Lolitas späte Rache

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Lolitas späte Rache



Quer-durch-Europa-Krimi mit Rezepten









Ulrich Land



Lolitas späte Rache



Quer-durch-Europa-Krimi mit Rezepten









Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.



© 2016 Oktober Verlag, Münster



Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung der



Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster





www.oktoberverlag.de





Alle Rechte vorbehalten



Satz und Umschlag: Thorsten Hartmann unter Verwendung von



Fotos von mr_n / Getty Images und Photoslash / iStockphoto



Fotos und Faksimiles auf den Seiten

307

,

312

 und

314

 aus den Beständen des Palace-Hotel Montreux



Rezepte: Ulrich Land



Herstellung: Monsenstein und Vannerdat



E-Book ISBN: 978-3-944369-65-5



eBook-Herstellung und Auslieferung:

 readbox publishing, Dortmund


www.readbox.net




1.





Berliner Philharmonie.



28. März 1922.



Der große Saal vollbesetzt. Die Luft stand. Die Herrschaften gähnten. Erst verstohlen in den Frack, in die Stola. Dann erhobenen Hauptes, aber mit vorgehaltener Hand. Schließlich nicht mal mehr das. Unverhohlen wurden klaffende Löcher in die Luft gebohrt. Die Einladung der barock überladenen Wände, den Blick schweifen zu lassen, hatte man bis zum Gehtnichtmehr ausgekostet. Säulen und Säulenheilige, Balkone und Stuckschnörkel, Engel, Schwäne, Elefanten und geflügeltes Wolfsgetier – nichts, was der Konzertsaal aufzubieten vermochte, um die Tentakel der Tristesse zu vertreiben, konnte die tödliche Langeweile auflösen.



Miljukow blickte, wenn er kurz von seinem Redemanuskript aufsah, in eine Galerie schlafstarroffener Mäuler. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Obwohl er genau wusste, lange konnte er auch die letzten paar aufmerksamen Figuren im anderthalbtausend Köpfe zählenden Publikum nicht mehr binden. Unversehens wurde seine Stimme brüchig, dabei musste sie doch wenigstens laut sein, energisch. War sie aber nicht. Umso weniger, je mehr er sich dessen bewusst wurde. Er musste einen Schluss finden, den Punkt setzen. Wenn er nur wüsste, wie!



»Ein monarchistisches Russland aber«, rief Miljukow ins vor sich hindämmernde Auditorium, »ein monarchistisches Russland wird ebenso wie ein bolschewistisches von Amerika nicht die geringste Unterstützung zu erhoffen, geschweige denn zu erwarten haben. Und nicht zuletzt deshalb, verehrte Freunde Russlands, geben Sie der Welt durch Ihren Applaus zu verstehen, dass Sie gleich meiner von der baldigen Wiederherstellung einer

demokratischen

 Republik Russland felsenfest überzeugt sind!«



Worauf die ganze angestaute Trägheit explodierte, sich in tosenden Applaus entlud. Miljukow verneigte sich artig und wusste doch, dass die stürmischen Ovationen weniger seiner Rede, ihrem Inhalt, ihrer Rhetorik huldigten, als dem Umstand, dass er, der politisch ehrenwerte Redner, ein Ende gefunden hatte. Mit einer durchaus passablen Conclusio, wie er selbst befand.



Plötzlich jedoch hörte er – unverkennbar – Misstöne zwischen Händeklatschen und Bravo-Gebrüll, das jetzt nahtlos in panisches Kreischen überging. Kein Zweifel, was da aus dem Publikumsgetöse herausgestochen hatte, waren Schüsse!



Zwei, drei Revolverschüsse Richtung Bühne. Aus einer der vordersten Reihen. Wo jetzt einer der Attentäter auf seinen Stuhl sprang und, während er noch zwei Schüsse über die Köpfe des aufgewühlten Publikums hinwegzischen ließ, nach Leibeskräften schrie: »Für die Zarenfamilie und Russland!« Zur Bekräftigung feuerte er eine weitere Kugel ziellos Richtung Bühne ab.



Kein Halten mehr! Wirre Panik schwirrte durchs Publikum, breitete sich rasend wie ein Lauffeuer aus bis zu den hintersten Reihen und zu den obersten Rängen. Frauen mit angstgeweiteten Augen kreischten und erbrachen über die Ausbuchtungen der erlesenen Abendgarderobe den Krimsekt, den sie soeben in der Pause unter Abspreizen des behandschuhten kleinen Fingers zu sich genommen hatten. Männer brüllten und fuchtelten mit den Fäusten. Kerle in feinem Zwirn droschen aufeinander ein und versuchten, sich zu den Saaltüren durchzuschlagen, ihre schreckgöbelnden Weibchen im Schlepptau.



Doch wieder schaffte es der Attentäter, den Tumult zu übertönen, indem er eine Kugel zum Kronleuchter schickte, der zwar klirrend antwortete, eine Glassplittersalve abwärts schickte, bedrohlich schaukelte, aber hängen blieb. »Das ist die Rache für die Ermordung des Zaren, die Sie mitverschuldet haben!«, rief der Schütze mit sich überschlagender Stimme und unterstrich sein Vermächtnis mit einem weiteren Schuss.



Miljukow stand stocksteif da. Unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Während unmittelbar vor ihm am Bühnenrand Senator Nabokov – der Vater des später in Rede stehenden Romanciers Vladimir Nabokov –, während also Senator Nabokov, die eine Hand auf die Brust, die andere auf den Magen gepresst, einknickte, entsetzt zusah, wie das Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll, und mit letzter Kraft ein »Verblendete Idioten ihr!« herausbrachte. Um anschließend kopfüber vom Bühnenpodest herabzustürzen und schließlich, gebogen wie eine Sichel, liegen zu bleiben. Regungslos. Die »verblendeten Idioten« sollten die letzten Worte seines 52 Jahre jungen Lebens sein, bevor er unter einem stoßweise ausgeworfenen Blutschwall leise röchelnd aufgab. Eine für alle Beteiligten rätselhafte Aktion: Schien es doch so, als sei der Senator mit zwei, drei Schritten gradewegs in die Schussbahn gehastet. Wirklich selbstloser Schutzreflex, um den politisch eine minimale Rangstufe höher stehenden Kollegen Miljukow zu retten, wie die Presse vermeldete, Märtyrertum für den Sieg des russischen Liberalismus? Oder waren es die dramatischen Umstände, die den Senator in den letzten Wochen überrannt und übermannt hatten und die ihn nun diesen Schritt in den Tod hatten gehen lassen? Oder war es beides?



»Du musst sterben, Schurke!«, sekundierte jetzt der zweite Attentäter seinem Kollegen. Ebenfalls auf den Stuhl gesprungen, bedachte er den Leib des Senators mit zwei weiteren Kugeln. Mit einem akrobatischen Satz schwang er sich auf die Rückenlehne zweier Stühle, suchte und fand mit gespreizten Beinen eine wacklige Balance. Stabil genug jedenfalls, um etliche Schüsse über die Köpfe der letzten noch verbliebenen und um so entsetzter schreienden Zuschauer hinwegjagen zu lassen, bis schließlich sein Magazin leergeknallt war. »Ihr habt die Monarchie vernichtet, jetzt vernichtet unsere Rache euch!«



Plötzlich jedoch zischte sein Kompagnon: »Der Falsche! Wir haben den Falschen getroffen.« Zu spät. Die beiden Attentäter wurden unter Lynchgebrüll überwältigt.



Ein Abend jäh erwacht aus dem öden Gleichmaß des Einverständnisses.



Ein Abend, der eine Vorgeschichte hatte, ähnlich turbulent wie sein todbringendes Ende.



Ein Abend, der eine Nachgeschichte hatte, die den Bogen über sieben Jahrzehnte spannen sollte, bevor er dem Vergessen anheim fiel und untergepflügt wurde vom Rad der Geschichte.




2.





Montreux, Schweiz. Dachsuite im Palace-Hotel.



In den ersten Tagen des Jahres 1991.



Sie strahlte eine unglaubliche Stille aus. Versunken, nicht abgesunken. Trotz des plüschigen Sessels mit durchgedrücktem Rücken, mit hochgerecktem Kopf. Mit punktgenau ausgerichteten Augen. Den See im Visier. Sie hatte sich den Sessel vor Urzeiten in ihre Lieblingsposition am Fenster gezogen, ungeachtet der Schrammen, die die Sesselfüße ins uralt-würdige Parkett treiben mochten. Hatte Position bezogen, sich niedergelassen im viel zu weichen Polster, leicht nachgewippt, dann zur Ruhe gekommen. Ihr Gesicht glättete sich, die Stirn ohne jede Falte. In den Lachkerben rund um den Mund glitzerte ein feiner Schweißfilm. Der langsam über den See und die drüben, weit hinterm andern Ufer, emporwachsenden faltigen Schneeberge wandernde Blick. Selbstvergessen.



Am Ufer hatte sich, vor allem im Röhricht, Eis gebildet. Zerbrechliches Milchglas noch, das nicht mal einen Meter vom Ufer weg in einen hauchdünnen Eisfilm auslief, bevor es ins schwarzgrüne Seewasser überging. Jeden Tag, so stellte sie beruhigt fest, wagte sich die Eisfolie ein bisschen weiter auf den See hinaus. Und so war dieser Eishauch geeignet, sie an ihre ferne Heimat zu erinnern. Obwohl sie nunmehr schon dreißig Jahre, davon vierzehn verwitwet, hier oben in der wohltemperierten Dachsuite mit der atemberaubenden Aussicht zubrachte, trug sie der Blick aufs behutsam wachsende Seeeis bis rüber in die geliebte russische Winterwelt. Das knisternde Kaminfeuer, das der eifrige Page in aller Frühe entfacht hatte, und die in der Wärme knackende Kirschholzvertäfelung der Wände taten ein Übriges.



Doch plötzlich – unerklärlich und unerheblich, wie diese Person sich Zutritt verschafft haben konnte –, plötzlich stand, ohne angeklopft zu haben, eine Frau mitten in ihrem Zimmer und sprach sie hinterrücks an: »Frau Nabokov, Véra Nabokov?«



Véra Jewsejewna Nabokov strich ihr silbergraues Haar zurück und antwortete, ohne den See aus den Augen zu lassen, geschweige denn sich aus dem Sessel zu erheben: »Wie wäre es mit einem Wort des Grußes?«

 



Worauf die Person trotz der Aufforderung verzichtete, seis, weil sie nicht wusste, was sich gehörte, oder weil sie es in diesem Fall auf einen Affront anlegte und die gebotene Höflichkeit bewusst nicht zur Anwendung brachte. Sie zog es stattdessen vor, mit der Tür ins Haus zu fallen: »Tun sich noch erinnern?: 28. März ’22! In Berlin. Een Jahr vor Ihrer Nabokov-Ära. Deshalb nehm ick ma an, Se war’n nich höchstpasönlich selbs’ dabei. Aba de Presse – da muss et ja mächtich jerauscht ham in unsam Balina Blätterwald, wa?«



»Wollen Sie mir nicht verraten, mit wem ich das Vergnügen habe?«, bestand Véra so höflich wie beharrlich auf die, wie sie fand, grundlegendsten Regeln zivilisierter Gesprächseröffnung.



»In ’er Philamonie«, kam es unbeirrt von hinten, »wie wer Ihr’n Schwiejervata abjeknallt hat. Se wer’n sich erinnern.«



Jetzt drehte Vera doch den Kopf, und als sie begriff, dass ihr das nicht half, bog sie ihren Oberkörper so weit aus dem Sessel, dass sie um die Rückenlehne herumschielen und die dreiste Person in der Mitte der Suite in Augenschein nehmen konnte. Wie sie da stand, frech breitbeinig, die Füße gespreizt, als ginge es darum, von möglichst großer Standfläche aus ihre Geschütze abzufeuern. Vielleicht zwanzig, eher dreißig Jahre jünger als sie selbst. Also auch längst nicht mehr die Jüngste. Unverschämt angriffslustige Augen über energisch breiten Backenknochen funkelten sie an. Glasblau, die Augen. Als könnten sie durch einen hindurchblicken, ihre eigene Transparenz in den bohrenden Blick legen.



Véra Nabokov wandte sich eilends ab, ließ den Kopf wieder ins Rückenlehnenpolster sinken und starrte auf den See, das dunkle, beruhigende Trauertuch, ohne irgendetwas zu sehen. Sie kam jedoch nicht umhin zuzuhören. Und was sie zu hören bekam, riss und zerrte an ihr.



»Wie der Kumpel von Ihr’n Schwiejervata – Miljukow hieß der, gloob ick –, wie der ’ne Rede jeschwungen hat üba Russland oda wat«, rief diese Person die Ereignisse des unseligen Abends vor siebzig Jahren wieder auf den Plan. »Un ’er Applaus soll noch jedröhnt haben, da knallts. Aba die Chose jeht in die Hose. Den Miljukow jedenfalls habn se nich umjenietet. Keen bissken. Aber dafür lag Ihr’n Herrn Schwiejerpapa schon uff de Krepierseite! Jott noch ma, mit ’n Dämelsack jepudert, der Blödmann! Wat muss er ooch sofort uffspringn?! Direkt in de Schusslinje rinn, Väterchen Nabokov. Der war doch jenau wie der Miljukow son Oberindiana von diese Zarengegners, diese liberalen, wa?«



»Danke der Belehrung, ich bin durchaus im Bilde über die damaligen politischen Aktivitäten meines Schwiegervaters«, versuchte die alte Nabokov es auf die forsche Tour.



Aber die untersetzte Endsechzigerin ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, spulte grinsend ihre Geschichte ab. »Wie unsern Nabokov senior zusammenklappt, padauz de Bühne runta, Ihrer Frau Schwiejermutta direktemang vor de Füße. Un dem Miljukow, um den’s doch eijentlich jing, ma ehrlich, dem hat keener keen Härchen jekrümmt, wa? Und wie dann – wie dann eener von die Attentäters uff de Bühne jesprungn sein soll un soll jroße Töne jespuckt ham. Aba da ham se ’n schon in Schwitzkasten drin. – Na jedenfalls, der Sohn von diesen mausetoten Senator, wa, is een jemeinsamen Bekannten von uns.«



»Wer zum Teufel sind Sie?«



»Belinda, meen Name«, lautete die Antwort, »jedenfalls für Sie: Belinda. Könn wir uns dadruff ein’jen?«



»Und was geht Sie mein verstorbener Mann an?«



»Wat sach ick: Bekannter? – Verwandter!«, drehte Belinda auf.



»Verwandt? Das wird ja immer schöner!«



»Da spricht allet dafür. Meene Olle is sich da absolut sicher. War. War sich sicher.«



»Nun los, reden Sie, mein Gott, Sie machen einen ja völlig verrückt!« Während die alte Nabokov ihren Satz noch verklingen hörte, keimte in ihr das Gefühl, als würde sich Belinda in Bewegung setzen. Sie zwang sich, nicht hinzusehen. Und merkte doch und hörte jetzt auch die näher kommenden Schritte. Bis schließlich die kugelrunde Gestalt wie eine grellbunt gewandete Königin auf kurzen Teckelbeinen in ihr Sichtfeld tänzelte. Plötzlich hatte sie sich ganz vor sie geschoben, stand breitbeinig im Seeblick. Keine Waffe gezückt. Was Véra Nabokov irgendwie wunderte. Keine Waffen, doch Worte. Forscher noch als eben. Tiefer dringend. Starrte einfach. Starrte sie einfach an.



Und grinste ihr frontal ins Gesicht: »Na, rechnen wir ma!: Ick bin jetzt 69, wo ick hier antanze bei Sie; schon bissken wat her, wie mir meene Mudda in der Ehestandslokomotive alleene, muttaseelenalleene durch ’n Wedding jeschoben hat. Also nehm wir ma bloß die ersten zwanzich Jahre. Zwanzich ma zwölfe macht nach olle Adam Riese 240 Monate. Un halten wir uns an die Preise von heute und schraubens or’ntlich bissken runta, sagn wir: dreihundertfuffzig Mark, ach nee, hier sind ja Schweiza Frankens anjesagt, sagn wir – ick weeß den Wechselkurs nich – sagn wir: zweehundertzwanzig pro Monat. Macht 52.800 Schweizer Franken. Oder Dollars? Wollen Se’s in Dollarsse berappen? Amerika liegt Sie vielleicht näher, ick meen, all die Jahre drüben. Mir ooch recht. Wärn det runde 36.000 Dollarsse. Jetzt für mich schon ma. Zuzüglich …«



»Wovon reden Sie?« Véra Jewsejewna Nabokov merkte, wie sich ihr Gesicht in Falten legte, wie sich in den Kerben Pfützen bildeten, wie sich ihr dünnes Haar an die Kopfhaut klebte.



»… zuzüglich, sagn wa: det Doppelte an nich jeleisteten Unterhaltszahlungen für meene Olle, Jott hab se selig. Sind wir bei hunderttausend Dollarsse.« Belinda, das Luder, bekam die ganze Rechnerei ohne Stift und Papier hin. Die Zahlen purzelten nur so aus ihr heraus. Offensichtlich hatte sie das alles schon lange mit sich rumgeschleppt, hin- und hergewälzt, abgewägt und von allen Seiten betrachtet. Sie hatte gerechnet. Im Vorfeld. Hatte sich vorbereitet. Ohne Frage. »Un außerdem wegen den Bestseller: ›Lolita‹, Sie wissen schon«, kartete sie nach, »da muss schon noch ’n ordentliches Sümmchen oben druff als Entschäd’jung, wa? Weil, also ick meene, ohne uns – den hätt Ihr Jötterjatte nie hinjekriegt, den Roman. Ohne uns.«



Belinda warf der alten Dame noch einen Blick vor den Bug, drehte dann ab und rauschte mit geblähten Segeln aus dem Zimmer.



Véra Nabokov war sich sicher, dass dieser ganze Auftritt ein abgekartetes Spiel war. Auch jetzt, dass sie jetzt hier allein saß, völlig aufgewühlt, Jahrzehnte Zurückliegendes wieder hochgespült, dass ihr der Schädel dröhnte, als stünde sie mitten im Maschinenraum eines Ozeanriesen, auch das war glasklar kalkuliert. Zusätzlich befeuert durch diesen steilen Abgang. Mittendrin gewissermaßen. Mitten in der Aufrechnung der Abrechnung. Mitten in der Aufregung.



Und Véra wusste, das Spiel würde seine Fortsetzung finden.



Aber warum um Himmels willen kam diese Belinda mit der uralten Philharmonie-Mord-Geschichte an? Wo sie doch genau wusste, dass sie, Véra, nicht dabei war, dass das Schicksal sie erst ein Jahr später auf den Plan gerufen hatte, dass sie mit dem ganzen Nabokov-Clan und seiner Vor- und Frühgeschichte, mit den Ereignissen des Jahres ’22 nicht das Geringste zu schaffen hatte.



Auch wenn Véra die Antwort nicht wusste, so wusste sie doch: Das würde sich aufklären – schneller, als ihr lieb sein konnte.




3.





St. Petersburg.



1906.



Die Mutter wars, die ihn wieder dabei ertappte. Und sie hatte es doch so oft schon gesagt. Aber so sehr er sich dagegen wehrte, das Zimmer seiner kleinen Schwester – es war wie ein Magnet. Nicht wie! Es war ein Magnet. Er musste, konnte nicht anders, er musste die Tür aufmachen. Am besten, wenn sie mit Mademoiselle Cécile, der Gouvernante aus dem fernen, fernen Lausanne, wenn sie mit Mademoiselle unterwegs war. Dann hatte er freie Bahn. Konnte sich in aller Ruhe an diesem verbotenen Dunstkreis weiden.



Und heute waren sie losgezogen, die Schwester und Mademoiselle, das wunderbare Sonntagsballett anschauen, hatte es geheißen. Langweilig, zum Kotzen langweilig. Aber konnte ihm nur recht sein. Hoffentlich zog es sich, dauerte ewig. Bis Salewski den Gong fürs Abendessen schlug. Am besten so lange.



Vladimir drückte behutsam, unendlich behutsam die Klinke runter, als fürchte er, sie, die er in dieser Schatz- und Wunderkammer wusste, aus dem Schlaf zu reißen und eine Geplärrelawine loszutreten, die selbstredend sofort die Mutter auf den Plan rufen würde. Leise gab die Tür nach, lautlos glitt er hinein. Begrüßte ohne ein Wort, nur kurz mit den Augen zwinkernd, die süße Dreierbagage. Aber jetzt galt es erst mal, die Tür genauso behutsam wieder zu schließen. Was genauso, was mindestens so schwer war wie vorhin das Reinkommen. Diese fiebrige Ungeduld in den Knochen. Wenn man so nah davor war. Auch jetzt aber verhielt die Tür sich mucksmäuschenstill, legte sich sanft ins Schloss. Wie geschmiert.



Die süßen drei sahen ihn mit großen Augen an. Er sog ihren Duft ein, den er bis hierher zur Tür roch. Den Duft der Seife, mit der die Waschmamsell die Kleider der Süßen auf Vordermann gebracht haben musste. Oder hatte sie sie gleich ganz, mit Haut und mit Haar ins Seifenbad getaucht? Zuzutrauen wars ihr. Ein Duft jedenfalls, der ihn an die Blüten erinnerte, die am Ufer in Wyra immer und immer von den schönsten Schmetterlingen umschwirrt und umschwärmt wurden. Nein, keine Erinnerung, es war der Duft selbst! Der Duft der Schmetterlingsweide. Der das Fieber sprunghaft ansteigen, den Schweiß zwischen den Fingern sprudelnd hervorquellen ließ.



Vladimir zwang sich, noch einen Moment zu verharren. Und zu lauschen. Er legte das Ohr ans alte Holz der Tür: kein noch so leiser Laut im Korridor. Nichts. Das schönste Stillschweigen. Die Stille, die die kleinsten Geräusche erst möglich machte, die einen den Flügelschlag der Falter hören ließ.



Noch einen kleinen Sicherheitsdoppelmoment.



Dann wagte Vladimir ein paar erste Schritte in Richtung der kleinen Truhe, auf der die drei zwischen allerlei Getier, Spitzentüchern, hölzernen schnörkelverzierten Matrjoschkas saßen. Stillstarr und brav. Wie sie ihn voller Erwartung ansahn. Und lächelten. Dieses selige, dieses lautlose, nach Schmetterlingsblütenseife duftende Lächeln lächelten!



Das war der Moment. Der, auf den er so sehnlich gewartet hatte. In dem ihn diese unglaubliche Glückswallung überkam. Die ihn erbeben ließ, am ganzen Leib zittern. Ein warmes, ein heißes Zittern.



Jetzt hielt ihn nichts mehr. Alle Vorsicht und Rücksicht weggefegt. Jetzt rannte er die letzten Schritte zur Truhe. Nahm die erste, Annabelle, wie er sie getauft hatte, französisch elegant chique, nahm sie auf den Arm, wiegte sie, hob sie noch schnell, bevor sie glücklich einschlafen würde, hoch vor sein Gesicht, dass sie sich ansehn konnten. Ja, sie war glücklich, die Kleine. War überglücklich in seinen Armen. Das sah Vladimir. In Annabelles Augen. Er küsste sie vorsichtig auf die nach Wolle schmeckende Wange, drückte noch vorsichtiger seine Zungenspitze, nur die allervorderste winzige Spitze, nur ganz kurz, einen winzigen Moment nur zwischen die roten Lippen. Flink, vorwitzig wie das Rüsselchen des Hauhechel-Bläulings auf der Suche nach Nektar. Das erste Mal, er wagte es zum ersten Mal, ihren Mund zu küssen. Auf den Mund! Nicht bloß sittsam auf die Wange.



Dann legte er Annabelle wieder in seine Arme, wiegte sie noch mal, sanft, sang ihr ein »Baju, bajuschki, baju». Sang. Und sang. Ging zwei, drei Schritte im Zimmer, drehte sich im Kreis, ging weiter, wiegte sie, sang, bis sie eingeschlafen war. Sie konnte die gestickten Augen nicht schließen, das wusste er. Aber sie schlief, auch das wusste er. Schlief glücklich, träumte bereits. Ihren Blütentraum. Er sah es. Und nur er konnte es sehen, konnte es ihr ansehn. Nur er. War und blieb Annabelles und sein Geheimnis, wie er es sah, woran er es sah.



Er legte sie in die Wiege, die Salewski gebastelt hatte. Vor drei Jahren oder wann. Als Olga geboren wurde. Der winzigen, unförmigen Schwester als Geschenk zur Geburt. Ein Unsinn! Die konnte überhaupt nichts damit anfangen. Die konnte überhaupt nichts. Nur schreien. Man musste, um eine Puppe, drei Puppen samt Wiege zu ergattern, offenbar nur laut genug schreien. Und ausdauernd genug. Ewig. Aber davon wusste Annabelle nichts. Rein gar nichts. Sie schlief friedlich in Olgas Puppenwiege. Zudecken. Aber Vorsicht! Nicht, dass sie wieder aufwachen würde. Endlich nahm er Olgas blau gemustertes Halstuch und legte es auf Annabelles offene Augen, damit sie Ruhe finden würde.



Er umschloss ihr Glück mit seinem Glück. Mit seinem Blick. Bevor er sich abwandte, um sich Daschjenka zu widmen.

 



Daschjenka ließ sich ebenfalls bereitwillig auf den Arm nehmen. Strahlte ihn an – aber –, aber dieses Lächeln war anders. Es lag etwas Angestrengtes darin. Etwas vielleicht, vielleicht sogar Gequältes. Als wäre es der armen Daschjenka irgendwie peinlich. Doch Vladimir wusste, was zu tun war. Er hielt Daschjenka, ohne dass sie es würde bemerken können, etwas, nur etwas auf Abstand und ging mit ihr rüber zum kleinen Ikonen-Altar. Genau die richtige Arbeitshöhe für ihn. Er blinzelte den Ikonenheiligen, der Mutter Gottes, Sophia, dem Heiligen Georg ein »Pardon. Pardon, aber es lässt sich nicht ändern« z