Januargier

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Januargier
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Zwischen Realität und Fiktion schaut Ulrich Behmann wieder einmal tief in die Augen und in die Seele eines Serienmörders. Januargier ist ein überaus fesselnder Psychothriller, der eine erschütternde Realität aufdeckt: Serienmörder leben mitten unter uns.

Ruxandra Stănescu, Radio România, Deutscher Dienst

Authentizität und Akribie mit Tiefgang charakterisieren dieses überraschende dritte Buch des Hamelner Journalisten. In seinem unverwechselbaren Stil schildert er Begebenheiten, beschreibt er, wie immer akribisch recherchiert, anschaulich Menschen und Landschaften und gewährt erneut einen Blick in den Abgrund der menschlichen Seelen, wobei er seine Protagonisten bis zur

und manchmal auch über die Schmerzgrenze hinaus gehen lässt. Ehrlich gesagt: Wer am Schluss das Wort ,,ENDE“ lesen muss, würde am liebsten schon das nächste Buch Marke Ulrich Behmann in Händen halten.

Beatrice Ungar, Chefredakteurin

Hermannstädter Zeitung

Fesselnd, mitreißend - absolut lesenswert und ausgezeichnet

recherchiert. Ein echter Pageturner. Wechselnde Protagonisten und Handlungsstränge sorgen in diesem außergewöhnlich guten

Gerichtsmediziner-Krimi für knisternde Hochspannung.

Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen.

Dr. Detlef Günther, Leitender Oberarzt

Institut für Rechtsmedizin an der

Medizinischen Hochschule Hannover

Fesselnd, atmosphärisch dicht und vielschichtig, vor allem aber mal wieder ein Krimi, der es verdient, gelesen zu werden. Warum? Weil uns Ulrich Behmann mitnimmt in das Reich des Bösen und in die reale Welt derjenigen, die das Böse bekämpfen – und weil er als Kriminalreporter das Hintergrundwissen hat, das vielen Autoren fehlt. Ich konnte Januargier nicht aus der Hand legen. Dieser realitätsnahe Roman ist hoch spannend bis zur letzten Zeile. Ein Must-Read.

Roman von Alvensleben, Strafverteidiger

Präsident Gewaltfänger e.V., Verein für Friedfertigkeit

und Gewaltfreiheit

Inspiriert von wahren Kriminalfällen. Kriminalroman – Realität und Fiktion vermischen sich zu einem ganz neuen Fall.

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de

© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH

eISBN 978-3-8271-8405-4

Ulrich Behmann

Januargier


Mortui vivos docent – die Toten lehren die Lebenden

Leitspruch der Pathologen und Rechtsmediziner

Vorwort

In diesem spannenden Kriminalroman beschreibe ich eine perfide Tötungsart, die mitunter sogar bei größter Akribie von Rechtsmedizinern übersehen werden kann. Ein solcher Mord (mehr möchte ich an dieser Stelle noch nicht verraten) konnte deshalb erstmals im Jahr 1957 nachgewiesen werden. Sechs Ärzte hatten sich intensiv mit einem mysteriösen Todesfall beschäftigt. 1020 Mäuse, 90 Ratten und 24 Meerschweinchen mussten seinerzeit ihr Leben für die forensische Beweisführung lassen. Die Forscher veröffentlichten ihre Erkenntnisse im berühmten „British Medical Journal“. Der Fall ging in die Kriminalgeschichte ein. Der mutmaßliche Mörder Kenneth Barlow wurde zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Im Jahr 1984 kam er nach 26 Jahren frei – er hat bis zuletzt seine Unschuld beteuert.

Kapitel 1

Er schaute auf die schwefelgelben Gummihandschuhe, in denen seine Hände steckten. Sie waren mit dem Blut der Toten in Kontakt gekommen und sahen nun seltsam marmoriert aus. Das Muster erinnerte ihn an den „Rausch in Rot“, den er sich vor ein paar Monaten für 140 Euro bei Palundu im Internet bestellt hatte. Das Acryl-Gemälde hatte ihm sofort gefallen. Es schmückte jetzt sein Arbeitszimmer. An den Namen des Künstlers konnte er sich nicht erinnern.

Von dem kleinen Finger seiner rechten Hand tropfte Blut auf das kleine Tischchen aus Edelstahl, das im Schein der Neon-Deckenlampen funkelte. Eigentlich war alles wie immer. Er hatte sich gerade die Leber der jungen Frau genauer angeschaut, das Organ vorsichtig abgetastet – und schließlich zum Messer gegriffen, es in daumendicke Scheiben geschnitten, um es mit seinen wachen Augen ausgiebig von innen zu betrachten. Um ihn herum herrschte Stille. Das war eher unüblich für diesen Ort – obwohl dort der Tod allgegenwärtig war. Aber heute war alles anders. Er beobachtete sich selbst, sah von oben auf sich herab, so als stünde er wie ein nektartrunkener Kolibri in der Luft. Das war definitiv nicht normal. Menschen, die klinisch tot waren und in diesen Momenten wohl an der Schwelle vom Diesseits ins Jenseits standen, schilderten nach einer erfolgreichen Reanimation so ihre Nahtoderfahrungen. Lag er im Sterben? Was passierte gerade? Er war irritiert. Seine grünen Augen zuckten wild hin und her, berührten dabei seine geschlossenen Augenlider. Irgendein Geräusch schreckte ihn aus dem Schlaf. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er schweißgebadet daheim in seinem Bett lag und nicht im Sektionssaal stand. Doktor Karl Mertens richtete sich auf, stützte seinen Oberkörper auf seinen Ellenbogen ab und schüttelte sich wie ein nasser Pudel, so als wolle er einen Albtraum fortschleudern. Auf seiner Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet. Einige vereinten sich jetzt zu einem dicken Tropfen, der in Höhe seiner Stirnfalte auf seinen Nasenrücken lief und von der Spitze seines Riechorgans auf seine Brust tropfte. Durch das Fenster schien der Mond in sein Schlafzimmer. Das fahle Licht des Erdtrabanten ließ auf der weißen Schrankwand gruselige Schatten entstehen. Einer erinnerte ihn an die Abbildung eines fiesen Dämons. Aber das hier war nur das Schattenbild der Krusning-Hängelampe, die seine Frau Barbara im vergangenen Sommer bei Ikea gekauft hatte.

Mertens hatte schlecht geträumt. Von einer Leiche. Das war noch niemals zuvor geschehen. Er hatte in seinem Berufsleben schon mehr als 5000 Tote obduziert, sie mit scharfen Werkzeugen aufgeschnitten und deren Organe untersucht. Er schüttelte sich noch einmal, legte sich dann wieder auf den Rücken und dachte nach. Die Tote, von der er geträumt hatte, lag immer noch in einem Kühlfach des Instituts für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule, deren stellvertretender Leiter er war. Er hatte nicht herausfinden können, woran die junge Frau gestorben war, bei der Obduktion allerdings auch keine Spuren entdeckt, die auf Fremdverschulden hinwiesen. Vorerst gab es keine Anzeichen für Mord, Totschlag oder fahrlässige Tötung. Und dennoch hatte ihn diese Leiche bis in den Schlaf verfolgt. Das war neu für ihn – und wahrlich kein schönes Erlebnis. Jedenfalls beschloss der erfahrene Rechtsmediziner, sich den Leichnam ein zweites Mal anzuschauen. Er hatte in dieser Nacht das Gefühl, dass die Tote aus Kühlfach Nummer sechs ihm etwas sagen wollte. Wirst du jetzt auf deine alten Tage etwas crazy?, fragte er sich. Kurz bevor er wieder einschlief, kam ihm das lateinische Sprichwort „Mortui vivos docent“ in den Sinn. „Die Toten lehren die Lebenden“ – ja, so ist es, dachte er. Es war der Leitsatz aller Pathologen und Gerichtsmediziner.

Das erneute Krächzen des Fasans, das ihn wenige Minuten zuvor aus dem Tiefschlaf gerissen hatte, hörte Doktor Mertens schon nicht mehr.

Kapitel 2

Der Regen, den „Lolita“ mit Windstärke 9 vor sich hertrieb, bildete eine Wand aus feinen grauen Nadelstreifen, die den nahen grasbewachsenen Seedeich unsichtbar werden ließen. Dicke Tropfen schlugen mit großer Wucht gegen die Haustür. Drinnen hörte es sich so an, als würde jemand kleine Steine gegen das Haus werfen. Im Schlot pfiff der erste Wintersturm des neuen Jahres, das gerade einmal 29 Tage alt war, seine schaurigen Lieder. Immer dann, wenn der ohnehin schon kräftige Nordwestwind auffrischte und Schauerböen über das flache Land peitschten, klang es in dem mit roten Ziegelsteinen verklinkerten Haus am Deich so, als rausche draußen ein D-Zug vorbei.

Vor sich auf dem Esstisch zwischen ihren Händen stand eine dampfende Tasse Ostfriesentee. Herma saß in der Küche ihrer gemütlichen Friesenkate in Ostbense und starrte in Gedanken versunken durchs Küchenfenster hinaus in das eintönige Grau, das die Felder und die Wiesen, die Bäume und die Windräder verschluckt hatte. Nicht einmal die im Sekundentakt aufblitzenden Warnlichter, die auf den Maschinenhäusern montiert worden waren, um Piloten von Hubschraubern und Kleinflugzeugen vor einer Kollision zu warnen, waren zu sehen. Mit ihren Augen, die müde und traurig aussahen, fixierte sie geistesabwesend einen Maulwurfshügel, der inmitten einer großen Pfütze stand, die sich über Nacht in ihrem Garten gebildet hatte. Der schwarze Erdhaufen, der aus der überschwemmten Rasenfläche herausragte, sah aus wie eine Vulkaninsel. Das Bild erinnerte Herma an ihre Kindertage. Damals hatte sie keine Folge der Augsburger Puppenkiste verpasst. Wenn „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ über die Mattscheibe flimmerten, hatte sie immer gebannt die Abenteuer der beiden auf der fiktiven Insel Lummerland, die aus zwei Bergen bestand, verfolgt. Noch heute waren ihr der Refrain der Titelmelodie und die Darstellung des Meeres mit flatternder Klarsichtfolie, die von einem blauen Licht angestrahlt wurde, in Erinnerung geblieben. Herma stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ach ja ... Alles Scheiße“, hörte sie sich sagen. Das letzte Wort schoss zischend aus ihrem Mund. Es hörte sich an, als versprühe eine Schlange wütend ihr Gift.

 

Anfang Dezember war die Mordermittlerin in Hameln von einem Serienmörder attackiert, entführt und sehr schwer am Kopf verletzt worden. Herma hatte schwere Schädel-Hirn-Verletzungen davongetragen – und wie durch ein Wunder überlebt. Sie war dem Tod sehr nahe gewesen, hatte den Neurochirurgen der Medizinischen Hochschule Hannover ihr Leben zu verdanken. Knapp zwei Monate war das jetzt her. Herma van Dyck hatte sich nach ihrem wochenlangen Klinik­aufenthalt mühsam ins Leben zurückgekämpft, allerdings zugleich auch in ein Schneckenhaus zurückgezogen. Sie vermied bewusst den telefonischen Kontakt mit Harm Harmsen, der gerade an einer Polizeimission in Afghanistan teilnahm, und mit ihren Kollegen vom

FK 1 in Hameln. Herma hatte keine Lust, mit jemandem zu quatschen; sie war lieber allein. Die Kriminalhauptkommissarin befand sich in einer Art Sinnkrise. Sie fragte sich, ob der Beruf als Mordermittlerin, der vor wenigen Wochen noch für sie Berufung gewesen war, der richtige für sie war. Sie war dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. Sollte sie das Schicksal erneut herausfordern und weitermachen – so als wäre nichts geschehen?

Herma nahm einen Schluck Tee, stützte ihre Ellenbogen auf der Tischplatte ab und umklammerte die 100 Jahre alte handbemalte Porzellan-Tasse, die einmal ihrer Urgroßmutter gehört hatte, mit beiden Händen. Sie war hin- und hergerissen. Sollte sie ihren Job, den sie so liebte, an den Nagel hängen? Oder sollte sie ihre Ängste verdrängen und sich möglichst schnell wieder in die Arbeit stürzen? Diese Entscheidung konnte ihr keiner abnehmen. Sie musste sie ganz alleine fällen. Herma kam eine alte Reiterweisheit in den Sinn, die ihr Vater häufig zitiert hatte. „Runterfallen. Wieder aufsitzen. Zügel richten. Weiterreiten.“ So hatte sie es bislang auch immer gehalten. Aber die hinterhältige Attacke hatte ihr Leben gänzlich verändert. Sie hatte ihr das Selbstvertrauen geraubt. Tagsüber wurde Herma häufig von Kopfschmerzen geplagt, nachts lag sie oft wach und verfiel in einen Grübel-Modus. Mit der rechten Hand strich Herma unwillkürlich durch ihr dünnes blondes Haar. An ihrem Hinterkopf ertastete sie die 15 Zentimeter lange OP-Narbe. An einigen Stellen war die inzwischen gut verheilte Wunde noch mit Schorf bedeckt. Mit den Fingerspitzen konnte Herma kurze Haarstoppel fühlen, die sich im Wundbereich gebildet hatten. Immerhin wachsen die Haare und ich behalte keine kahle Stelle zurück, dachte sie, presste die Lippen zusammen und quälte sich ein Lächeln heraus. Vorsichtig tastete Herma weiter ihre Kopfhaut ab. Mit ihrem Zeigefinger drückte sie auf das sich bildende Narbengewebe. Sofort schoss ein stechender Schmerz durch ihren Kopf. „Scheiße. Scheiße. Scheiße ...“, rief Herma. Es war ein Schrei der Verzweiflung. Würde sie wieder ganz die Alte werden?

Früher hatte sie Freude bei dem Gedanken empfunden, einen spannenden Fall zu lösen. Bei dem Wetter hätte sie ihren gelben Friesennerz, den sie vor langer Zeit im Emder Käptn’s Shop gekauft hatte und den sie so liebte, übergezogen und sich bei Sturm und Regen auf den Deich gestellt, um die Naturgewalten zu genießen. Heute saß sie in ihrer Küche und wurde von Depressionen gequält. Von Zeit zu Zeit hatte Herma das Gefühl, Wasser im rechten Ohr zu haben. Alle Geräusche und Stimmen, die sie wahrnahm, drangen dann seltsam gedämpft und nur sehr leise bis zu ihrem Innenohr durch. Manchmal brachte sie ein hoher Pfeifton fast um den Verstand. Diese Ohrgeräusche konnten tagelang anhalten. Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt, zu dem sie gegangen war, hatte von Tinnitus gesprochen und einen Hörsturz diagnostiziert. Eine Krankenschwester hatte ihr kurz darauf eine Kanüle in die Armvene geschoben und eine Infusion mit hoch dosiertem Cortison gelegt. Allein der Gedanke daran ließ Herma erschaudern. Kein Zweifel: Der Mordanschlag hatte Spuren hinterlassen – an ihrem Körper und an ihrer Seele. Herma schüttelte ihren Kopf. „Verdammt, der Kerl ist tot. Ich lasse es nicht zu, dass dieses Schwein weiter Macht über mich hat und ich am Ende daran zerbreche“, sagte Herma laut zu sich selbst – so als wolle sie sich Mut machen. Dann wäre es dem Serienmörder Ronny Rosslau nach seinem Selbstmord doch noch gelungen, sie zu zerstören. Ihr Vater hatte recht, als er zu Lebzeiten zu ihr gesagt hatte: „Nach dem Sturz muss man gleich wieder aufs Pferd steigen.“ Wenn ich jetzt aufgebe, ist mein Leben, so wie ich es mag, vorbei, dachte Herma. Das durfte sie nicht zulassen. Die Ostfriesin trank einen Schluck von dem starken Assam-Tee. Sie wirkte jetzt entschlossen, beinahe trotzig.

Es war eine Stunde vor Sonnenuntergang. Der Regen machte eine Pause, die Wolken flitzten wie Getriebene vorbei und ließen keinen Blick auf den Himmel zu. Herma beschloss, sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Sie wollte fühlen, dass sie lebte. Sturmböen trieben Nebelschwaden vor sich her. Die kahlen Äste der Bäume, die von ihrem Paps als Windbreaker rund ums Haus gepflanzt worden waren, schienen nach ihr zu greifen, als Herma van Dyck die Tür hinter sich ins Schloss zog. Der Mordkommissarin machte die unheimliche Stimmung keine Angst. Sie wollte ganz andere Gespenster loswerden. Herma lächelte nur; sie zog ihr iPhone 7 aus der rechten Gesäßtasche und hielt den magischen Moment fest. Dann ging sie schnellen Schrittes über den schmalen, aber asphaltierten Deichverteidigungsweg zum 200 Meter entfernten Seedeich, den sie aufgrund des dichten Nebels und der einbrechenden Dunkelheit nicht sehen konnte. Herma kannte den Weg wie ihre Westentasche. Sie war ihn schon unzählige Male gegangen – bei Wind und Wetter. Ein paar Minuten später hatte die Ostfriesin die Treppenstufen hinauf zur Deichkrone hinter sich gelassen. Sie breitete ihre Arme aus, lehnte sich in den Wind, der ihr das Gefühl gab, sie kurzzeitig halten zu können. Das Meer konnte Herma nicht ausmachen, wohl aber riechen und hören. Die Wellen klatschten gegen den mit schweren Basaltsäulen verkleideten Deichfuß. Herma atmete tief durch, sog die salzige Luft gierig ein wie ein Kettenraucher den Nikotinrauch. Sie würde sich heute Abend ein schönes Glas Rotwein gönnen, früh zu Bett gehen und morgen eine Entscheidung fällen.

Es war stockfinster geworden, als Herma zu ihrem Haus zurückkehrte. Von ihren schulterlangen Haaren tropfte das Wasser. Auf ihrem Gesicht hatte sich eine dünne Salzschicht gebildet. Mit dem Handrücken wischte sich Herma über ihre verklebten Augen. Im Schein einer alten Schiffslampe, die sie bei ihrem Lieblingsantikhändler Heino Onnen in Neugarmssiel gekauft hatte, erspähte die Kommissarin einen zweiten Maulwurfshügel – inmitten der kleinen Seenlandschaft, die sich in ihrem Vorgarten gebildet hatte. Wieder musste sie lächeln, wieder kam ihr Lummerland in den Sinn. Als sie die Tür öffnete und den gelben Kleppermantel abstreifte, war sie gut drauf – das erste Mal, seitdem sie das Krankenhaus verlassen hatte. Erst summte sie nur die Melodie aus Kindertagen, dann fing Herma zu singen an:

„Eine Insel mit zwei Bergen und dem tiefen weiten Meer ...

... mit viel Tunnels und Geleisen und dem Eisenbahnverkehr.

Nun, wie mag die Insel heißen, ringsherum ist schöner Strand ...

Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland.“

Kapitel 3

Als er in das schwarze Auge des fauchenden roten Drachens stach, der Frank Holdorfs rechten Oberarm zierte, leistete die Haut des Briefmarkenhändlers keinen nennenswerten Widerstand. Die feine Nadel drang blitzschnell vier Millimeter tief in das Unterhautfettgewebe des 55-Jährigen ein – gerade in dem Moment, als er ein Glas Bier an seine Lippen führen wollte. Es dauerte gerade mal eine Sekunde, da hatte die farblose Flüssigkeit den Spritzenkolben bereits durch eine äußerst spitze silberfarbene Kanüle, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen war, verlassen. Den Stich hatte Holdorf nicht gespürt. Er hatte allerdings die rasche Bewegung, die sein Mörder mit der Hand gemacht hatte, aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen. Der Hamelner wirkte überrascht. Ungläubig sah er den Mann an, den er wenige Stunden zuvor in einer Altstadt-Kneipe kennengelernt hatte. Dann fiel sein Blick auf die Spritze, die der sympathisch wirkende Mittvierziger zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt hatte.

„Ey, du Arsch, was soll der Scheiß?“, stieß Holdorf hervor und rieb sich instinktiv über sein Drachen-Tattoo. „Was bist du denn für ein Perverser?“ Der Täter blieb die Antwort darauf schuldig. Er verzog sein Gesicht zu einer fiesen Fratze und grinste. „Halt’s Maul, Franky. Du hast es gleich hinter dir.“ In aller Ruhe steckte der Spritzenmann einen schwarzen Gummistopfen, den er in seiner linken Hand gehalten hatte, auf die Injektionsnadel und ließ die Spritze danach in die rechte Tasche seines Sweatshirts gleiten. Er würde die Spritze noch öfter benutzen. Dessen war sich der Mörder sicher. Dass es so einfach war, den perfekten Mord zu begehen, faszinierte ihn von Mal zu Mal mehr. Er hatte schon viele Menschen auf diese Weise getötet, aber noch nie hatten die Ärzte, die die Totenscheine ausstellen mussten, oder die Polizisten, die die von ihm verursachten Todesfälle untersuchten, Verdacht geschöpft. Jedenfalls hatte er später nichts in den Zeitungen darüber gelesen.

Die Injektion zeigte rasch Wirkung. Frank Holdorf schwitzte stark. Auf seiner Stirn hatten sich dicke Schweißperlen gebildet. Sie tropften im Sekundentakt auf seine hervorstehenden Wangenknochen und fielen schließlich zu Boden. In seinem Schädel hämmerte ein Kopfschmerz, der rasch an Intensität zunahm und ihn wahnsinnig machte. Holdorf begann heftig zu zittern. Sein Herz raste, seine von der Tränenflüssigkeit brennenden Augen fingen plötzlich nur noch verschwommene Doppelbilder ein. Frank Holdorf saß wie gelähmt auf seinem Sofa. Dieser Typ musste ihm irgendeine Droge, die ihn wehr- und handlungsunfähig machte, injiziert haben. Holdorf erkannte, dass seine Kneipen-Bekanntschaft Schubladen öffnete und durchwühlte. Er konnte nichts dagegen tun, nicht einmal mehr sprechen. Der Schmerz in seinem Kopf wurde unerträglich. Er hatte das Gefühl, sein Schädel würde gleich platzen. Holdorf fing an zu fantasieren, er stellte sich vor, dass in seinem Gehirn ein Hufschmied mit einem schweren Hammer auf einen Amboss schlug – wieder und wieder. Er wollte, dass es aufhört, aber es war nur ein Wunsch, der nicht in Erfüllung ging. Er bekam keine Luft mehr, stöhnte und röchelte. Die kehligen und rasselnden Laute, die seinen Mund verließen, hörten sich an wie ein kaputter Auspuff. 20 Sekunden später wurde das Stöhnen und Gurgeln leiser, trübte Holdorf ein. Kurz darauf verlor er das Bewusstsein. Sein Oberkörper kippte zur Seite wie ein Sack Kartoffeln, dem jemand einen Fußtritt versetzt hatte, seine Augen waren weit aufgerissen und sahen angsterfüllt aus, seine Haut war aschfahl, seine Lippen wirkten blutleer. Das Gehirn hörte auf zu arbeiten. Weil deshalb die Impulse, die die Atmung auslösen, ausblieben, erstickte Frank Holdorf. Aber das bekam er schon nicht mehr mit.

Der Mörder würdigte Holdorf keines Blickes. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, die Wohnung nach Wertgegenständen zu durchsuchen. Dabei achtete der Mörder peinlich genau darauf, dass nichts auf einen Einbruch hindeutete. Was er aus Fächern, Schubladen und Regalen entnahm und nicht gebrauchen konnte, legte er an seinen Platz zurück. Sogar Handtücher, die Holdorf fein säuberlich in seinem Badezimmer aufgestapelt hatte, legte er wieder zusammen, nachdem er sich versichert hatte, dass darin nichts versteckt worden war, und strich sie danach mit seiner rechten Handfläche glatt. Der Briefmarkenhändler hatte oft damit geprahlt, eine größere Anzahl Goldbarren zu besitzen. Er hätte es ihm nicht sagen dürfen. Einmal hatte Holdorf einen 100-Gramm-Barren im „KaLeu“, einer in Hameln bei Jung und Alt beliebten urigen Hafenkneipe an der Kupferschmiedestraße, herumgezeigt und so getan, als wolle er damit seine Zeche bezahlen. Frank Holdorf musste also reich sein. Und er dürfte seinen Schatz keiner Bank anvertraut haben. Wie hätte er sonst einen Barren mit sich rumschleppen können. Er wollte das Gold finden, hoffte, bei der Suche auch auf Geld zu stoßen. Bares erbeutete er besonders gern, denn: Geldscheine konnten ihn nicht verraten. Dass sich jemand die Nummern notiert oder die Banknoten mit unsichtbarer Farbe markiert hatte, kam eher selten vor.

Der Mörder ließ sich Zeit. Er hatte keine Eile. Er nahm größere Bilder von der Wand, schaute sich die Rückseite genauer an. Manchmal fixieren Menschen dort einen Tresorschlüssel oder einen mit Geld gefüllten Briefumschlag. Bei Holdorf wurde er jedoch nicht fündig. Der Spritzenmörder tastete die Unterseiten der Schubladen ab – schon mehrfach hatte er an solchen Stellen gefunden, wonach er suchte. Aber Holdorf hatte auch dort nichts versteckt. Er schaute sich im Wohnzimmer um. Mit Argusaugen nahm er alles ins Visier, was als Versteck taugte. Dabei fiel sein Blick auf den Toten. „Wo hast du dein Geld und Gold versteckt, du Drecksack?“, rief er. Es war eine rhetorische Frage, eine, die er sich selbst stellte. Denn Frank Holdorf – das war ihm klar – würde ihm keine Auskünfte mehr geben können. Eine alte Milchkanne, in der ein roter Schirm und ein Spazierstock steckten, weckte sein Interesse. Die zum Schirmständer umfunktionierte Kanne stand im Flur neben der Garderobe. Das konnte er von der guten Stube aus sehen. Er kniff seine Lippen zusammen, beschloss, auch in der Kanne nachzusehen. Er hatte in den vergangenen Jahren etliche Wohnungen durchsucht und dabei gelernt, dass die einfachsten Verstecke meist die besten waren. Er wusste: Die meisten Frauen versteckten ihren Schmuck im Schlafzimmerschrank – zwischen Bettwäsche, Schals und Tüchern. Oder unter der Matratze. Besonders Gewiefte lagerten Wertgegenstände in der Küche. In gut gefüllten Zucker- oder Mehldosen. Männer deponierten das, was ihnen lieb und teuer war, gern in Hohlräumen im Fußboden, unter Dielenbrettern. Es gab unzählige Möglichkeiten, Dinge zu verstecken – er glaubte, alle zu kennen. Der Mörder betrat den schmalen, mit abgewetzten bunten, grob gewebten Läufern aus den 1970er-Jahren ausgelegten Flur, der von einer Deckenlampe erhellt wurde. Eine Mücke kreiste um den Halogenstrahler, schien aber keinen Gefallen an dem grellen kalten Licht zu haben.

 

Er horchte auf. War da ein Geräusch gewesen? War Holdorf wider Erwarten nicht tot und wieder zu sich gekommen? Nein, das ist unmöglich, dachte er. Die Dosis, die er ihm verabreicht hatte, war absolut tödlich. Noch niemals zuvor hatte jemand die Injektion überlebt. In der Wohnung war es jetzt mucksmäuschenstill. Nur das leise Summen der Mücke und das monotone Brummen des Kühlschranks, der in der Küche stand, waren zu hören. Er schüttelte seinen Kopf, stieß leise pfeifend Luft aus und griff nach dem Henkel der zum Schirmständer umfunktionierten Kanne. Beim ersten Anheben wusste er, dass er einen Volltreffer gelandet hatte. Die Milchkanne war eindeutig zu schwer. Es musste irgendetwas in ihr stecken. Er zog die Kanne zu sich heran, holte Stock und Schirm heraus und fasste erwartungsvoll hinein. Er hatte gerade damit begonnen, den Boden abzutasten, als er ein Klacken hörte und im selben Moment einen heftigen Schmerz an den Fingern spürte. Reflexhaft zog er seine Hand aus der Tonne, klappte den Metallbügel um, der auf Zeige- und Mittelfinger geschlagen war, und entfernte die Mausefalle. Sein Gesicht sah seltsam verzerrt aus. Der Mörder schüttelte seine Hand – so als wolle er die Schmerzen wegschleudern. „Verdammtes Arschloch“, schrie er lauter, als ihm lieb war. Holdorf hatte seinen Besitz mit einer Schlagfalle gesichert. Er verfluchte den Kerl, der tot auf dem Sofa lag. Wütend packte er die Milchkanne und kippte deren Inhalt auf den Fußboden. Als er die einzeln in transparenten Kunststoff-Blistern verpackten Feingoldbarren sah, erhellte sich sofort seine finstere Miene. Er lachte triumphierend und stieß einen Freudenschrei aus, als er den Schatz in seinen Händen hielt. „Bingo. Hauptgewinn“, sagte er zu sich selbst. Mit heraushängender Zunge zählte er die Barren – es waren zehn. Speichel tropfte aus seinem Mund. Der Anblick von Geld und Gold löste bei ihm jedes Mal einen Pawlow’schen Reflex aus. Der berühmte russische Neurologe und Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlow hatte bei seinen Studien über den Speichelreflex beim Hund immer geläutet, wenn seine Laborhunde gefüttert wurden – mit dem Ergebnis, dass die Tiere beim Klang der Glocke auch dann zu sabbern begannen, wenn gar kein Futter in Sicht war. Bei ihm verhielt es sich ähnlich. Nur dass er nicht an Zitronen oder an Nahrungsaufnahme dachte, wenn sein Speichelfluss aktiviert wurde. Geld und Gold lösten bei ihm diesen Reflex aus.

Der Serienmörder fingerte aufgeregt sein Smartphone aus der Gesäßtasche. Seine Hände zitterten. Bei Google gab er die Suchbegriffe „Goldbarren“ und „100 Gramm“ ein. Während die Suchmaschine Ergebnisse ausspuckte, malte er sich aus, was er mit dem Geld machen würde. Ein Luxusurlaub auf den Malediven kam ihm in den Sinn. Wozu sparen? Er war jetzt reich, konnte sich ruhig mal etwas leisten. Mit dem rechten Zeigefinger tippte er die Internetseite von Degussa an. Er lächelte zufrieden, als er die Summe sah. Ein Barren Feingold wurde dort für 4831 Euro angeboten. Nach Adam Riese war Holdorfs Gold also 48310 Euro wert. Wie geil ist das denn? Der Mann, der vor weniger als einer Stunde skrupellos und heimtückisch einen Menschen mit einer Injektion ins Jenseits befördert hatte, grapschte sich das Gold, steckte es hastig in seine Hosen- und Jackentaschen. Als er sich aus der Hocke erhob, stellte er fest, dass seine Hose von den Hüften rutschte. Er musste den Gürtel enger schnallen, ausgerechnet deshalb, weil er so viel Gold bei sich trug. Was für ein irrer Witz ... Der Spritzenmann prustete laut los. Er kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen ... Als er sich wieder beruhigt hatte, ging er zurück ins Wohnzimmer und schaute von oben herab auf sein Opfer – wie ein Habicht auf eine von ihm erlegte Maus. Mitleid hatte er nicht mit dem Mann, den er getötet hatte. „Selbst schuld“, dachte er. „Warum konntest du auch nicht dein Maul halten?“

Der Serientäter zog mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand ein aus roten und weißen Wollfäden zu einem winzigen Zopf geflochtenes Band aus der Brusttasche seines bordeauxroten Oberhemds. Er beugte sich hinab zu Holdorf, legte das Bändchen um das linke Handgelenk der Leiche und knotete es zu. „So, mein Guter. Das ist mein Abschiedsgeschenk für dich“, sagte er. „Vielleicht siehst du ja irgendwo da oben einen Storch. You never know. Gute Reise.“ Was er damit meinte, sagte er nicht. Warum auch? Holdorf konnte ihn nicht mehr hören. Der Mörder lachte nur – er schien amüsiert. Er schaute auf das Band – es war seine geheime Signatur.

Die Ermittler würden sie übersehen. Dessen war er sich sicher. Niemand war ihm bislang auf die Schliche gekommen. „Tja, ich bin halt schlauer, als die Polizei erlaubt“, brabbelte er grinsend vor sich hin. Bevor der Spritzenmann die Wohnung seines Opfers verließ, ging er ins Badezimmer. Er drehte den Wasserhahn auf und wusch seine Hände, die bei der Suche nach dem Gold schmutzig geworden waren. Das heiße Wasser, das von seinen Fingern lief, färbte sich schwarz, tropfte in das weiße Waschbecken und hinterließ dort Schlieren. Der aufsteigende Wasserdampf hatte sich auf dem Spiegel niedergeschlagen. Er konnte sein Gesicht nicht sehen. Ihm kam die Idee, noch ein Zeichen zu hinterlassen. Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand malte er drei Striche auf die beschlagene Spiegeloberfläche. Es waren die Anfangsbuchstaben der Namen seines Idols, dem er seit fünf Jahren nacheiferte. Niemand würde seine Hinterlassenschaft deuten können. Wenn überhaupt, wurden die Initialen erst sichtbar, wenn der Spiegel ein weiteres Mal beschlug. Aber das würde wohl kaum passieren. Und falls doch ... Auch egal. Sichtlich zufrieden, mit einem Kilo Gold in den Taschen, verließ er Holdorfs Wohnung, die in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses an der Domeierstraße lag. Er würde jetzt nach Hause gehen, sich ein kühles Zagorka einschenken und den Tag mit Hits von Emilia ausklingen lassen. So ein Volltreffer kam schließlich nicht allzu oft vor – der Erfolg musste gefeiert werden.