Wenn Beziehungen graue Haare bekommen

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Ulrike Sammer

Wenn Beziehungen graue Haare bekommen


Ulrike Sammer

Wenn

Beziehungen

graue Haare

bekommen

aber trotzdem

spannend bleiben

Das Buch für die ältere Generation


Impressum


1. Auflage 2018

© Spirit Rainbow Verlag

UG haftungsbeschränkt

www.spirit-rainbow-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druck- & Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Print:

ISBN-10: 3-940700-84-3

ISBN-13: 978-3-940700-84-1

e-Book:

ISBN-10: 3-948108-24-2

ISBN-13: 978-3-948108-24-3


Man kann dem Leben nicht mehr Tage geben,

aber dem Tage mehr Leben.

(Nossrat Peseschkian, der Begründer der Positiven Psychotherapie)

Ein Wort zuvor

In meiner psychotherapeutischen Arbeit lernte ich immer wieder viele Leute kennen, die behaupten, dass Liebe ein Ablaufdatum hat. Viele Menschen glauben, dass dies eine »eherne Regel« jedes Paarlebens ist. Natürlich haben sie diese Erfahrung bei sich selbst gemacht. Und sie haben gewissermaßen auch Recht: Liebe, die nicht gepflegt und an der nicht gearbeitet wird, nimmt auch tatsächlich ab! Der gleiche Prozess ist auch bei einer Blume zu beobachten. Eine Blume, die nicht gegossen wird, verwelkt.

Ich habe allerdings in meiner eigenen, jahrzehntelangen Ehe ganz andere Erfahrungen gemacht!

Das bedeutet: Es gibt keinen Grund für Verallgemeinerungen in der Liebe. Denn siehe da: die Liebe kann auch über viele Jahrzehnte wachsen! Also muss der Liebe etwas innewohnen, das nicht nur unverbrauchbar, sondern sich auch auf wundersame Weise vermehren kann. Es gibt offenbar eine Kraft, die man aufbauen kann. Man kann sich sozusagen »hinauflieben«, das heißt seine eigene Persönlichkeit, Reife und Stärke gemeinsam entwickeln.

Man kann diese Kraft aber auch vermindern. Neben Vernachlässigung wirken sich ständiges Denken an Neid, Hass, Wut, Eifersucht, Geiz und andere zersetzende Gefühle sehr negativ aus: die Kraft der Liebe wird gleichsam abgebaut.

Wie wir es schaffen, die Liebe lebendig zu erhalten, erfahren wir im dritten Teil des Buches. Zuvor wenden wir uns aber den Menschen zu, um die es hier geht. Wer sind denn überhaupt die Frauen und Männer, die heute »Beziehungen mit grauen Haaren« haben?

Tatsache ist, dass sich die Alterspyramide in den vergangenen Jahrzehnten gewaltig verändert hat. Die Zahl der Älteren nimmt zu und wird in näherer Zukunft zu einer beachtlichen Größe ansteigen. Die heutige »55+ Generation« wird zurzeit aber von der Entwicklung und der Technik überrollt. Sie werden mit einer Situation konfrontiert, die es vorher noch nie gab. Zu keiner Zeit hat sich die Welt so rasant auf allen Ebenen verändert. Der Mensch ist nicht dafür ausgerüstet, sich so schnell umzustellen, denn dafür gibt es keine Modelle und Vorbilder.

Die »Älteren« sind natürlich zum größten Teil ein Produkt der Strömungen und Haltungen der vergangenen Epoche. Sie wurden durch Rollen­muster geprägt, die sie nicht so leicht ablegen können. Diese alten Rollen finden ihre Auswirkungen heute im Verhalten und in den Beziehungen der Älteren.

Um die Muster besser zu verstehen, werfen wir einen Blick auf das gesellschaftliche Umfeld des letzten Jahrhunderts.

Wie waren die Zeitströmungen, die Paare durchlebten, die im oder nach dem Krieg geboren wurden? Wie schaffen es diese Menschen in der total veränderten Welt ihre Beziehung immer wieder neu zu transformieren? Welchen Wandel haben die heutigen Älteren, seit der Zeit nach dem 2.Weltkrieg, erlebt? Wie konnten sie mit diesem Wandel im Wertesystem, im Zeitgeist und besonders in den Geschlechterrollen umgehen?

Welche Rollenbilder mussten sie hinter sich lassen und andere, neue aufbauen?

Welche speziellen Erfahrungen haben sie gemacht?

Wie erleben sie ihren Alltag in der zu Ende gehenden Berufstätigkeit und in der Pension?

Wie gehen sie mit dem Verlust ihrer Wichtigkeit um, wenn die beruf­liche Stellung wegfällt?

Was hat der Abbau der speziellen Hormone bewirkt und wie hat sich der Sex verändert?

Welche neuen Gefühle und vor allem: Welche Ängste tauchen nun auf?

Wie hat sich das Miteinander der Menschen im Laufe der letzten Jahrzehnte geändert?

Wie kann man ein neues, gemeinsames Leben gestalten?

Wie kann man aber auch genügend Möglichkeit zum Eigenleben und zur Erfüllung alter Wünsche einräumen?

Und schließlich: Was kann man zum eigenen Glück selbst beisteuern, sodass die Beziehung lebendig und spannend bleibt?


A. Was sind denn das für Menschen,

die jetzt die sogenannten Älteren sind?

Die Grammatik versagt am Punkt der Steigerungsstufen: Bei den Menschen heißt es nicht alt – älter – am ältesten, sondern jung – älter – alt.

Grenzen wir nun einmal ein, wen die Werbung meint, wenn sie von den Älteren spricht. Für manche ist 50+, für andere ist 55+ der Beginn für dieses Rollenfach. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO ist man ab 61 Jahren älter. Dort ist zwar das Ende dieser Periode mit 75 Jahren angegeben, aber im allgemeinen Sprachgebrauch richtet es sich eher nach der persönlichen Befindlichkeit, wann man sich zu den Alten zählt. Wer sich noch aktiv am Leben beteiligt und noch nicht in die Demenz abgeglitten ist, gehört demnach zu dieser Altersgruppe, die immer mehr als eine lohnende Zielgruppe für alle möglichen Aktivitäten angesehen wird. Man will doch noch etwas vom Leben haben und das mühsam Ersparte genießen, solange es möglich ist.

Genau dieser Gruppe wollen wir uns auch hier zuwenden – also im Kern 55 bis 75, aber zu beiden Seiten erweiterbar.

In dieser Altersgruppe findet man immer wieder Paare (gleichgültig ob heterosexuelle oder homosexuelle), die offenbar sehr glücklich miteinander sind. Aber es gibt auch eine größere Anzahl von Beziehungen, die zusammenbleiben, obwohl ihre Partnerschaft im Grunde nur eine leere Hülle ist.

Was unterscheidet sie voneinander? Was sind ihre Motive des Zusammenlebens?

Wie wir sehen, hat es in den letzten 70 Jahren einen derart rasanten Wertewandel, wie kaum jemals zuvor, gegeben.

Wie war das für jeden einzelnen zu verkraften und wie waren die Auswirkungen auf die Beziehungen?

Um dieser Frage näher zu kommen, müssen wir uns deshalb ansehen, wie die Menschen dieser Altersgruppe aufgewachsen sind.


1. Wie hat sich die Welt doch geändert!

Der Zeitgeist und das Wertesystem in rasantem Fluss

Viele Werte haben grundsätzlich irgendwann im Leben ausgedient. Ein besonders rasches Ablaufdatum hatten sie jedoch im vergangenen Jahrhundert. Wer das nicht merkte oder merkt und an den alten Werten festhält, sieht sehr schnell alt aus.

Die Generation der heute Älteren hat vermutlich eine der emotional und geistig schwierigsten Epochen erlebt. Es gab zwar sicher frühere Zeiten, die körperlich anstrengender waren und in denen es mehr Armut gab – aber zu keiner Zeit musste man wandlungsfähiger sein und war daher auf einer ganz anderen Ebene sehr oft überfordert.

Die heutigen Älteren sind alle im oder nach dem 2. Weltkrieg geboren worden. Nach einer Zeit des kulturellen Stillstandes, nach dem Verarbeiten des Schockzustandes durch das Naziregime und der allgemeinen Zerstörung hat sich zuerst langsam, dann aber in immer schnellerem Tempo ein Wandel in Gang gesetzt, der vielen Menschen zu schaffen machte.


Emotionale Vernachlässigung und ihre Folgen

Zunächst einmal gab es Krieg. Kaum eine Familie kam ohne Verluste an Familienmitgliedern und/oder Besitz davon. Diese Trauerfälle und Wunden mussten erst einmal verdaut werden. Wir wissen, wie diese Verluste, die am Lebensanfang der heute Älteren standen, meist tiefe Irritationen in der Psyche der Kinder hinterließen. Die Erwachsenen waren in der Regel so mit ihren Sorgen, ihren Problemen und ihrer Trauer beschäftigt, dass sie die psychische Not und vor allem die Bedürftigkeit der Kinder häufig nicht erkannten. Das Seelenleben der Nachkommen geriet aus ihrem Blickfeld. Man muss daher annehmen, dass die Kriegs- und Nachkriegskinder zum größten Teil aus Not emotional vernachlässigt wurden. Später versuchten sie ihren Kummer zu schlucken, um ihre Eltern nicht weiter zu belasten. Tatsächlich waren die psychischen Wunden aber nicht verschwunden – nur weil niemand darüber sprach. Sehr spezielle Ängste, die »Verlustängste«, waren häufig die Folge davon. Grundsätzlich: wenn Kinder durch missliche Lebensumstände aus der Geborgenheit herausgefallen sind, können sich Ängste entwickeln, die im späteren erwachsenen Leben große Probleme in Beziehungen verursachen. Zum Beispiel:

Peter macht alles – nur um nicht allein zu sein. Er will unter allen Umständen jemanden bei sich haben, der sich vollkommen auf die Beziehung mit ihm einlässt und sich auf ihn konzentriert! Peter errichtet daher eine Art »Käfig« der Zweisamkeit um ihn und seine Partnerin. Meist sitzen die beiden zu Hause, denn Peter fehlt die Lust, etwas mit seiner Freundin zu unternehmen. Diese Isolation ist der einzige Weg für ihn zu entspannen. Sobald äußere Einflüsse vorhanden sind, wittert er Hunderte von »Gefahren« und ist ständig eifersüchtig. Natürlich merkt Peter, dass sein Verhalten seine Freundin langsam aber sicher abstößt. Er ahnt, dass das Ende der Partnerschaft nicht mehr weit ist, aber er kann nichts dagegen tun.

 

Elke leidet besonders, wenn sie allein ist. Sie hat aber keine Ahnung, dass ihre Schwierigkeiten aus der Zeit herrühren, als sie als kleines Kind »durch den Rost« der Aufmerksamkeit gefallen war. Elke versucht nun, eine Beziehung aufrecht zu erhalten, in der sich ihr Mann für sie verantwortlich fühlt. Das scheint die Gefahr des Verlassenwerdens zu verringern. Um Abhängigkeit zu erzeugen, ist Elke äußerst erfinderisch. Sie appelliert an die Schuldgefühle ihres Mannes, indem sie bei drohender Trennung krank und betreuungsbedürftig wird.

Gerade in der Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder lagen die ersten Lebensjahre unter einem besonders ungünstigen Stern und hatten entsprechende Auswirkungen.


Improvisieren in der Armut

Die meisten Menschen lebten in den 40-er Jahren äußerst einfach oder überhaupt in Armut. Nachdem es allen Menschen ähnlich erging, hatten die Kinder keine Probleme damit. Sie kannten es nicht anders, als dass Kleidung und Spielsachen Mangelware und das Essen eher karg waren. Die Ansprüche hielten sich in Grenzen.

Die Kinder von damals lernten sogar etwas, das überaus nützlich ist und der heutigen Kindergeneration meist abgeht: Sie mussten lernen zu improvisieren. So bastelten sie sich ihr Spielzeug selbst, verfertigten aus Stoffresten Bälle (die man damals bei uns »Fetzenlaberln« nannte) und Puppen oder fertigten aus Moos und Rinde kleine Häuser. Sie spielten hauptsächlich im Freien Gruppenspiele (wie »Räuber und Gendarm«) und zu Hause musste Mutters Deckel vom Kochtopf als Lenkrad für das vorgestellte Auto herhalten. Die Kinder entwickelten dadurch eine große Por­tion an Phantasie und Kreativität.

Die heutigen Kinder, vor ihren Computerspielen, könnten sie dafür beneiden…


Zeit der Verlogenheit

Nach dem zweiten Weltkrieg gab es noch viele Reste des meist christ­lichen, konservativen Gedankenguts aus der Zwischenkriegszeit (in der es in Wien einen Bürgerkrieg zwischen der Arbeiterbewegung und dem politischen Katholizismus gegeben hatte). Darüber hinaus gab es viele Ex-Nazis und Mitläufer (auch Lehrer), die nicht daran interessiert waren, die Vergangenheit kritisch zu beleuchten und aufzuarbeiten. Man stieg sofort in den Wiederaufbau und später in den Konsum ein und stellte sich keine Fragen bezüglich der eigenen Geschichte.

Nach all den Schrecken und innerlichen Konflikten der letzten Jahre, hatte man ein unglaubliches Bedürfnis nach »heiler Welt«. In dieser Zeit entstanden etliche Heimatfilme und Musikrevuen, die überaus beliebt waren. Dieses Klima, von Verleugnung geprägt, war naturgemäß äußerst fortschrittsfeindlich gegenüber allen denkenden und kritischen Elementen. Die moderne Kunst wurde diffamiert, es galt nur traditionelle Literatur und Malerei. Besonders die christlichen Kreise kämpften gegen die Intellektuellen (vielleicht auch deshalb, weil Wien seit etlichen Jahren vor dem Krieg vom intellektuellen Judentum geprägt war).

Wo es keine Verlogenheit gab, wurde zumindest hartnäckig geschwiegen.

Was bedeutete es, wenn die ganze Nachkriegsgeneration mit Schweigen und Verdrängen konfrontiert und geformt wurde? In der Rückschau, die sich um Vergangenheitsbewältigung bemüht, und in der Psycho­therapie, erlebt man häufig »Brüche« in den Biographien: Die Geschichten der Vergangenheit passen irgendwie nicht zusammen. Sie werden zwar individuell komplettiert, stimmen aber offensichtlich nicht. Erinnerte Miniszenen werden aufgebauscht und in Zusammenhänge gebracht, die dem Selbstbild gut tun.

Es gibt dramatische und meist nicht bewusste Auswirkungen in der Sicht auf die Vergangenheit, blinde Flecken, an die man sich gewöhnt hatte, in der gesamten Nachkriegsgeneration. Erwiesenermaßen haben zumindest Deutschland, Israel und Österreich solche »traumatisierten Gesellschaften«.

Ursula hatte zeitlebens ein sonderbares Gefühl, als wenn es große Geheimnisse geben würde. In Träumen findet sie zum Beispiel Leichen im eigenen Garten und muss sie unter schwierigen Umständen verstecken. Ursula, die sich besonders der Wahrheit verpflichtet fühlt und niemals lügt, hat keine Idee, woher diese Aura der Heimlichkeit kommt. Erst spät beginnt sie zu vermuten, dass es in ihrer Kindheit eine ständige Atmosphäre der Verschwiegenheit gab. Die Erwachsenen wussten offenbar Vieles aus den vergangenen Gräuel-Jahren, worüber sie ganz sicher kein »Sterbenswörtchen« ausplaudern wollten.


So war die Erziehung: autoritär, christlich geprägt, sexuell rigide und in fixen Rollenbildern

Die Kinder, die in den 40ern und 50ern groß geworden sind, wurden eindeutig autoritär-hierarchisch erzogen. Es gab keine andere Erziehungsform als dieses Auslaufmodell als Reste der Monarchie. Alle Kinder wurden in das bestehende rigide Normensystem von Kirche und Staat eingeführt. Dem hatten sich alle zu unterwerfen. Kritik war unerwünscht. In einem Erziehungsstil, der gerne an »ehernen« Regeln festhielt, wurde nicht hinterfragt, ob diese Regel auch wirklich noch sinnvoll war. Fragen waren verpönt, denn es sollte nichts angezweifelt werden. In der Folge gewöhnten sich die Kinder ab, Fragen zu stellen, manchmal sogar eigenständig zu denken. Selbst wenn ein Kind das Glück hatte, liberale Eltern zu haben, war das gesamte Umfeld in Schule und Kirche autoritär geprägt. Die christlichen Kirchen (in Österreich der Katholizismus) waren mächtig und gaben die moralischen Normen vor. Das »Lustprinzip« war noch lange kein Thema. Natürlich war die karge Nachkriegszeit von den Parolen »Nur die Harten kommen durch!«, »Ärmel aufkrempeln« und »Zähne zusammen beißen« bestimmt. (Dass es den späteren Älteren gelang, schwierige Studien, harte Ausbildungen und mühsame Berufsjahre durchzuhalten, kommt allerdings vielleicht daher, dass sie zu einer großen Portion Selbstdisziplin erzogen wurden: ein nicht zu verachtender Lerneffekt).

Auch in der Sexualität, die ohne wirkungsvolle, verlässliche Verhütungsmittel auskommen musste, hieß es eher Beherrschung zu lernen, als mit Lust umzugehen. Dazu passend waren die katholischen Moralvorstellungen, dass Sex vor der Ehe sündhaft und daher unerwünscht war. Auch Onanie wurde »verteufelt« – und das Gewissen war engmaschig.

Die Kinder trauten sich nicht danach zu fragen, wo die Babys herkamen. Die Sexualität war in der bürgerlichen Gesellschaft etwas so Verpöntes, dass es unaussprechlich war.

Schließlich gab es noch diese fatalen Rollenzuschreibungen: Durch eine starre Erziehung, die für flexible Lösungen der Alltagsaufgaben keinen Raum ließ, entstanden fixe Muster. Gerade diese machten es den Menschen dieser Generation später so schwer, mit der rasant vorwärts­eilenden Entwicklung standzuhalten.


Wie ging es weiter?

In den 50er Jahren widmete man sich dem Aufbau nach dem Krieg. Man lebte genügsam, aber rundherum begann die Wirtschaft aufzublühen. Ein gewisser Optimismus machte sich breit. Die Erfahrung, dass alles besser werden kann, wenn man nur miteinander am selben Strang zieht, war durchaus prägend. Allerdings ging es fast ausschließlich um Materielles. Man erfreute sich der kleinen Dinge, die man sich nach und nach leisten konnte und jagte ihnen hinterher.

Manche Menschen dieser Generation blieben an diesem Konsumdenken auch in den weiteren Jahrzehnten hängen, obwohl der Nachhol­bedarf längst befriedigt war.

Die geschilderten weiteren Entwicklungen betrafen in der Folge nicht alle Kreise der Bevölkerung. Manche Menschen konnten sich gegen den Sturm des Zeitgeists schützen oder verweigern. Ihre Motive waren unterschiedlich: Manche waren stur und engstirnig. Andere waren ängstlich oder pessimistisch. Einige waren jedenfalls tief überzeugt, dass alles Neue abzulehnen sei. Sie alle hielten an den konservativen Werten fest, versuchten das Althergebrachte möglichst lange zu konservieren, verpassten aber schneller als gedacht den Anschluss an die neuen Zeiten. In einigen Berufen konnten sie trotzdem sehr gut weiterleben wie bisher: Hausfrauen, Bauern, kleine Familienbetriebe und dergleichen hatten keine wirklichen Notwendigkeiten sich mit den Zeitströmungen auseinander zu setzen. (Es sei denn, die nächste Generation drängte zum Umdenken).

Anfang der 60er Jahre war das intellektuelle Klima insgesamt noch sehr engstirnig. Umso radikaler musste der Ausbruch aus diesem Gefängnis sein.

Der Rückstau der nicht gelösten Probleme war um 1968 so groß, dass gleichzeitig an vielen Stellen der Damm brach: an den Universitäten, in allen Kunstrichtungen, in der Familienpolitik und bei der Gleichberechtigung der Frau.

Bruno Kreisky war in Österreich (wie Willy Brandt in Deutschland) eine wichtige Gallionsfigur der politischen Erneuerung. Im Zuge der 68er-Welle gab es eine ganze Reihe interessanter Versuche zur Beseitigung der starren Vorurteile. Durch die öffentlich geführte Diskussion der Werte und Rollen veränderte sich Einiges. Obwohl Frauen jetzt noch vielerorts diskriminiert wurden, haben sie sich doch einen weitaus größeren Spielraum als früher in der Gesellschaft erarbeitet.

Der »Wiener Aktionismus« griff zu drastischen Mitteln der Zerstörung der bürgerlichen Kleinfamilie und der fälligen Enttabuisierung der Sexualität und bewirkte schließlich eine Öffnung der Kunstszene.

Auch der Erziehungsstil änderte sich – zumindest bei den risikofreudigen, städtischen Intellektuellen. Die Schulregeln wurden von allen Kindern und Lehrern gleichberechtigt ausgehandelt. Es entstand die selbstregulative Erziehung. Langsam kamen auch Wohngemeinschaften als neue Lebensform auf.

Kinder sollten gleichrangig mitbestimmen und auf diese Weise erfahren, was sie wirklich wollen. Dieses neue demokratische Familienleben war ungeheuer anstrengend für die Eltern (die ja noch ganz anders erzogen wurden) und ging oft bis über ihre Grenzen hinaus. Manchmal wünschten sie sich, dass ihre Meinung mehr galt, als die der Kinder. Früher galt sie nichts, weil ein Kind nichts zu sagen hatte und jetzt galt sie auch nicht sehr viel, da die Anhänger dieser neuen Richtung einen so hohen demokratischen Anspruch hatten. Viele waren mit sich und der Umwelt in einem ständigen Konflikt, wollten es aber besser, moderner, durchdachter, engagierter als in den früheren Zeiten machen.

Rundherum gab es natürlich noch genügend autoritäre Familien und das Schulsystem hinkte viele Jahre hinterher.

In der zweiten Hälfte der 60-er Jahre kam eine sexuelle Befreiung auf. Die Pille ermöglichte erstmalig den Frauen »über ihren Bauch« zu entscheiden. Der Umgang mit der Lust und mit neuen Formen des Zusammenlebens, wie zum Beispiel in Wohngemeinschaften, war zum Teil noch ziemlich verkrampft, aber allenfalls interessant. In den experimentierfreudigen Kreisen waren Eifersucht und sämtliche Besitzansprüche an einen Partner verpönt. Auf der anderen Seite hielten konservative Gruppen an der »heiligen Ehe« fest.

Die 70er erweiterten die kritische Haltung. Nun kam man (vor allem in der nachkommenden Generation) darauf, wie viel Verkrustetes in der Gesellschaft angewachsen war. Es gab eine wahre Lust am Demonstrieren – endlich durfte man öffentlich sagen, was man dachte und man konnte auch wirkungsvoll provozieren. Welche Befreiung!

Die Emanzipationsbewegung der Frauen eckte zwar sehr oft an, aber sie konnte vieles für die Schieflage der Rechte zwischen Männern und Frauen erreichen. Die Gleichstellung wurde endlich per Gesetz verfügt (wenn auch die Umsetzung bis heute nicht ganz erreicht wurde!).

Die 80er brachten den Übergang vom Industriezeitalter zum Informationszeitalter durch die fortschreitende Computertechnologie. Auch die Verbreitung der Heimcomputer trug zur Popularisierung der Informationstechnologie bei. Was bedeutete dieser Umstand für die Nachkriegsgeneration, die sich nun mitten in ihrem Berufsleben befand? Sie war durch eine Ausbildung gegangen, die sich noch traditioneller Mittel bedient hatte. Plötzlich gab es Anforderungen im Job, die sich radikal unterschieden. Viele Betroffene mussten sich von heute auf morgen auf die neue Technologie umstellen, viele sind jedoch auch an ihr gescheitert. Alles an Dokumentationen, Verrechnungen, an Kommunikationswegen und dergleichen, das bisher gut funktioniert hatte, war hoffnungslos veraltet. Dieser »Alterungsschub« derer, die nicht mitkonnten, hatte große psychische Wunden hinterlassen.

 

Arnold war ein Fachmann auf seinem Gebiet und wurde bisher in seinem Konzern für die jahrzehntelange Erfahrung sehr geschätzt. Er leitete eine Abteilung und fühlte sich geachtet. Da passierte es innerhalb von kurzer Zeit, dass eine Reihe neuer Mitarbeiter aufgenommen wurden, die eine völlig andere Einschulung und Vorbereitung durchlaufen hatten. Sie konnten hervorragend mit allen technischen Einrichtungen umgehen. Sie zeigten zwar nicht offen ihre Überlegenheit gegenüber »dem Alten«, aber irgendwie spürte Arnold, dass er trotz seiner Kenntnisse nicht mehr gefragt war. Lebenserfahrung galt plötzlich nicht mehr. Das Selbstbild und der Selbstwert Arnolds, der in Bezug auf den Mail-Verkehr, auf den »elektronischen Akt« und aufs Internet vollständig von seiner Sekretärin abhängig war, brach von einem Tag auf den anderen ein.

Eine weitere Überforderung betraf den ehefeindlichen Zeitgeist der 1980er Jahre. Autonomie wurde zum obersten Ziel erklärt und mancherorts wurde der »Tod der Ehe« verkündet. Im Zuge der damals beliebten Psychologisierung der Beziehungen, glaubten sich manche Menschen durch die Publikationen des bekannten Paartherapeuten Jürg Willi in ihren falsch interpretierten und verzerrten Überzeugungen bestätigt, dass Ehen vor allem durch neurotische Kollusionen zusammengehalten werden. Die Kollusion fixiert beide Partner auf ein Verhalten, dass ihr persönliches Wachstum behindert – dies führt früher oder später zum Konflikt.

Inzwischen ist zwar ein gesellschaftlicher Wandel eingetreten und die Ehe steht wieder höher im Kurs, aber damals wurde eine Menge »Porzellan zerschlagen«.

Die 90er-Jahre verstärkten noch die Überforderung im Beruf durch die neuen Anforderungen. Die jüngeren Mitarbeiter, die alle eine PC-Ausbildung durchlaufen haben, sahen (teils mit Recht) verächtlich auf die Alten herunter. Niemals in der Geschichte zuvor gab es eine derart schnelle Abwertung der jahrelang gesammelten Kenntnisse. Darüber hinaus wurden in Zeiten der zunehmenden Globalisierung gute Fremdsprachenkenntnisse wesentlich wichtiger als früher. Ein paar Jahrzehnte zuvor konnten selbst hohe Politiker nur sehr mangelhaft fremde Sprachen sprechen. Das Anforderungsprofil für die Mitarbeiter änderte sich also in schnellem Tempo und wertete die Nachkriegsgeneration in einem frustrierenden Maß ab. Wen wundert es, dass diese sich zusehends nach dem Ruhestand sehnten?

Die Nuller-Jahre schließlich brachten außer dem Börsenkrach für die meisten der Älteren einen Rückzug (dem wir uns etwas später noch widmen werden). Dieses Abtreten von der Bühne der Entscheidungsträger war zwar für viele herbeigewünscht, aber trotzdem war es mit etlichen seelischen Schmerzen verbunden.


2. Der Wandel der Geschlechterrollen

Uralte Meinungen prägten das Bild der Frauen und der Männer

Die »Ältere Generation« hatte die meiste Zeit ihres Lebens, und vor allem in ihrer Kindheit, sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen. Von Mädchen und Buben erwartete man ein ganz bestimmtes und völlig anderes Rollenverhalten.

Gehen wir aber noch einen kleinen Schritt zurück:

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sich alle denkenden Kräfte (egal ob männliche oder weibliche) darüber klar, dass die Frau weniger wert als der Mann sei. Noch 1927 formulierte Stransky, ein Professor der Psychia­trie und Neurologie an der Universität Wien, dass die Frau »seelisch nach dem Untertan Sein hingetrieben wird, wie die Motte zum Licht«.

Die bürgerliche Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte in den Städten eine strikte Trennung von Arbeitsstätte und Wohnung durchgesetzt. Sie wies dem Mann die Erwerbsarbeit, der Frau die Führung des Haushalts und die Kindererziehung zu. Die Arbeit des Mannes wurde höher bewertet, da er durch seine Tätigkeit Geld verdiente. Das verschaffte ihm entsprechend Ansehen und Macht.

Rosa Mayreder, die bekannte österreichische Schriftstellerin, Frauenrechtlerin, Kulturphilosophin, Librettistin, Musikerin und Malerin, stellte ebenfalls 1927 ganz klar fest: »... Streng genommen hat sich in der alten Ordnung der Dinge nur der Mann als Subjekt gefühlt; er war der Zweck, das Weib aber nur Mittel – als Mutter Mittel, den Mann hervorzubringen, als Geliebte Mittel, ihn zu befriedigen, als Gattin Mittel, ihm Haus und Herd zu bestellen. Und die echte, die vorbildliche Weiblichkeit fühlte sich selbst nur als dieses Mittel, legte den Sinn des Lebens in die Vorstellung, Mittel zu sein, gab alles Eigene willig dafür hin, unterdrückte es, gestand es sich nicht ein. Von dieser sekundären Stellung zur eigenberechtigten Persönlichkeit, wie die soziale Gleichstellung sie fordert, ist ein gewaltiger Sprung.«

Die Familie, als Brutstätte der Gefühle, brachte damals zwei entscheidende Aspekte hervor: das oft übersteigerte Selbstwertgefühl der Männer und das künstlich gedämpfte Selbstwertgefühl der Frauen. Die Auswirkungen spüren wir auch heute noch bis in unsere Zeit.

Wir müssen festhalten, dass die Erziehung in der Kleinfamilie damals (und noch bis heute) vorwiegend durch weibliche Bezugspersonen stattfand. In unserer Kultur liegt das Schwergewicht der so wichtigen, frühkindlichen Erziehung hauptsächlich in den Händen der Frauen: der Mütter, Kindergärtnerinnen, später der Lehrerinnen. Und da das Unterbewusste meist sehr viel wirksamer ist als das Bewusstsein, müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass es zwangsläufig ein Ungleichgewicht geben muss. Das Unterbewusstsein dieser weiblichen Bezugspersonen war den kleinen Buben gegenüber anders eingestellt als den kleinen Mädchen. Kleine Buben wurden meist von Anfang an so akzeptiert, wie sie waren. Mütter signalisierten zum Beispiel: »Ich liebe dich, weil du so bist, wie du bist!« Es bedurfte keiner weiteren Zusatzleistungen. Genau diese Rolle der Anerkennung des anderen Geschlechtes hätten die Väter bei den Mädchen spielen können – nur waren sie leider in der Kindererziehung kaum präsent. Die Überbetonung des weiblichen Elementes im Werdegang der kleinen Kinder bewirkte manchmal ein überspitztes Selbstwertgefühl und einen Mangel an Anforderungen bei den Buben, während die Mädchen emotional zu kurz kamen und eine Menge von mütterlichen Erwartungen erfüllen mussten.

Wegen überlieferter patriarchaler Strukturen erwartete man von Frauen noch immer ein gewisses Maß an Schönheit, Sanftheit und Fügsamkeit. Männer sollten vor allem stark und durchsetzungsfähig sein. Mädchen sollten gehorsamer sein als Buben. Sie wurden dazu erzogen, genau hinzuschauen, was man von ihnen will und nicht was sie selbst wollen. Darin begründet ist ein großes Problem, denn die Mädchen lernten so zu »gefallen« und weniger auf ihre innere Stimme zu horchen.

Rosa Mayreder sagte dazu: »Man wird erst wissen, was die Frauen sind, wenn ihnen nicht mehr vorgeschrieben wird, was sie sein sollen«.

Viele Frauen wurden später nur dann glücklich, wenn sie Lob von außen bekamen. Nur wenn der Mann, die Kinder oder der Chef glücklich waren, konnten sie selbst ohne Schuldgefühle glücklich sein. Dass sich Frauen im Allgemeinen besser auf andere einstellen können, liegt zum Teil daran, dass sie ein Leben lang geübt haben in den Gesichtern der anderen zu lesen. Im Bestreben, Anerkennung zu bekommen, lernten Mädchen offenbar mit erstaunlicher Leichtigkeit, Anweisungen aufzunehmen und waren in ihren Leistungen den Buben sehr oft voraus.


Was daraus wurde

Frauen scheinen anders zu denken und zu fühlen (wobei bisher ungeklärt ist, wie viel davon Produkt einer bestimmten Erziehung ist). So haben etliche Forschungen ergeben, dass sie zum Beispiel spezielle innere Wertmaßstäbe entwickeln. Männer verinnerlichen hauptsächlich eine »Moral der Gerechtigkeit«, die sich um Rechte, Regeln und Pflichten kümmert. Frauen hingegen entwickeln dafür häufig eine »Moral der Fürsorge und Anteilnahme«. Diese kreist um Verantwortung und wechselseitige Abhängigkeit, um ein Netzwerk von Beziehungen. Moralische Probleme entstehen für sie weniger durch die Ansprüche von »oben« und »unten«, als durch die schwer zu vereinbarenden Wünsche der Menschen untereinander. Frauen empfinden es als sehr belastend, Entscheidungen treffen zu müssen, die einem nützen, aber einem anderen schaden. Die konventionellen Rollenklischees wirken noch immer so weit, dass sich Frauen, sobald sie anfangen an sich selbst zu denken, als einigermaßen egoistisch und selbstsüchtig wahrnehmen. Sie haben zwar nicht mehr so starke Schuldgefühle wie die Generation ihrer Mütter, aber dennoch das Gefühl, dass eine »gute Frau« zuerst die Wünsche der anderen erfüllen sollte, bevor sie an die eigenen denkt. Vor allem in traditionell strukturierten, ländlichen Gebieten ist diese Verleugnung der eigenen Wünsche bei Frauen noch sehr verbreitet.

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