Geschichten sind überall zu Hause

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Geschichten sind

überall zu Hause

Neue Kurzgeschichten

für zwischendurch

von

Ulrich Borchers

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Cover: Nadja Meier

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Vorwort

Im Nachfolger der „Sushi-Texte, Kurzgeschichtenhäppchen für zwischendurch“ ist wieder eine Vielzahl von Kurzgeschichten vereint, die im Rahmen von Wettbewerben und Ausschreibungen bereits in einigen Anthologien veröffentlicht wurden. Die Texte sind dabei vielfältig wie das Leben. Nicht immer süß, aber auch nicht immer bitter. Das Leben ist bunt und so sollte es sich auch präsentieren.

Eine Unterteilung nach Genre oder Stimmung ist bewusst nicht getroffen worden, also ein Überraschungsmenü.

Neue Texthäppchen sind angerichtet: Guten Appetit!

Mehr auf: http://ulrichborchers.jimdo.com/​

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Henriette

Welcher denn nun?

Ü-50

Alte Liebe rostet nicht

Banküberfall

Der Dösbaddel und das Schweigen der Lämmer

Malawi … ganz weit weg

Aufgetaucht

Auch eine Art von Seebär

Geplatzte Wurst

Sein schwerster Gang

Auf den Hund gekommen

Winter im Café

Spezialität des Hauses

Ein Talisman bringt Glück

Über die Fähigkeit glücklich zu sein

Knochenmühle

Aus gutem Grund?

Evolution

Lebe Deinen Traum?

Weichenstellung

Mein Freund Harry, Stier seines Zeichens

… und die Königskinder fallen sich in die Arme

34’er!

Fußnote

Henriette

Ich hätte viel zu erzählen von meinem Jahr auf See. Und das werde ich auch noch. Vielleicht wird es ein Buch füllen, wer weiß … Mir hat es jedenfalls so viel gegeben, dass ich mein Leben lang davon gut haben werde. Ein Schatz, den ich entdeckt und geborgen habe. Ein Schatz, der mich bis an das Ende meines Lebens reich bleiben lässt.

Heute erzähle ich aber die Geschichte Henriettes. Die unglaublichste Geschichte meiner einjährigen Segelreise. So unglaublich, dass meine Freunde sie für Seemannsgarn halten. Doch ich weiß, was ich erlebt habe.

Sabbatjahr. Ich hatte schon immer auf mein großes Ziel gespart. Ein halbes Leben lang hatte ich Bücher von Weltumsegelungen verschlungen. Mein großer Traum. Aber, wer nur träumt, wacht niemals auf. Für die Rente hatte ich es mir vorgenommen. Eines Tages dachte ich mir: „Jetzt habe ich meinen 50-jährigen Geburtstag schon in Sicht. Es geht mir gut. Wird es nicht Zeit aufzuwachen? Meinen Traum zu leben?“ Da ich auf niemanden Rücksicht nehmen musste, zauderte ich nicht lange, sondern sagte eines Tages laut zu mir selbst: „Ja, es ist Zeit!“ Passanten drehten sich verwundert zu mir um. Egal. Ich hatte die Entscheidung meines Lebens getroffen.

Freunde, Verwandte, Kollegen und mein Arbeitgeber schüttelten den Kopf. Sabbatjahr. Damit würde ich mir eine hervorragende Aufstiegschance in der Firma verbauen. Na und? Wer hoch steigt, kann tief fallen und dann werde ich vielleicht weder Lust noch Kraft haben, diese Reise anzutreten. Und so entschied ich mich. Ich wollte in diesem Jahr nicht die Welt umsegeln, aber einen großen Teil davon. Von Kreta bis in den Südpazifik sollte es schon reichen, dort wollte ich mir ein wenig Zeit lassen. Kreta, New York, St. Thomas, Samoa. Nur Paul, der glaubte an mich. Seine Unterstützung ging allerdings weiter, als ich es mir gewünscht hätte. Er hatte mich nach Kreta begleitet, wo mein neues Segelboot ausgerüstet lag. Paul hatte die letzten Tage mit mir verbracht und hatte nun, als es losging, ein ganz besonderes Präsent für mich.

„Hallo Hauke, ich habe Dir eine Begleiterin besorgt. Sie heißt Henriette. Ich weiß, was Du brauchst!“

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Da stand mein bester Freund und hatte mir eine Begleiterin besorgt. Ja, spinnt der denn? Ich hatte mich nach persönlichen Enttäuschungen zum Einsiedler entwickelt, mir stand nicht mal nach einer Beziehung der Sinn und jetzt sollte ich mir so was aufhalsen.

Paul sah mein entsetztes Gesicht und hob beschwichtigend die Hände: „Ich weiß, was Du sagen möchtest, aber keine Widerrede. Du musst und kannst Dich nicht mit ihr unterhalten, sie stört nicht, sie wird für Dein Frühstück sorgen und ich habe Dir lang und breit erklärt, warum Du jemanden wie sie an Bord haben musst. Griechisch kann ich nicht, deshalb nenne ich sie Henriette.“

„Wo hast Du sie überhaupt her“, fragte ich ihn.

„So eine kriegt man hier an jeder Ecke. Sie kommt vom Land.“

„Mensch Paul, ich weiß nicht.“

„Ne, Hauke keine Diskussion. Vertraue Deinem Freund. Du weißt, Du kannst es mir nicht abschlagen und auf Deinem Zehn-Meter Schiff wird ja noch genug Platz sein.“

Ich bin ein schwacher Mann. Zumindest kann ich einem Freund nichts abschlagen. Henriette ging wie selbstverständlich an Bord. Ich segelte los, winkte Paul, verdrückte eine Abschiedsträne und sah mit einem skeptischen Blick auf Henriette, die teilnahmslos an Bord rumlief. Na, das kann ja was werden, dachte ich mir. Aber bald war ich erfüllt mit Glück. Endlich, es ging los.

Von Kreta westwärts 580 Meilen Richtung Malta. Ich genoss es, unterwegs zu sein. Meinen Traum zu verwirklichen. Bei schönem Wetter trieb sich Henriette an Bord herum und bei schlechtem war sie flugs unter Deck. Überall hinterließ sie ihren Dreck, sodass ich hinter ihr herräumen musste. Für das Frühstück sorgte sie tatsachlich, aber das war es dann auch. Es fiel mir doch schwerer als gedacht, allein an Bord zu sein, aber sie reagierte nicht, wenn ich sie ansprach. Ein kurzer Blick und ansonsten ignorierte sie mich. Was hatte sich Paul bloß gedacht. Die Monatskarte versprach gutes Wetter und die Zusage wurde nicht gebrochen. Auch die letzten 350 Meilen bis Gibraltar verbrachten meine Begleiterin und ich bei besten Wetterverhältnissen. Doch ich musste zugeben, Henriettes Ignoranz kränkte mich. Das war ich nicht gewohnt.

Der Atlantik sollte alles ändern.

Nachdem wir die Südküste Portugals passiert hatten, lagen die Bermudas 2000 Meilen vor uns. Nach drei Tagen schwächlichen Windes ging es los. Ein Albtraum erwartete uns auf dem schlecht gelaunten Ozean und wir verkrochen uns gemeinsam unter Deck, um dieses Höllenfeuer zu überstehen. Inzwischen ärgerte mich Henriettes Anblick und ich sah in ihrer stummen, alles durcheinander bringenden Art die Schuld für meine missliche Lage. Als der Sturm am dritten Tag endlich einschlief, war ich voller Wut. Und dann passierte es.

Henriette bemerkte auch den Sonnenschein und die ruhige See am Morgen und stürmte an Deck. Zu schnell. Sie rutschte über das nasse Deck und landete in Sekundenschnelle im Wasser. Sie schlug wie wild um sich und ja, sie schaute mich zum ersten Mal an. Fast flehend. Und ich? Ich überlegte, ob es nicht besser so wäre und ich einfach weitersegeln sollte. Da hörte ich hinter mir ein Geräusch. Und das Folgende wollen mir meine Freunde nicht glauben, aber es ist wahr.

 

Ich drehte mich um und da saß er. Er trug einen Südwester, aber seine roten Haare quollen darunter hervor. Die Pfeife lässig im Mundwinkel packte er seine Sachen in die große Seemannskiste, die vor ihm stand. Seinen Hammer hatte er zu diesem Zweck auf die Seite gelegt und unterbrach seine Tätigkeit nur, um sich kurz grüßend mit zwei Finger an die Stirn zu tippen. Der Klabauter. Er packte. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn er ein Schiff verlässt.

Ich zögerte nicht, und segelte eine Wende. Henriette war aufgrund der stillen See immer noch auf Sicht. Sie schlug um sich und als ich sie nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte, schien sie ihre Kraft zu verlassen. Ich sicherte mich und ließ mich über Bord hängen, schnappte sie mir mit einem Ketscher und schleuderte sie an Deck. Da stand sie nun und flatterte wie ein aufgeregtes Huhn. Naja, schließlich ist sie auch eins. Womit hatte mir Paul in den Ohren gelegen? Nach jedem alten Seemannsbrauch gehört ein Huhn zur Abschreckung des Klabautermannes an Bord. Ich schaute ihn an. Er lächelte, nahm seinen Hammer und seine Seemannskiste und ging wieder unter Deck. Henriette, das nasse Huhn, schaute ihm teilnahmslos hinterher. Dann kam sie zu mir und strich mir um die Beine, wie eine Katze. Ich war gerührt.

Sie hat mich dann noch bis in die Südsee begleitet. Viel haben wir erlebt in diesem Jahr und sie hat mir sogar geholfen, meine Beziehungsangst zu überwinden. Natürlich nicht mit Henriette sondern mit Sandy, die ich in New York kennengelernt habe. Kein dummes Huhn, sondern eine liebevolle Australierin. Aber das ist eine andere Geschichte.

Welcher denn nun?

Zählen ist einfach. Eins, zwei, drei … wo ist das Problem? Habe ich als Kind gedacht.

Vom ersten Kuss erzählen, und schon stehe ich im Regen. Welcher war denn für mich der erste?

In der Tradition meiner ersten Zählversuche käme er von meiner Mutter. Zärtlich, liebevoll hat er mir mein Urvertrauen geschenkt: Alles ist gut! Aber zählen Mütter beim Küssen? Vielleicht käme meine Oma in Betracht. Nur, ich erinnere mich ungern an diesen riesigen feuchten Mund, der sich mir bedrohlich näherte. Nicht immer gelang es mir, meinen Kopf rechtzeitig beiseite zu drehen. Gewässert begriff ich zwar geliebt zu werden, nur gemocht habe ich es nicht.

Also kommen wohl eher nichtverwandte Geschöpfe des angehimmelten Geschlechts in Betracht. In meinem Fall Mädchen. Damit kommt Jutta ins Spiel. Nett, kumpelhaft, burschikos, war sie die erste aus dieser Gruppe, die ihre Lippen auf meine drückte. Wahrheit oder Pflicht haben wir am Strand gespielt und die Aussicht, die Wahrheit zu erzählen, erfüllte mich mit solcher Panik, dass ich mich für Pflicht entschied. „Jutta mindestens zehn Sekunden lang unter Wasser küssen!“, lautete der Auftrag. Schon zweifelte ich an meiner Wahl. Während ich todesmutig, aber besorgt auf das Wasser zuging, entdeckte ich bei Jutta eine gewisse Vorfreude. Sie hüpfte dem Nass regelrecht entgegen. Hatte ich da was verpasst? Unter Wasser wurde ich nicht nur das erste Mal von einem Mädchen geküsst, sondern begriff auch die Funktionsweise eines Staubsaugers. Ich war froh, meine Zunge behalten zu dürfen. Soll das der erste Kuss gewesen sein? Nein, zählen ist schwierig.

Und wenn ich mich für die Wahrheit entschieden hätte? Vielleicht hätte ich meine Liebe zu Ute gestehen müssen. Was wäre dann passiert? So zog ein halbes Jahr ins Land bevor ich Ute küsste. Küsse sind keine Erbsen, die sich ja anscheinend hervorragend zum Zählen eignen. Sie sind etwas Besonderes, etwas Aufregendes, etwas Tolles, etwas Schönes … etwas, was Dich verändert. Nachdem ich Ute geküsst hatte, war ich verändert. Ein halbes Jahr lang werben und vor Schüchternheit sterben und sich seiner unsterblichen Liebe sicher zu sein, fand endlich seine Erfüllung. Hand in Hand am Strand, an dem mich Jutta sechs Monate zuvor fast ausgesaugt hätte, zitterte ich fast mehr vor Aufregung als vor Kälte. Und kalt war es. Saukalt! Aber als sich unsere Lippen trafen, spürte ich die Kälte nicht. Ich war auch nicht mehr aufgeregt. Glückselig, wie man sich nur bei seiner ersten Liebe fühlt.

Danach gab es noch andere Küsse: Leidenschaftlichere, erotischere, verbotene, erhoffte, befürchtete, endgültige … aber: Doch, zählen ist einfach.

Ute, das war mein erster Kuss.

Ü-50

„Ich hol Dich dann nachher ab.“

„Wann?“

„Halb zehn!“

„Okay, bis dann Petra.“

Marianne legt das Handy beiseite und zieht tief an der Zigarette. Ich sollte nicht rauchen, denkt sie. Gibt gelbe Zähne und stinkt. Mögen die Männer nicht, aber wenn ich aufhöre, werde ich wieder dick. Mögen die meisten auch nicht. Sagen zwar immer, es sei ihnen egal, aber dann fordern sie die Schlanken auf. Sie sitzt in der Küche, da kann sie am besten lüften. Dann riecht es wenigstens nicht in der übrigen Wohnung. Vielleicht kommt jemand mit, man weiß ja nie. Ob der raucht ist egal, Raucher stören sich nicht am guten Geruch. Wie spät ist es? Zwanzig Uhr. Wird Zeit, sich zurechtzumachen. Petra wird sich wieder total aufgebretzelt haben. Na ja, die anderen Frauen auch.

Bei den Männern sieht das anders aus. Von einigen glaubt sie, dass sie sich am Samstagabend mit Bierflasche auf dem Sofa rumlümmeln, um sich dann in den gleichen Klamotten zur Ü-50 auf zu machen. Mal sehen, was da so rumläuft. Schick machen müssen sie sich nicht, sie haben ja herausragende innere Werte. So wie dieser Hackfleisch-Harry, Schlachter seines Zeichens.

Den Spitznamen hat ihm Petra gegeben. Der betont immer, dass er Humor hätte und wie viel Spaß man mit ihm haben könnte. Letztes Mal kam er in einem total zerknautschten T-Shirt auf dem stand: „Lieber eine unbekannte Erregte, als einen unbekannten Erreger.“ Nein, Hackfleisch-Harry ist nicht ihr Favorit. Aber es gibt Schlimmere.

Gott, ist das Licht im Bad grell und unerbittlich. Das Schminken wird immer aufwendiger. Dieses Problem mit den Augenfältchen hatte sie nicht, als sie noch zur Ü-40-Zielgruppe gehörte. Auf einmal könnte sie weinen. Wie lang macht sie das jetzt schon mit? Seit acht Jahren ist sie jetzt geschieden. Irgendwie typisch gelaufen damals, Kinder groß, der Mann an ihr uninteressiert, aber nicht an anderen und völlig unterschiedliche Interessen. Gelebte Langeweile. Aber ist es jetzt besser? Es laufen so viele Spinner da draußen herum. Nicht eine vernünftige Beziehung in der ganzen Zeit. Sie atmet tief durch. Doch, es ist zwar nicht gut, aber besser als damals. Wann wird es endlich wieder richtig gut? So wie am Anfang ihrer Ehe. Mal sehen, vielleicht hat sie heute Abend Glück.

Zweimal hupt es unten auf der Straße. Petra ist da. Sie holt schon mal den Piccolo aus dem Kühlschrank. Sie trinken sich immer ein wenig in Stimmung bevor es losgeht, die Getränke sind dort unverschämt teuer. Mehr als zwei, drei am Abend sind nicht drin. Es ist schwer genug, finanziell klar zu kommen. Das ist etwas, was früher definitiv besser war. Zurück müssen sie immer mit dem Taxi. Marianne holt dann am nächsten Tag den Wagen und bringt ihn zu Petra. Dort tauschen sie sich dann immer über den gestrigen Abend aus. Viel zu selten gibt es mal etwas Spannendes zu erzählen, etwas Schönes fast nie.

„Hallo Hübsche, Dich haben die Männer gar nicht verdient“, wird sie von Petra begrüßt.

„Ich weiß“, sagt Marianne. „Aber müssen sich denn alle daran halten?“ Sie lachen. Diese Momente bevor sie losgehen sind manchmal die besten.

„Akim hat mich die Woche besucht.“ Petra sagt das ganz beiläufig, aber Marianne bemerkt ihre Unsicherheit.

„Was willst Du hören, Petra? Mich hat er auch schon mal besucht und fast jede, die regelmäßig im Nexus zur Ü-50 ist. Wenn es Dir gut getan hat, okay. Es ist schön, sich wenigstens ab und zu als Frau begehrt zu fühlen. Und das hat Akim drauf.“

Beide schweigen.

„Mehr aber auch nicht, lass uns los.“ Petra drückt die Zigarette aus.

Susanne hat ihren Stammplatz am Tresen frei gehalten. Dafür ertragen sie, dass Susanne den ganzen Abend über die Musik schimpfen wird. Der DJ, der berufsmäßig Richy zu heißen hat und dies auch erfüllt, wird wieder von ihren voluminösen Airbags unbeeindruckt sein. Die legt sie ihm immer fast auf die Musikanlage, wenn sie ihre schon beeindruckende Oberweite noch weiter nach oben quetscht. Keine Chance, Richy steht weder auf diese Aussicht noch auf Olivia Newton John und die Flippers. Gott sei Dank.

Willi hat die Drei entdeckt. Der war mal bei Bauer sucht Frau, leider erfolglos. Jetzt betanzt er dafür hier die Frauen. Er gehört zwar zu den wenigen Männern, die tanzen können, aber er hat so fürchterlich feuchte Hände. Und dann will er immer drehen. Einmal hatte er Marianne so rumgeschleudert, dass sie aus der schwitzigen Hand rutschte, dann über die ganze Tanzfläche kugelte und auf dem Bauch liegen blieb. Es gibt davon einige Handyfotos, die ihr liebenswerterweise zugemailt wurden. Seitdem verschont er sie und heute ist Susanne dran. Die freut sich. „Ist zwar blöde Musik, aber gerne.“

Es ist anstrengend den gesamten Abend so zu wirken, dass sich die Spinner nicht animiert fühlen, aber die interessanten Typen nicht abgeschreckt werden. Einer ist aufgetaucht, den sie toll findet. Der ist das erste Mal da. Kein Ring, aber das hat nichts zu sagen. Sie beobachtet, dass er keine auffordert. Um nicht arrogant zu wirken, nimmt Marianne jede Tanzaufforderung an. Einer hat die Hand schon auf dem Weg zur Tanzfläche auf ihrem Hintern und ein Psycho spricht nur von seiner Scheidung und wie schrecklich es sei, wieder auf die Pirsch gehen zu müssen. Er drückt sich tatsächlich so aus. Dann noch ein Sturzbetrunkener und zwei, drei absolute Langweiler. Endlich fordert sie dieser tolle Mann auf. Er kann tanzen, ist witzig, unterhaltsam und erstaunlicherweise normal. Unglaublich, dass es so etwas gibt. Es stört sie auch nicht, dass er ihr beim ersten Kuss die Zunge in den Mund schiebt. Lieber forsch, als zu schüchtern. Dann beugt er sich vor und sagt: „Können wir zu Dir? Meine Frau ist zwar zur Kur, aber die Nachbarn.“ Sie fühlt sich wie vorhin im Bad, hört das denn nie auf? „Ne, lass man“, antwortet sie nur und dreht sich ab.

Heute ist ihr alles egal und sie bestellt noch weitere Getränke. Aufforderungen nimmt sie nicht mehr an. Ist denn hier gar kein kleines Glück versteckt? Wo denn dann? Gegen drei Uhr ist sie ziemlich angetrunken und zum Glück will Petra los.

Marianne lässt frustriert die Schlüssel auf den Küchentisch fallen. Wieder einmal allein nach einer Ü50-Party in der eigenen Wohnung. „Ich fühle mich wie ein Stück Obst bei Lidl. Jeder will mich drücken, aber keiner nimmt mich mit nach Hause!“ Entnervt zieht sie an der Zigarette und fürchtet sich insgeheim vor dem Aussortiert werden. Scheiß Discountermentalität.

Alte Liebe rostet nicht

Manchmal denke ich an meine Kindheit. Da war noch alles gut. Tochter aus gutem Haus, „gutgewachsen“, wie meine Mutter sagte, und klug, sogar gescheit, nicht schön, aber hübsch. Vielleicht ein wenig zu ernsthaft doch mit keiner dieser negativen Eigenschaften versehen, die jungen Mädchen allzu gern unterstellt werden. Ich war weder zickig noch albern. Eine gewisse Selbstverliebtheit will ich mir nicht absprechen, aber ist es zu verurteilen, wenn man sich seiner guten Eigenschaften bewusst ist? Ich sehe mich noch vor dem großen Spiegel in unserer Diele um die eigene Achse drehen. Beim Anblick meines Bildes dachte ich: „Der wird einmal Glück haben, der dich abkriegt!“ Während mein Vater seine kleine Prinzessin in ihrem Glauben bestärkte, sah mich meine Mutter zunehmend kritisch an.

„Vergiss bei der Suche nach dem Richtigen nicht, ausreichend Spaß mit den Falschen zu haben“, riet sie mir eines Tages.

Das fand ich unmöglich. Nein, ich wollte nicht den Ersten, ich wollte den Besten. Nicht, dass es keine Interessenten gab. An meiner Schule gab es genug pubertierende Jünglinge, die in ihrem testosterongeschwängerten Übermut all ihre Schüchternheit über den Haufen warfen und mich todesmutig ansprachen. Freundlich aber bestimmt machte ich sie darauf aufmerksam, dass sie zwar ganz nett wären, meiner Idealvorstellung eines Freundes aber leider so überhaupt nicht entsprächen. Unfreundlich und sehr bestimmt setzten sie daraufhin andere darüber in Kenntnis, dass ich eine eingebildete Kuh wäre. Ab dann wurde alles schlecht.

Ich hatte ein- oder zweimal zu oft junge Himmelsstürmer abblitzen lassen. Die vergnügten sich mit ihren albernen, zickigen Freundinnen und amüsierten sich gemeinsam über die Jungfer Frauke. Viele junge Männer halten sich für Prinzen, verhalten sich aber nicht so. Wer begibt sich schon in Gefahr und tötet den Drachen, um sich dann von dem Burgfräulein anhören zu müssen: „An sich hatte ich jemanden anderen erwartet!“ Das Brandmal war gesetzt, der Makel haftete mir an. Wie Pech klebte er an mir, sodass jeder Mann die Finger von mir ließ, um sie sich nicht zu verbrennen. Ende zwanzig hatte ich weder mit dem Richtigen noch mit den Falschen auch nur irgendeine Art von Spaß. Ich war nicht verklemmt und hatte mich auf dem Gebiete der Theorie zu einer wahren Fachfrau entwickelt. Doch sexuelle Erfahrungen hatte ich nur durch mich selbst, was mich noch mehr beschämte, als das es mich traurig machte.

 

Ich beschloss umzuziehen. Weg aus der anonymen Großstadt Hamburg in das verträumte, kleinstädtische Flensburg. Hier wollte ich mich ändern, das Brandmal herausschneiden, den Spaß suchen, egal mit wem und auf welche Art und Weise.

Vor sich selbst kann man nicht fliehen.

Fünf Jahre später sah es bei mir immer noch nicht anders aus. Zwar wurde ich angesprochen, es gab ernsthafte Anwärter, aber ich konnte den Mantel der Keuschheit nicht ablegen. Sie waren allesamt Frösche für mich. Bei keinem von ihnen versprach ich mir die erhoffte Verwandlung. Ach, wenn es doch nur so gewesen wäre, stundenlang hätte ich sie geküsst, wenn am Ende dann doch der erträumte Prinz vor mir gestanden hätte.

Und dann kam Tom.

Allein schon dieser Name. Kein abgekürzter Thomas, nein ein echter Tom. Wie gerne hätte ich bei seiner Frage nach meinem Namen geantwortet: „Kim.“ Sally oder Su wäre auch noch gegangen, aber ich brachte nur heraus: „Frauke.“ Zu meiner Überraschung blieb dieser blendend aussehende, charmante Tom stehen, lächelte mich mit seinen smaragdfarbenen Augen an und sagte: „Und was für eine Frau!“ Ich schmolz dahin. Es gibt Momente der Sicherheit, in denen du dir der Glückseligkeit so bewusst bist, dass du bedenkenlos ohne Fallschirm aus dem Flugzeug springen würdest. Was kann dir passieren? Alles ist gut und wird es bleiben. Dein Schicksal hat sich erfüllt.

Der Anfang unserer Beziehung war wunderbar. Toms Mittellosigkeit störte mich nicht. Einen reichen Mann hatte ich nicht gesucht und ich verdiente genug für uns zwei. Wir wohnten in einer schönen Wohnung in Jürgensby mit herrlichem Blick auf die Förde. Das Bett hatten wir direkt ans Fenster gestellt. Seine Nähe und Zärtlichkeit war berauschend. Er war überrascht, dass er meine erste Erfahrung war, doch nach kurzer Verunsicherung gefiel es ihm, mein Lehrmeister in diesem für mich neuen Fach zu sein. Ich genoss es, lernte eifrig und lag erschöpft und glücklich in seinen Armen. Tom zog an seiner Zigarette und schaute mit mir auf den Hafen. Ich war glücklich.

Wir gingen immer Hand in Hand die Sankt Jürgen Treppe herunter und schlenderten durch Flensburgs Innenstadt. Eines Tages überraschte ich ihn mit einem kleinen roten Vorhängeschloss, in das ich unsere Namen und ein Herz eingraviert hatte. Ich hatte von dieser neuen Sitte gehört, die in einigen Städten schon weit verbreitet war und war ein wenig stolz, die erste Liebesschloss-Treppe in Flensburg einzuweihen. „Ich finde das mit dem Schloss sehr passend. Ich bin die Prinzessin und Du der Prinz.“ Leuchtend rot prangte es jetzt als erstes dieser Liebesschlösser am Geländer am oberen Punkt der Sankt Jürgen Treppe.

„Das mit dem Prinzen gefällt mir“, sagte Tom lächelnd.

Misstrauisch wurde ich erst später.

Es fing an mit kleinen Bemerkungen meiner Kolleginnen. Typischerweise sind Frauen neidisch wenn es Konkurrentinnen, also anderen Frauen, zu gut geht. Ich ignorierte es daher. Allerdings nur eine Zeitlang. Tom war tatsächlich auffallend oft unterwegs und nicht nur während ich arbeitete. Er war als Künstler schon lange arbeitsuchend, aber der Markt schätzt so kreative Menschen nur bedingt. Sagte Tom jedenfalls. So müsste er auch zu ungewöhnlichen Zeiten unterwegs sein. Und dann diese Telefonate, die abrupt endeten wenn ich abnahm. Entweder war gar nichts zu hören oder lediglich ein schnelles „Oh, falsch verbunden“ einer jungen Frauenstimme. Irgendwann begann ich ihm nachzuspionieren.

Um zu sehen, musst du die Augen öffnen; es ist erstaunlich, wie lange Frauen in Beziehungen ihre verschließen. Zettel mit unbekannten Telefonnummern, Hemden, die nach fremdem Parfüm rochen, kleine Briefchen, fehlende Lust. Ich konnte mir sicher sein, doch immer noch hoffte ich, mich zu irren. Schließlich folgte ich ihm heimlich und sah ihn mit einer Blondine in den Eingang einer Wohnanlage verschwinden. Völlig aufgelöst lief ich zurück in unsere Wohnung und riss all seine Sachen aus den Schränken. Ich fand versteckt unter seinen Shirts eine aktuelle Vaterschaftsklage. Die Blondine war offensichtlich nur eine von vielen. Völlig verzweifelt ließ ich mich auf den Boden fallen und meinen Tränen freien Lauf. Dann traf ich eine Entscheidung.

Als Tom zurückkam, hatte ich bereits die Wohnung gekündigt und Sachen gepackt. Hier wollte ich nicht mehr leben. Jeden Tag in einer Umgebung, die mich an ihn erinnert? Nein danke! Ich teilte ihm mit, dass er vier Wochen Zeit hätte die Wohnung zu räumen und sich was Neues zu suchen, dann würde ich zurückkehren, um meine verbliebenen Sachen zu holen. Erst stritt er alles ab, aber als ich ihm die Vaterschaftsklage unter die Nase hielt, veränderte sich sein Verhalten.

„Was willst Du alte Jungfer eigentlich? Ich habe Dich doch erst leben lassen. Bist mit den paar Prozent, die Du von mir hattest, doch nicht schlecht gefahren.“

Ich ließ ihn wortlos stehen und hörte ihn nur hämisch hinter mir her lachen. „Das wirst Du noch bereuen“, rief er mir hinterher.

Dass er damit nicht die Beziehung meinte, merkte ich, als ich mit den Arbeitern des Umzugsunternehmens vier Wochen später die Wohnung betrat. Ein Schlachtfeld. Alle meine Sachen waren zerstört oder beschmutzt und lagen in der Wohnung zerstreut. Fernseher und Anlage waren nicht mehr da. Die Männer, die mich begleiteten, schüttelten nur den Kopf. Heil geblieben war allein ein Foto Toms, das auf der Fensterbank drapiert war und auf dem er mich mit seinem Schauspielerlächeln anstrahlte. „Sollen wir die Polizei rufen?“, fragten die Umzugsunternehmer.

„Ach was“, sagte ich bloß. „Fahren Sie alles auf den Müll und nehmen Sie das Foto mit.“ Ich nahm den Rahmen mit dem Bild meines ehemaligen Prinzen in die Hand und zischte es an: „Ich wünsche mir, dass Du Dich wieder in den Frosch verwandelst, der Du bist. Nie wieder soll eine Frau auf Dich hereinfallen.“ Dann gab ich den Männern den Schlüssel und machte auf dem Absatz kehrt. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich wegen Tom weinen würde.

Über zehn Jahre ist das jetzt her und ich bin seit diesem Tag wieder das erste Mal in Flensburg. Der Liebe wegen. Ich habe mit einem Hans mein Glück gefunden. Ein kleines, stilles Glück. Es macht mich froh. Er wechselt beruflich nach Flensburg und ich habe ihm gesagt, dass ich die Wohnung aussuchen werde, da ich mich dort auskenne. Er vertraut mir und so bin ich allein unterwegs und habe für uns eine tolle Penthouse-Wohnung mit Blick auf den Hafen gefunden. Jetzt stehe ich wieder oben an der Sankt Jürgen Treppe und schaue auf die Hunderte von Schlössern, die inzwischen hier angebracht wurden. Von wegen „alte Liebe rostet nicht“. Das Rot an unserem Schloss schimmert zwar noch durch, aber die Namen sind kaum zu lesen. Wieviel enttäuschte Lieben hier wohl noch hängen? Oder gab es glücklichere Fügungen als für mich damals?

Ich gehe die Treppe hinunter in Richtung Stadt und bewundere die Gärten, die beidseitig angelegt wurden. Kleine grüne Oasen mitten in der Stadt, fast wie kleine Parks. Bänke laden zum Verweilen ein und jetzt im April zeigt sich schon das erste zarte Grün. Sogar ein kleiner Teich wurde angelegt und als ich ihn mir näher betrachte, traue ich meinen Augen kaum. In dem kleinen Teich, der kaum so groß ist, wie meine zukünftige Küche, tummeln sich hunderte von Fröschen, die fast alles Wasser verdrängen. Unglaublich, so etwas habe ich noch nie erlebt. Alle sind sie ausgewachsen und finden kaum Platz. Teilweise sitzen sie aufeinander und buhlen quakend um die große Liebe. Ich blicke fasziniert auf dieses überquellende Leben, als mich plötzlich die smaragdfarbenen Augen eines Frosches anstarren. Er hat sich auf einen Stein gesetzt und schaut mich flehend an.

Es ist eine gute Entscheidung nach Flensburg zurückzuziehen in die Nähe der Sankt Jürgen Treppe. Ich gehe in die Knie und beuge mich vor zu dem einzelnen Frosch auf dem Stein und komme ihm ganz nahe. Er schließt die Augen und spitzt so gut es geht sein Froschmaul. So kann er nicht sehen, wie ich wieder aufstehe und hört nur meine Worte: „Tschüss dann Tom. Wir werden uns jetzt öfter sehen!“

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