkeiten in den Labyrinthen der Erfahrung. Das ist das Thema von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Für den Dichter ist die Abschottung ein Instrument der Wahrnehmung. Wie eine der Optiken im aufkommenden Zeitalter des Stereoskops, der Fotografie und des Films.

Dem Gehäuse, in dem der Hieronymus Proust dichtet, und auch der Abgeschlossenheit, zu der wir derzeit gezwungen sind, entspricht, wie gesagt, der Cordon Sanitaire, den der Vater Marcel Prousts als Arzt entwarf. Er identifizierte Ägypten als Einfallstor der Erreger der Cholera. Er half, einen Ring der Abwehr zu errichten, reichend über Persien und Südrussland. Die Krankheit tötete die Hälfte der Befallenen.

Der verborgene Ort, die Höhle, die Bibliothek der inneren, mentalen und emotionalen Kontinuitäten, dieses ORGANON DER EINBILDUNGSKRAFT, in das sich der Sohn des Epidemiologen einschloss, ist ein öffentlicher Raum, in dem die intimen und die öffentlichen Erfahrungen ihre Orgien, ihre legitimen Heiraten, ihre One-Night-Stands vollziehen und zugleich ihre absolute Sehnsucht ausdrücken nach Kontinuität und nach Ewigkeit der Liebesverhältnisse. Das ist weder als Heterotopie noch als Utopie etwas Reales. Noch nie aber hat sich die Sehnsucht nach Realismus gerichtet.

Das Kind Marcel Proust, das kurze Zeit nach der Niederschlagung des Aufstands der Commune von 1871 in Paris geboren wird, ist kein Kind der Revolution. Proust ist konservativ strukturiert. Literarisch bleibt er aufsässig und rebellisch. Nach wie vor gilt meine Aufmerksamkeit dem Raum, in dem er schreibt, seinem Beobachtungsinstrument. Wie Proust arbeitet auch Johannes Kepler. Der Astronom war kurzsichtig. Allein durch das Fernrohr kann er seine Einsichten nicht gewonnen haben. Um die Ellipsenbahnen der Planeten zu bestimmen, kann er nicht auf seine beschädigten Augen vertraut haben, sondern er stützte sich auf seine Kenntnis der platonischen Körper und auf aristotelische und physikalische Bewegungsgesetze. Ähnlich Marcel Proust: Er erahnt, erspäht, kontextualisiert, füllt in Worte, setzt in Zusammenhang, was ihm die lebendige Erfahrung gebot. Er verwandelt die ihm anvertraute Erfahrungswelt (wie Ovid) in dauerhafte Texte.

Die Abwehr gegen die Attacken der Cholera erforderte schwere Schlachten. Den preußischen Behörden war diese Abwehr des tückischen Erregers in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts misslungen. Überall hatten die Behörden die Landesgrenze gesperrt. Die Flüsse und die Kanäle und die dortige Schifffahrt hatten sie übersehen. So drang der Erreger nach Berlin. Ein Strunk kalter Trauben, die der Philosoph Hegel eigentlich gar nicht begierig war zu essen, von denen er aber naschte, brachte den großen Philosophen um. Nur die fromme Lüge der Wahrheitssucher von der Humboldt-Universität zu Berlin, dem Tod Hegels liege keine Cholerainfektion zugrunde, und die Agitation seiner Frau Marie einschließlich Falschbehauptung, dass nichts von Cholera Ursache dieses Todes gewesen sei, bewahrten den berühmten Philosophen vor dem Massengrab mit Zutat von viel Kalk. Es hätte Marcel Proust sicher gefallen, dass hier ein Schwindel notwendig war, um den Mann vor dem Kalk im Massengrab zu bewahren. Das Massengrab mit Kalk ist Chiffre für das, was nach der Zeit Prousts an Schrecken in den 1940er Jahren im Osten Europas noch bevorstand.

Das PROUST-ABC von Ulrike Sprenger hat mich schon in der früheren Auflage entzückt. Bei der Einteilung der Genres der Literatur in Epik, Dramatik und Lyrik fehlt immer eine vierte Rubrik. Ist es die Kritik? Ist es etwas Unbekanntes, eine Neuerung? Was ist es? Ich bin überzeugt, dass das vierte Genre der Literatur mit Kommentierung zu tun hat. Kommentar, Sammlung, gründliche Untersuchung (wie sie die Brüder Grimm betrieben – »Das Poetische heißt sammeln«): Das ist das, was zu den drei Grundkategorien hinzutritt. Zu dieser Formenwelt gehört das Alphabet. Es dient nicht bloß der Aufzählung der Buchstaben. Es enthält einen Such-Algorithmus für das Sammeln, eine Chance der Gliederung und der Verkürzung. In den TV-Gesprächen, die ich mit Ulrike Sprenger, dieser eigensinnigen Ausgräberin poetischer Besonderheiten, führte, habe ich den vierten Begriff der Literatur immer wieder studieren können.

Das PROUST-ABC beginnt mit »A« wie Abraham, dann Académie française, Agostinelli, Aimé (das sind Liebhaber von Proust, in seinen Texten ins Weibliche transfiguriert), Akazienallee, Céleste Albaret (die letzte Haushälterin Prousts), Albertine (die erste und letzte Geliebte), Alkohol, Allegorie, Allergie, Alter, …, Angst, Apfelbäume, Aquarium, Arzt … Das ist nur ein Ausschnitt für den Buchstaben »A«. Ihm entspricht im Talmud und in der antiken Tradition Griechenlands das Alpha und somit auch die »dunkle Seite des Alpha«. Das ist der »verlorene Buchstabe«, nach dem die Poetik, aber auch die Menschheit, sucht. Man sieht, dass ein Überblick mit der optischen Verzerrung des Alphabets die Neugier weckt.

Bei »Z« finden wir in diesem PROUST-ABC nur zwei Eintragungen: »Zimmer« (siehe oben die Stichworte Quarantäne, Wahrnehmungsinstrument der Erfahrung, Cousin des Stereoskops, Dunkelkammer, Korkzimmer) und »Zeit, verlorene«. Das gehört schon zum Titel von Marcel Prousts Hauptwerk. Mit dem Raster des ABC lassen sich weite Ebenen und ganz knappe Grate und Gipfel einer literarischen Landschaft kartographieren. Das Buch, schlage ich vor, sollte der Leser wie eine Landkarte 1:300.000 lesen, der Karte in dem Maßstab, in die sich im ernsthaften Krieg die Generalstäbler und Leiter des Geschehens vertiefen.

Marcel Proust zeigt mir (neben so viel anderem), welche Autorität die Literatur besitzt. Ich illustriere das an einem Detail. Die Tochter des Komponisten Jacques Fromental Halévy hieß Geneviève Halévy. Proust war mit ihr vertraut. Geneviève Halévy wurde später die Frau von Georges Bizet. Nach dessen Tod heiratete sie einen reichen Mann aus dem Hause Rothschild. Das Ehepaar errichtete einen Palast im Zentrum von Paris, im Stil des Fin-de-Siècle. Diese Frau voller Gegenwart wurde bei Proust zur Herzogin von Guermantes und Hauptperson des zweiten Bandes seiner SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT. Es handelt sich um eine Jüdin. Sie ist neureich. Sie ist durch ihre Gegenwart charakterisiert. Bei Proust wird sie zum Juwel des französischen Uradels. Zu einem Diamanten der Vergangenheit, zurückreichend zu den Adelsfamilien, die das Königreich Jerusalem begründeten und später Zypern regierten. Damit schließt sich der Kreis zu der bezaubernden Oper des Vaters der Geneviève, Jacques Fromental Halévy, Die Königin von Zypern. Sie ist zugleich eine »Tochter der Republik Venedig«, eine Gründerin eines Intelligenzkreises der Renaissance. Nur poetische Autorität und textuelle Energie vermag in dieser Weise Namen und Lebensläufe zu transmutieren, Mythen zu schaffen und zu bezaubern.

 

Alles das geschieht bei Marcel Proust, wie schon gesagt, in Klausur. Wie ein Hieronymus im Gehäuse sitzt Marcel Proust in seiner kreativen Höhle. Wir Menschen sind Prärietiere, aber auch Höhlentiere. Nur in Verschlossenheit lassen sich Geist, Peripherie und Zentrum einer Zeit gleichzeitig einfangen. Wie Arachne, die Weberin aus Byzanz, die von der neidischen Konkurrentin Athene in eine Spinne verwandelt wurde, weil sie auf Kleidern die Geschichte ihrer Zeit schöner erzählte als die Göttin, »spinnt« Proust – bis zur Erschöpfung, unter Einsatz seines Lebens – in seinen dunklen Räumen.

Ein im positivsten Sinne »dienender« Text wie das PROUST- ABC, das uns diese erzählende Quelle auffindbar macht und in ihr navigiert, ist ein Geschenk. Er ist ein Lustgenerator für die Wissensbegierde. Ein solches ABC ergänzt auf wohltuende Art das, was Literatur von sich aus vermag. Wir erleben heute Literatur im Kontext der Algorithmenwelt von Silicon Valley: einer riesigen Überredungskunst und einer technischen Verfügungsgewalt. Am Gegenalgorithmus zu dieser Algorithmenwelt arbeiten die Patrioten der »Bibliothek von Alexandria«, die Liebhaber der Literatur. Der Gegenalgorithmus ist den allmächtigen Algorithmen nicht feindlich gesinnt, sondern fähig, einzudringen in die gewaltigen Leerräume, die die Algorithmen offenlassen. Algorithmen funktionieren wie die Hofhaltung im Märchen von Dornröschen. Das goldene Geschirr reicht gerade für 12 weise Frauen im Lande. Also wird die 13. Fee ausgeschlossen. Liebhaber der Literatur bleiben Anwälte der 13. Fee.

Ein ABC scheint zunächst ein technisches Instrument unserer Schriftkultur. Als solches ist es komplex, und im Baskischen funktioniert es anders als im Chinesischen. Dem Alphabet verwandt ist aber auch die DNA, die Schrift unseres Genoms. Wir tragen diese SCHRIFT AUS NUR VIER BUCHSTABEN täglich in uns, in unseren Zellen, in unserem Gehirn, in unseren Ohren und auch auf dem größten Organ, das wir besitzen, der Haut. Der Gegenspieler dieser DNA, ein nicht alphabetisierbares, robustes, primitives, aber dennoch intelligentes System, sind die RNA-Partikel, z. B. das die Quarantäne-Schranke setzende Coronavirus. Letztlich sind aber auch die Schreibweisen des Kosmos und der Quanten Schriften und Alphabete. In dieser Vielfalt als einem Ozean der Verständigungen bewegen sich die Flöße der Literatur. Man wünschte sich viele ABCs, viele Rhizome, deren Wurzeln zum Himmel weisen, hin zu den Texten.

Der abgeschottete Raum, in dem Marcel Proust dichtet und lebendig ist, ist wie ein Fernrohr und zugleich wie ein Mikroskop. Wie ein Innenohr verdichtet er die Töne. Wie in der Zelle eines Schreibers im 12. Jahrhundert sitzt der Autor in seinem abgeschlossenen Raum, seinem räumlichen und zeitlichen Erkenntnisinstrument, seiner astronautischen Laube. Ich glaube, dass unsere Zeit uns, auch mit dem Zeichen des Virus, den Gebrauch unserer Sinne und den Gebrauch der Schrift neu lehrt. Ich bin glücklich, das PROUST-ABC hier vorstellen zu dürfen: ein Instrument, so wichtig wie der Bleistift, wie ein Inhaltsverzeichnis, wie ein Notizblock für neue Einfälle.

Alexander Kluge, im Juni 2020

Abraham

Als der ►Erzähler im »Drama seines Zubettgehens« zu Beginn von Combray versucht, sich den ►Kuss der Mutter zu erzwingen, erscheint der drohend herannahende Vater in der Gestalt Abrahams: »Er stand noch vor uns, […] mit der Geste in dem Stich nach Benozzo Gozzoli, den mir Swann geschenkt hatte, als Abraham Sarah befiehlt, von Isaaks Seite zu weichen.« Es zeigt sich deutlich die zwiespältige Rolle, die der Vater im Roman spielt: Zwar erlaubt er Sohn und Mutter, den versäumten Gutenachtkuss nachzuholen, ja sogar die Nacht gemeinsam zu verbringen; seine willkürliche Entscheidung aber fördert die nervöse Schwäche des Sohnes und untergräbt die Erziehungsprinzipien von Mutter und Großmutter, die keine Ausnahmen dulden. Insofern opfert hier der Vater tatsächlich wie Abraham den eigenen Sohn: Er verschafft ihm augenblickliche Erleichterung und beendet seine Angst, leistet aber auch jener Schwäche Vorschub, die Marcel immer wieder an der Verwirklichung seines Romanprojekts hindern wird: »Von jenem Abend her, an dem meine Mutter einen Rückzug angetreten hatte, rührte, zugleich mit dem langsamen Tod meiner Großmutter, der Niedergang meines Willens, meiner Gesundheit. Alles hatte sich in dem Augenblick entschieden …«

Provokant wirkt diese Rollenverteilung im Drama des Zubettgehens auch, weil sie die religiöse Konstellation der Familie Proust umkehrt: Die geliebte jüdische Mutter wird im Roman zur Christin, der christliche Vater dagegen erscheint als bedrohliche alttestamentarische Figur. Hier findet die Tatsache Niederschlag, dass Proust sich zeit seines Lebens immer wieder damit auseinandersetzen musste, gleich zwei gesellschaftlich verachteten Minderheiten anzugehören: den Juden und den Homosexuellen. Der Roman hält das von Proust persönlich ungelöste Problem in der Schwebe, indem sich der Erzähler nie explizit zu ►Judentum oder ►Homosexualität bekennt, aber anhand zahlreicher Figuren sowohl den zeitgenössischen ►Antisemitismus als auch die Homophobie reflektiert.

Académie française

Die Académie française wurde 1635 unter Louis XIII von Kardinal Richelieu gegründet, mit der Absicht, die schon länger üblichen Zusammenkünfte berühmter Schriftsteller in eine feste Institution zu binden und dieser die Aufgabe zu übertragen, die Regeln der französischen Sprache verbindlich festzuhalten und ihre Einhaltung zu überwachen. Zu Prousts Zeiten bedeutete es – wie noch heute – die höchstmögliche Ehrung für einen Schriftsteller, Mitglied der Académie zu werden. Proust selbst hat gegen Ende seines Lebens Freunden gegenüber die Hoffnung formuliert, unter die 40 »Unsterblichen« – wie die Mitglieder sich nennen – aufgenommen zu werden. Das hindert ihn aber nicht daran, in seinem ►Roman die Académie als intrigante Institution zu entlarven, die ihre Mitglieder weniger nach literarischem Talent als nach korrekter politischer Orientierung und gesellschaftlichen Beziehungen auswählt. Einer der ehrfürchtigsten Bewunderer der Académie ist Norpois, der sich, ähnlich dem ►Vater des Erzählers, durch politischen Opportunismus und mangelndes Kunstverständnis auszeichnet: Er erkennt weder das Talent Bergottes noch das des künftigen Erzählers. In Bergottes Haltung zur Académie spiegelt sich Prousts eigene, die zeigt, dass auch das größte literarische Genie nicht vor Eitelkeit und ►Snobismus gefeit ist: »Ihm war deutlich geworden, dass er über Genie verfügte, aber er glaubte es nicht, denn er fuhr fort, Ehrerbietung gegenüber mittelmäßigen Schriftstellern zu heucheln, um bald Akademiemitglied zu werden, obwohl die Akademie oder der Faubourg Saint-Germain ebenso wenig mit jenem Teil des unsterblichen Geistes zu tun haben, der Bergottes Bücher geschrieben hat, wie mit dem Kausalitätsprinzip oder dem Gottesgedanken.« Die neuere Forschung zeigt, dass diese skeptische Haltung gegenüber dem künstlerischen Karrierestreben von Proust erst in der endgültigen Fassung des Romans stark betont wird, die frühen Texte und Entwürfe sich dagegen durchaus strategisch mit den Möglichkeiten einer Karriere als Autor beschäftigen.