Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert

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Aus der Reihe: Theologische Studien NF #1
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Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert
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Theologische Studien

Neue Folge

herausgegeben von

Thomas Schlag, Reiner Anselm, Jörg Frey, Philipp Stoellger

Die Theologischen Studien, Neue Folge, stellen aktuelle öffentlichkeits- und gesellschaftsrelevante Themen auf dem Stand der gegenwärtigen theologischen Fachdebatte profiliert dar. Dazu nehmen führende Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Disziplinen – von der Exegese über die Kirchengeschichte bis hin zu Systematischer und Praktischer Theologie – die Erkenntnisse ihrer Disziplin auf und beziehen sie auf eine spezifische, gegenwartsbezogene Fragestellung. Ziel ist es, einer theologisch interessierten Leserschaft auf anspruchsvollem und zugleich verständlichem Niveau den Beitrag aktueller Fachwissenschaft zur theologischen Gegenwartsdeutung vor Augen zu führen.

Theologische Studien NF 1 – 2010

Ulrich H. J. Körtner

Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert

Theologischer Verlag Zürich

Gedruckt mit freundliche Unterstützung der Ulrich Neuenschwander-Stiftung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich

ISBN 978-3-290-17800-0 (Buch)

ISBN 978-3-290-17653-2 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2010 Theologischer Verlag Zürich

www.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Was ist reformatorisch?

Begriffsgeschichte

Einheit und Vielfalt der Reformation

Zwei Reformationen

Reformatorisch – protestantisch – evangelisch

2. Rechtfertigung heute

Die neuzeitliche Infragestellung der Rechtfertigungslehre

Theodizee und Anthropodizee

Tribunalisierung der modernen Lebenswelt

Die Frage nach dem gnädigen Gott

Rechtfertigung und Ethik

3. Religion der Freiheit

Freiheit und Rechtfertigung

Von der Freiheit eines Christenmenschen

Bedingte Freiheit

Vom unfreien Willen

Zugeeignete Freiheit

4. Schriftgemäßheit

Sola scriptura

Schrift und Bekenntnis

Schriftgemäßheit und Wirklichkeitsgemäßheit

Bibel und Heilige Schrift

Kirche und Kanon

Das Wort »Gott« und das Wort Gottes

Die Kirche als Interpretationsgemeinschaft

5. Reformation und Moderne

Über die Reformation hinaus?

Reformatorische Theologie im 20. Jahrhundert

Reformatorische Theologie in der Gegenwart

Christentum und Moderne

Literaturverzeichnis

Fußnoten

Seitenverzeichnis

|7| Vorwort

Was haben wir unter reformatorischer Theologie zu verstehen, und welche Potentiale bietet das Erbe der Reformation für unsere Gegenwart? Diese Fragen stellt das vorliegende Bändchen weniger in historischer als in systematischer Absicht. So notwendig es zunächst ist, sich historisch über das Grundanliegen der Reformation, ihrer inneren Einheit und Vielfalt zu verständigen, geht es im Folgenden doch nicht in erster Linie um eine kirchengeschichtliche Bestandsaufnahme, welche die Sache fachlich Berufenerer ist, sondern um systematisch-theologische Zugänge zu der Gedankenwelt der Reformatoren des 16. Jahrhunderts. So sehr die Reformation auch die Moderne vorbereitet hat und bis heute prägt, so sehr ist das reformatorische Erbe gravierenden Transformationsprozessen ausgesetzt, in denen Versuche einer Neuaneignung reformatorischen Denkens Erscheinungsformen der Distanzierung und Fremdheitserfahrungen gegenüberstehen. Ist für die einen das theologische Erbe der Reformation die Norm ihres eigenen Denkens, so für andere Gegenstand der Kritik, wobei die Theologie der Reformatoren nicht nur zwischen den Konfessionen, sondern auch innerhalb des Protestantismus dem Konflikt der Interpretationen ausgesetzt ist.

Reformatorische Theologie, wie der Begriff hier gebraucht wird, ist nicht mit der historischen Rekonstruktion der Theologie der Reformatoren oder einer Quersumme ihres Denkens zu verwechseln, auch nicht mit einer ungeschichtlichen Wiederholung theologischer Lehraussagen des 16. Jahrhunderts. Gemeint ist vielmehr eine gegenwartstaugliche Theologie, die sich an den grundlegenden Einsichten der Reformation orientiert. Eine sich an der Reformation orientierende Theologie ist von der Überzeugung getragen, dass die Werke eines Luther, eines Zwingli, eines Melanchthon oder eines Calvin unserer Gegenwart Maßgebliches zu sagen haben und auch für uns eine Schule theologischer Urteils- und Kritikfähigkeit sind. Reformatorische Theologie in dem hier in Rede stehenden Sinne lässt sich freilich nur so treiben, dass die Sachanliegen der Reformation in anderen Worten als denen des 16. Jahrhunderts formuliert werden, während die bloße Wiederholung reformatorischer Theologoumena in der Gefahr steht, die Sache der Reformatoren zu verfehlen. Jeder Versuch einer Neuformulierung reformatorischer Grundgedanken stellt ein Wagnis dar, ist aber aufgrund des hermeneutischen Problems aller Theologie eine unabweisbare Aufgabe.

|8| Die vorliegende Skizze reformatorischer Theologie geht davon aus, dass die Lehre von der bedingungslosen Annahme und Rechtfertigung des Gottlosen und die aus ihr abgeleitete Kirchenkritik nicht der alleinige Inhalt, wohl aber das theologische Zentrum der Reformation ist. Nach einem einleitenden Kapitel zum Begriff des Reformatorischen wird darum zunächst nach der Bedeutung der Rechtfertigungslehre für unsere Gegenwart gefragt. Die Rechtfertigungslehre aber ist als Freiheitslehre zu verstehen, deren Impulse und Implikationen für das Freiheitsproblem in der Moderne im dritten Kapitel diskutiert werden. Maßstab und Quelle christlichen Glaubens und Lebens aber ist nach reformatorischem Verständnis die Bibel, verstanden und gelesen als Heilige Schrift, weil in ihr das gewiss machende Evangelium von der bedingungslosen Rechtfertigung des Gottlosen ursprünglich und maßgeblich bezeugt wird. Das reformatorische Schriftverständnis und seine Bedeutung für die Gegenwart sind Gegenstand des vierten Kapitels. Überlegungen zum Verhältnis von Reformation und Moderne im fünften Kapitel sollen meine Skizze reformatorischer Theologie abschließen.

Der Einladung der Herausgeber, den Eröffnungsband für die neue Folge der Theologischen Studien zu schreiben, bin ich gern gefolgt. Ihnen danke ich ebenso herzlich wie meinem Mitarbeiter Mag. Felix Hulla, der mit bei den Recherchen behilflich war und das Manuskript sowie die Druckfahnen Korrektur gelesen hat. Auch Herrn PD Dr. Andreas Klein danke ich herzlich für seine Unterstützung bei den Korrekturen.

Wien, im April 2010

Ulrich H. J. Körtner

|9| 1. Was ist reformatorisch?

Wie reformatorisch war die Reformation? Die Frage mag auf den ersten Blick überraschen. Sie wird jedoch verständlich, wenn man bedenkt, wie sehr die Reformationsforschung in den vergangenen Jahrzehnten in Bewegung geraten ist. Ob man die Reformation als einheitliches historisches Phänomen beschreiben kann, ist heute ebenso umstritten wie der Begriff des Reformatorischen und seine inhaltliche Bestimmung.

 

Begriffsgeschichte

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird »Reformation« als Epochenbegriff verwendet, als Bezeichnung für die durch Martin Luther, Ulrich Zwingli und andere ihnen Gleichgesinnte ausgelösten Vorgänge, die im Verlauf des 16. Jahrhunderts zu einer dauerhaften Aufspaltung des abendländischen Christentums führten. Im Ergebnis entstanden voneinander getrennte Konfessionskirchen. Während die Trennung zwischen den evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche bis heute fortbesteht, haben etliche der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen mit der Leuenberger Konkordie von 1973 die Basis für eine Kirchengemeinschaft gefunden, in der die innerevangelischen Trennungen der zurückliegenden Jahrhunderte überwunden worden sind.

Paradoxerweise ist der Begriff der Reformation kein genuin reformatorischer. Das will sagen: Er ist bereits im mittelalterlichen Sprachgebrauch beheimatet, während er von den Reformatoren des 16. Jahrhunderts selbst auffällig zurückhaltend und sparsam verwendet worden ist.1 Im mittelalterlichen Sprachgebrauch wird die Vokabel »reformare« weitgehend parallel benutzt mit »renovare«, »innovare«, »restituere«, »instituere«, »regenerare«, »reviviscere«, »suscitare«, »resuscitare«, »surgere«, »renasci«. Sprachgeschichtlich sind also Reformation und Renaissance Synonyme. Beide Begriffe bezeichnen ein in der Verwirklichung begriffenes eschatologisches Geschehen, wobei erkennbar neutestamentliche Aussagen über die Neuschöpfung der Welt und die |10| Wiedergeburt des Menschen aufgenommen werden. Der ursprünglichen Vorstellung nach handelt es sich also um einen mysterienhaft-sakramentalen Vorgang, wobei sich politisch-soziale und religiöse Hoffnungen im Mittelalter wechselseitig durchdringen. Nicht nur für die Kirche, sondern auch für das Heilige Römische Reich und alle Bereiche des Lebens wird eine Reformation ersehnt. Im ausgehenden Mittelalter nimmt die Reformationshoffnung utopisch-schwärmerische Züge an, die in den Umwälzungen des 16. Jahrhunderts auf vielfältige Weise nachwirken. Bekanntlich haben nicht erst Luther und Zwingli, sondern z. B. schon Franz von Assisi und Joachim von Fiore eine umfassende Reformation angestrebt, hierbei auf die Kraft der monastischen Bewegungen des Hochmittelalters setzend.

Wie der Reformationsbegriff wörtlich besagt, geht es um eine Erneuerung, welche zugleich zu den Ursprüngen, zum Anfang aller Geschichte zurückführt. Die Welt soll in den Zustand adamitischer Reinheit, die Kirche zur apostolischen Vollkommenheit rückverwandelt werden. Hierbei hat der Reformationsbegriff gesetzliche Implikationen, soll doch in der weltlichen Gesellschaft das reine Naturrecht, in der Kirche aber das vollkommene Gesetz Christi und der Apostel verwirklicht werden. An dieser Stelle unterscheidet sich übrigens der mittelalterliche Reformationsbegriff vom Begriff der Renaissance. Während nämlich die Reformation im mittelalterlichen Sinne die Durchsetzung eines ursprünglich geltenden, inzwischen verachteten, jetzt aber neu aufgerichteten Gesetzes zum Ziel hat, kann die Vorstellung der Renaissance neben dem christlich-mysterienhaften ein naturalistisch-heidnisches Element in sich tragen und die antike Vorstellung von einer im ewigen Kreislauf der Natur stattfindenden Wiederkehr aller Dinge übernehmen. Die Vorstellung eines urzeitlichen Gesetzes, welchem neue Geltung zu verschaffen ist, ist dagegen für das Denken der Renaissance nicht bestimmend.

Reformation im strengen Sinne des mittelalterlichen Sprachgebrauchs bezeichnet die Rückführung zu einer Norm, wobei die zu verwirklichende Norm immer religiösen Ursprungs ist. Das im Mittelalter vorherrschende Grundverständnis von Reformation geht letztlich auf Augustin zurück. Im augustinischen Sinne bedeutet die Norm, an welcher sich alle Reformation zu orientieren hat, freilich nicht ein Gesetz, sondern eine Person, nämlich Christus, welche das Ebenbild des lebendigen Gottes ist, nach welchem der sündige Mensch kraft des Glaubens neu gestaltet werden soll. Schon bei Augustin nimmt diese personale Norm freilich Züge eines Gesetzes an, insofern die Notwendigkeit |11| der Reformation mit den Forderungen des Mönchtums verknüpft werden. In der mittelalterlichen Kirche ist das Mönchtum die institutionalisierte Dauerreform der Kirche, die Reformation in Permanenz. In immer neuen Anläufen versucht das abendländische Mönchtum im Verlauf seiner Geschichte das Gesetz Christi vollkommen zu erfüllen und, ausgehend von der klösterlichen Gemeinschaft, in Kirche und Welt durchzusetzen. Das ist der Grundgedanke des monastischen Reformationsverständnisses seit der cluniazensischen Reform.

Im Spätmittelalter verbinden sich Renaissancemotive mit der Vorstellung einer umfassenden Reformation von Kirche und Welt. Einerseits findet der antike Naturrechtsgedanke Aufnahme, dem zufolge die menschliche Gesellschaft wieder in einen gottgewollten Ursprungszustand versetzt werden soll. Andererseits bricht sich die Idee eines kontinuierlichen geschichtlichen Verfalls Bahn, wodurch der Reformationsbegriff teilweise eine apokalyptische Färbung erhält. Die Weltgeschichte wird dreiteilig periodisiert: Auf einen Zustand ursprünglicher Vollkommenheit folgte eine lange Periode fortschreitender Dekadenz, nun aber wird der Anbruch einer neuen Idealzeit erhofft. In dieser Form ist der Reformationsbegriff volkstümlich geworden, wie zahlreiche Flugschriften und Gedichte des 15. und 16. Jahrhunderts beweisen. Der Reformationsbegriff kann im Ausgang des Mittelalters in Verbindung mit der Rezeption römischen Rechts aber auch eine spezifisch juridische Bedeutung annehmen und die verschiedenen Reformen der Reichsordnung, des Städterechtes und der Landrechte bezeichnen.

Vor dem Hintergrund der vielfältigen Motive des Reformationsbegriffs im Spätmittelalter fällt um so mehr auf, dass Martin Luther diesen Terminus nur |12| im juridischen Sinne, kaum aber in seiner utopisch-apokalyptischen Bedeutung verwendet hat. Er verstand sich selbst nicht als Reformator, nicht als Bringer einer neuen Zeit. Nicht Einzelgestalten der Geschichte, sondern Christus und sein Evangelium stehen an der Wende der Zeiten. Wohl muss die Verkündigung des Evangeliums erneuert und diesem in der Kirche neu Gehör verschafft werden. Doch eine umfassende Reform von Kirche und Welt erwartet Luther nicht unmittelbar, schon gar nicht in Verbindung mit seinem eigenen Wirken, sondern von der Zukunft, die Gott allein kennt. »Die Zeit dieser Reformation aber kennt allein der, der die Zeiten geschaffen hat.«2 Im Übrigen verwendet Luther den Reformationsbegriff nur im juridischen Sinne, meist negativ über gesetzgeberische Reformbemühungen im 15. Jahrhundert urteilend, positiv aber im Blick auf die Reform der Universität und ihrer Fakultäten.3

Noch sparsamer geht Luthers Weggefährte Philipp Melanchthon mit dem Reformationsbegriff um und übt selbst gegenüber dem altrechtlichen Sprachgebrauch äußerste Zurückhaltung. Während der Begriff »Reformation« von ihm gelegentlich im juristischen Sinne im Blick auf die evangelischen Reformvorschläge angewendet wird, vermeidet es Melanchthon selbst noch nach Luthers Tod, dessen Lebenswerk als Reformation zu charakterisieren. In seiner Würdigung Luthers aus Anlass seines zweiten Todestages spricht Melanchthon lediglich davon, dass durch Luther »das Licht des Evangeliums wieder entzündet« worden sei.4 Im Sinn des Renaissancegedankens wird Luther dafür gedankt, »die Kirche aufs Neue zu den Quellen zurückgerufen« zu haben. Erst die spätere lutherische Geschichtsschreibung – der Sache nach, aber noch nicht explizit bereits Matthias Flacius – deutet die verschiedenen spätmittelalterlichen Reformationsbemühungen als Weissagungen auf Luthers Werk und dieses selbst als die eigentliche Reformation der Kirche. Offenbar war es Veit Ludwig von Seckendorf, der 1688 in einer Verteidigungsschrift gegen den Jesuiten Maimbourg erstmals Luthers Wirken ausdrücklich als »reformatio religionis« bezeichnete. Hierbei wirkt freilich der altrechtliche Sprachgebrauch nach, was darauf zurückzuführen ist, dass in den evangelischen Territorien inzwischen ein neues Ordnungsgefüge entstanden war, welches nun freilich nicht mehr durch das altkanonische Recht, sondern durch das von Luther wieder ans Licht gebrachte Wort Gottes bestimmt wurde.

Die historiographische Sicht der von Wittenberg und Zürich ausgehenden Umwälzungen als Reformation ist vor allem durch die reformierte Entwicklungslinie des evangelischen Glaubens vertreten worden, die hierbei ihrerseits unter humanistischem Einfluss steht. Zwingli hatte seine Wirksamkeit mit der von ihm gehegten Hoffnung auf eine Wiederherstellung des Christentums (spes renascenti Christi et evangelii) in Verbindung gebracht und auch Calvins Nachfolger Theodor Beza sprach im humanistischen Sinne von der Renaissance und dem Wachstum der reformierten Kirchen. Seit dem Ende des |13|17. Jahrhunderts setzt sich auch in der allgemeinen Geschichtsschreibung der Reformationsbegriff für die in Rede stehende Epoche durch, wobei die Datierung ihres Anfangs und die innere Einheit der ihr zuzurechnenden Bewegungen bis heute strittig geblieben ist.

Einheit und Vielfalt der Reformation

Ob es die Reformation überhaupt gegeben hat oder ob es sich bei ihr lediglich um ein historiographisches Konstrukt späterer Generationen handelt, ist in den beiden letzten Jahrzehnten Gegenstand von kirchenhistorischen und theologischen Debatten geworden. Der Begriff des Reformatorischen bezeichnet eben nicht nur eine historische Epoche, sondern zugleich die aus ihr abgeleiteten theologischen Normen und identitätsstiftenden Grundüberzeugungen evangelischen Glaubens und evangelischer Kirchen.

Die neuere kirchengeschichtliche Forschung hat das Bild von der einen Reformation, die mit Luther ihren Anfang nahm und sich erst im weiteren Verlauf in verschiedene Richtungen aufspaltete, gründlich revidiert. So gewiss Luther die impulsgebende und zentrale Gestalt der Reformation in ihren Anfängen war, so wenig dürfen die Reformation und das Reformatorische auf Luther beschränkt werden. Zwar haben sich alle übrigen Reformatoren mehr oder weniger intensiv auf Luther und seine Rechtfertigungslehre bezogen, doch ist das einseitige Bild von der Reformation als Luther-Rezeption, das im Bann der durch den Kirchenhistoriker Karl Holl eingeleiteten Lutherrenaissance steht, in den vergangen Jahren zurechtgerückt worden. Weder Zwingli noch Johannes Calvin, der bedeutendste Reformator der zweiten Generation, lassen sich hinreichend als Schüler Luthers verstehen. Eine solche Sicht führt auch zu einer theologischen Verengung, wonach die Übereinstimmung mit Luther oder die Abweichung von ihm zum Maßstab des Reformatorischen erklärt wird. Abgesehen davon, dass Luther selbst eine theologische Entwicklung vollzogen hat, so dass schon die Frage entsteht, welcher Luther denn nun zur theologischen Norm erklärt werden soll – der frühe oder der späte –, und abgesehen davon, dass es innerhalb des Luthertums schon im 16. Jahrhundert über die authentische und rechtmäßige Gestalt lutherischer Lehre zu heftigen Auseinandersetzungen kam, führt eine Gleichsetzung von Luther und Reformation dazu, dass jede Abweichung von Luthers Denken negativ als Abfall vom normativen Ursprung, als Verfallsgeschichte oder als »Wildwuchs« apostrophiert wird. Zwingli |14| oder auch Calvin – um nur diese Reformatoren zu nennen – agierten nicht nur in einem anderen politischen Kontext als Luther und Melanchthon, sondern ihre Theologie folgte durchaus anderen Organisationsprinzipien als diejenige Luthers. Davon abgesehen, steht Luthers umfangreiches Werk, das praktisch ganz aus Gelegenheitsschriften besteht, die in ihrem jeweiligen historischen Kontext interpretiert werden müssen, auch systematisch-theologisch im Konflikt der Interpretationen und Auslegungsschulen. Der Kirchenhistoriker Volker Leppin spricht gar vom »Vexierbild«5 Luther und vertritt die These, dass die Zentralstellung der Rechtfertigungslehre bei Luther »einem Klärungsprozeß entsprang, der dem realhistorischen Geschehen der Reformation nicht vorausging, sondern ihn begleitete und verarbeitete«6.

Ob und inwiefern man in Anbetracht der Vielfalt reformatorischer Bewegungen überhaupt noch von der Reformation als einheitlicher Realität sprechen kann, mit der geschichtlich etwas Neues entstanden ist, wird heute unterschiedlich beantwortet. Auf der einen Seite steht die These, dass aus kirchenhistorischer Sicht nach wie vor auf dem epochalen Umbruchcharakter der Reformation und ihrer theologischen Einheit zu beharren ist. Wie schon Bernd Moeller sieht z. B. Thomas Kaufmann in Luther weiterhin die »Schlüsselfigur der reformatorischen Bewegung, sowohl im Hinblick auf ihre Kohärenz als auch in Bezug auf die Pluriformität ihrer Ausprägungen«7. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Moeller von der »Lutherischen Engführung« der frühen Reformation spricht.8 Die Gegenposition vertritt Dorothea Wendebourg. Ihrer Auffassung nach war es die Gegenreformation, d. h. der von außen kommende Druck auf die verschiedenen reformatorischen Bewegungen, welcher die Einheit der Reformation allererst schuf.9 Volker Leppin hat diese These dahingehend modifiziert, dass das Vorgehen Roms gegen die durchaus disparaten Bewegungen auf eine Gemeinsamkeit verweise, nämlich die Lehre vom allgemeinen Priestertum, also die Aufhebung der Unterscheidung von Klerikern und Laien, die für Luther mit der Rechtfertigungslehre |15| zusammenhing und in allen reformatorischen Bewegungen »systemsprengend« wirkte. Leppin zeichnet freilich das Bild eines langen kirchenhistorischen Prozesses, der schon im Mittelalter beginnt und erst in der Aufklärung seinen Gipfel erreicht. Obwohl er mit einem Begriff Bernd Hamms10 vom systemsprengenden Charakter der Lehre vom allgemeinen Priestertum und ihrer Verbindung von theologischem Denken und Umgestaltung von Kirche und Gesellschaft spricht, vermag er in der Reformation geschichtlich und theologisch keinen epochalen Umbruch zu erkennen.

 

Während Leppin die Reformation als kontinuierlichen Transformationsprozess beschreibt, interpretiert sie Hamm überzeugender mit Hilfe des Emergenzbegriffs. Auch Hamm rückt also von der traditionellen These von der Reformation als plötzlichem Umbruch ab, hält aber den Transformationsbegriff nicht für ausreichend, »um den systemsprengenden Innovationscharakter der Reformation insgesamt zu verstehen«11. Emergenz im Sinne Hamms bedeutet die »Verbindung von Kontinuität und qualitativem Sprung«12, der im Ergebnis doch zu Brüchen mit den bestehenden kirchlichen und theologischen Verhältnissen geführt hat, zum systemsprengenden Bruch nicht nur mit dem hierarchischen Prinzip in der Kirche und der Unterscheidung von Klerikern und Laien, sondern vor allem auch im Heilsverständnis und in der Rechtfertigungslehre.13 Verglichen mit der spätmittelalterlichen Barmherzigkeitstheologie, welche die Mitwirkung des Menschen an seinem Heil auf ein Minimum reduzierte, ist der Schritt zur Rechtfertigungslehre Luthers, wonach der Mensch rein gar nichts zu seinem Heil beisteuern kann, sondern allein aufgrund der göttlichen Gnade und allein aufgrund seines Glaubens an das ihn von seiner Sünde freisprechende Wort gerettet wird, einerseits »eine fast schon logische Fortsetzung« und andererseits doch »ein kontingenter qualitativer Sprung«14. Die Reformation bedeutet demnach nicht eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Gedanken der spätmittelalterlichen Theologie, sondern führt im Ergebnis durchaus zum Abbruch bisheriger Prozesse und zum Beginn von qualitativ neuen Entwicklungen. Der komplexe, systemtheoretisch begründete Emergenzbegriff Hamms, |16| der in sachlicher Nähe zu Modellen der Chaosforschung steht, stellt in Rechnung, dass man das Neue nicht ohne das Bisherige verstehen kann, betont aber, dass dies das Neue eben nicht lückenlos kausal ableiten lässt, weil das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, so dass man doch von einer überraschenden, sprunghaften Zäsur sprechen muss.15 Ähnlich argumentiert der Reformationshistoriker Heiko A. Oberman: Wer Luther ganz in der Kontinuität der franziskanisch-nominalistischen Theologie und ihrer Metaphysik verstehen wolle, werde der Innovationskraft des Wittenberger Reformators nicht gerecht. »Auf der Grundlage dieser Prämissen wird uns […] auch die intensivste Forschung keinerlei Erkenntnisse über Luthers Denken liefern.«16