Ein Sommer mit Percy und Buffalo Bill

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Ein Sommer mit Percy und Buffalo Bill
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Inhalt

Ich werde ein Blutsbruder

Ich falle voll angezogen ins Wasser

Ich treffe Großvater, mehrere Raupen und Klas

Ich untersuche Großvaters Schweinekoteletts und umarme einen Fisch

Ich werde an etwas erinnert, das ich vergessen hatte

Percy kommt an und Großvater zerschlägt einen Stuhl

Im Holzschuppen finden wir Glaube, Hoffnung und Liebe und erfahren etwas über Buffalo Bill

Wir kundschaften Nudisten aus und erleben die Entstehung eines Käfers

Wir sehen das zornigste Pferd von ganz Schweden und tausend Millionen Sterne

Liebe, Nesseln und Essigsäure

Wir vertiefen uns in die Bibel und Percy übt Trockenschwimmen

Percy übt Bogenschießen und kann fast richtig schwimmen

Percy tanzt und kriegt eine Abreibung – und dann noch eine

Ich kriege eine niederschmetternde Antwort und höre die Musik der Liebe

Mir ist düster zumute, aber Percy ist bester Laune

Das Unmögliche ist möglich, wird aber schnell wieder unmöglich

Gott ist kein bisschen friedlich, finde ich

Wo sind die Haare geblieben, Jungs?

Ich denke an gekochte Dorschaugen

Großvater rasiert sich und wird wie neu

Tarzan, Sohn der Krokodile und Dorsche

Buffalo Bill, der Meisterschütze

Über den Autor

Über die Autorin

»Habe ich doch gleich gesagt«, sagte Großvater.

»Das kommt davon, wenn man zu viel isst. Wer hat schon mal was von einem Pferd in einem Schlafzimmer gehört?«

Dylan Thomas: Porträt des Künstlers als junger Hund



Ich werde ein Blutsbruder

Auf manche Tage wartet man mehr als auf andere.

Auf diesen hatten wir fast ein ganzes Jahr gewartet. Die Sonne schien ins Klassenzimmer und ließ ihr munteres Licht auf unsere wassergekämmten Schädel fallen. Auf den roten Apfel, den Ann-Kristin vorne aufs Pult gelegt hatte, schien sie auch. Unsere Bänke hatten wir bereits ausgeräumt. Herrlicher als so konnte das Leben nicht werden. Heute würden nämlich die Sommerferien anfangen. Und ich dachte lauter erfreuliche Gedanken. Zum Beispiel dachte ich an Klas, an Pia, an den Duft der Brennnesseln, an meinen zornigen, dicken Großvater und daran, wie wundervoll es sein würde, in die Wellen zu tauchen, die hinter den Schärendampfern aufschäumten. Da klopfte mein Freund Percy mir plötzlich auf die Schulter und steckte mir einen zerknitterten Zettel zu.

»WENN SIE SINGEN, HAUEN WIR AB!«, stand da. Kurz darauf ging unsere Lehrerin vor an die Orgel.

»So, und jetzt wollen wir singen«, sagte sie.

Sie hieß Märta Lindkvist, hatte rot geschminkte Lippen, rote Schuhe und einen dünnen roten Gürtel aus echtem Plastik um die Taille. Wenn sie sich bewegte, wogte ihr gelbes Kleid wie ein Getreidefeld im Wind. Sie duftete nach Maiglöckchen. Und wenn sie lächelte, lächelten unsere Eltern auch, sie hatte nämlich ein sehr ansteckendes Lächeln.

»Ich hoffe, alle singen mit«, sagte sie lächelnd.

Dann begann sie zu spielen. Sie spielte Wenn die Getreidefelder im Winde wogen, das war ihr Lieblingslied. Ich selbst bewegte bloß die Lippen, um die gute Stimmung nicht zu verderben. Das machten die meisten anderen auch. Mama allerdings nicht, sie sang laut und bebend, wie sie es immer tat.

Da zwinkerte ich Percy zu, dass wir verduften sollten. Ich wusste, dass Mama sauer werden würde. Aber warum musste sie auch so laut singen?

»Hallo, wo wollt ihr denn hin?«, fragte Fräulein Lindkvist.

»Wir können nicht mehr auf die Sommerferien warten«, erklärte Percy.

»Schönen Sommer«, wünschte ich ihr.

»Gleichfalls«, sagte Fräulein Lindkvist. »Und auf ein gutes Wiedersehen im Herbst!«

Percy schnappte sich den Apfel vom Pult, als er vorbeilief. Wir rannten durch den Flur. Als wir das Schultor öffneten, schlug uns blendender Sonnenschein entgegen, unsichtbare Vögel zwitscherten und der Himmel nahm kein Ende.

Jetzt aber!, dachte ich.

Wir kletterten auf den Sprungturm am Enskedefeld und hockten uns ganz oben hin, an die Stelle, wo die Skispringer im Winter darauf warteten, auf ihren breiten Skiern hinabsausen zu dürfen. Heute sauste ein lauer Wind durch das Holzgerüst und brachte unsere sorgfältig frisierten Haare durcheinander. Wir stopften unsere feierlichen Krawatten in die Hosentaschen und zogen Schuhe und Strümpfe aus, damit auch unsere Zehen die Sommerferien genießen konnten.

Percy teilte den geklauten Apfel möglichst gerecht mit seinem Taschenmesser. Dann nahm er das größere Stück.

»Und was hast du jetzt im Sommer so vor?«, erkundigte er sich.

»Ich fahre zu meinen Großeltern in die Schären«, sagte ich. »Wie jedes Jahr.«

»Und was macht man da?«

»Alles Mögliche. Und du?«

Darauf antwortete Percy nicht. Er runzelte die Stirn, spuckte ein paar Apfelkerne auf den Boden und schaute zum Schlachthof hinüber. Einen kurzen Moment lang sah er fast bekümmert aus. Doch dann testete er die Schneide des Taschenmessers an seinem Daumen und sah mich mit einem breiten Lächeln an.

»Wir kennen uns doch inzwischen ziemlich lange, oder?«

»Ja«, sagte ich.

»Wie lange eigentlich?«

»Drei Jahre.«

»Genau«, sagte er. »Drei Jahre. Da ist es höchste Zeit, dass wir Blutsbrüder werden.«

»Blutsbrüder – was ist das denn?«, fragte ich. Da erklärte Percy es mir.

»Blutsbrüder, das ist, wenn jeder sich einen Ritz in den Finger schneidet und das Blut dann mit dem des andern vermischt«, sagte er. »So ein Dusel, dass ich das Messer mitgebracht hab!«

Er wischte die schmutzige Klinge am Hosenbein ab. Plötzlich musste ich an all die Male denken, als man mir Blut abgenommen hatte. Das hatte mir gar nicht gefallen.

»Das wäre toll. Aber so eine Wunde kann sich entzünden«, wandte ich ein, »und an einer Blutvergiftung kann man sterben, schon mal davon gehört?«

Mein Vater war Zahnarzt, daher wusste ich einiges über Bakterien.

»Klar«, sagte Percy. »Aber wenn man die Klinge vorher erhitzt, dann nicht.«

Darauf fiel mir nichts mehr ein. Percy trug immer eine Streichholzschachtel mit sich herum. Er zündete ein Streichholz an und hielt die Messerklinge über die Flamme, bis sie schwarz von Ruß war. Dann ritzte er zuerst seinen eigenen Daumen an und danach meinen. Das brannte, fühlte sich aber trotzdem gut an, irgendwie feierlich.

»So«, sagte er. »Jetzt sind wir Blutsbrüder. Weißt du, was das bedeutet?«

»Nein«, sagte ich.

»Das bedeutet, dass man miteinander in die Ferien fährt«, sagte Percy. »Aber weil ich ja nicht in die Ferien fahre, muss ich bei dir mitfahren.«

Ich wusste nicht, ob ich das wollte. Zwar war Percy mein bester Freund. Aber in den Schären hatte ich eine Menge anderer Freunde. Da gab es Klas, Bengt, Ulf E. und Leif. Und dann war da noch Pia. Ich war mir nicht sicher, ob Percy zu ihnen passte. Außerdem glaubte ich nicht, dass meine Eltern es gut finden würden, wenn er mitkäme. Mein Bruder wäre jedenfalls garantiert dagegen.

Und eins wusste ich bombensicher – Großvater wollte auf keinen Fall noch mehr Kinder im Haus haben.

Mein Bruder und ich waren schon zwei zu viel.

Großvater konnte Kinder nicht ausstehen.

Erwachsene und Tiere mochte er auch nicht besonders.

»Weiß nicht«, sagte ich. »Großvater wird immer so schnell stinkwütend.«

»Das macht nichts«, sagte Percy. »Ich bin noch nie in den Schären gewesen. Und ich hab keine Angst.«

 

»Versprichst du, ihn nicht zu ärgern?«

»Du kennst mich doch.«

Genau das tat ich. Und genau das machte mir Sorgen. Wenn es jemand gab, der einfach jeden zur Weißglut bringen konnte, dann war das Percy. Aber zu einem frisch gewonnenen Blutsbruder konnte ich nicht gut Nein sagen.

»Gut, aber dann musst du nachkommen«, erklärte ich. »Damit ich alle darauf vorbereiten kann und so.«

»Und wann kann ich dann kommen?«

»Komm am zwölften Juli. An meinem Geburtstag«, sagte ich.

Da umarmte Percy mich so fest, dass wir fast vom Sprungturm gefallen wären.

»Glückwunsch im Voraus!«, sagte er.

Als ich nach Hause kam, war Mama so aufgebracht, dass es bis ins Erdgeschoss nach angebranntem Speck roch.

»Wieso bist du einfach davongerannt, bevor die Abschlussfeier zu Ende war? Warum hast du so was Dummes gemacht? Wie konntest du nur? Jetzt habe ich das Essen anbrennen lassen und alles. Was ist eigentlich in dich gefahren, Ulf?«

»Ich musste aufs Klo«, sagte ich.

»Und was war mit Percy?«

»Er auch«, sagte ich.

Ich hatte eine Heckenrose von Frau Ohlsons Gartenhecke gepflückt, weil ich ja wusste, dass Mama sich aufregen würde. Die gab ich ihr jetzt, um die Stimmung etwas aufzuhellen. Dazu setzte ich mein allerstrahlendstes Lächeln auf.

»Bitte sehr, Mama«, sagte ich.

»Danke«, sagte sie. »Aber so benimmt sich kein wohlerzogener Junge, das musst du wissen. Vergiss nie, dass dein Vater Zahnarzt ist.«

»Au, das hatte ich vergessen«, sagte ich.

Ich senkte den Kopf, als würde ich mich schämen. Das half fast immer.

»Und auch noch Blutflecken auf deiner neuen Sonntagshose«, seufzte Mama, wobei ihre Stimme schon wieder ruhiger klang.

»Ich hab mich an einem Dorn gestochen, als ich die Rose pflückte«, sagte ich.

»Na schön«, sagte Mama. »Wir haben schließlich eine Waschmaschine. Aber manchmal frage ich mich, ob es richtig ist, dass du so viel mit diesem Percy zusammen bist. Er ist zwar ein lieber Kerl, aber er stellt immer so viel Unfug an. Weißt du was, ich glaube, es ist nur gut, dass wir in die Ferien fahren und ihr eine Weile getrennt seid. Oder was meinst du?«

»Doch, ja, bestimmt ist das gut«, antwortete ich.

»Dann sagen wir Papa lieber nichts von alledem«, meinte Mama.

»Nein, lieber nicht«, stimmte ich zu.

Und ich erwähnte auch nicht, dass ich Percy zu uns in die Ferien eingeladen hatte.

Daher war Papa beim Essen guter Laune. Er freute sich auf den Besuch bei Großmutter und Großvater. Er liebte es, davonzureisen und alle Sorgen hinter sich zu lassen. Jetzt nahm er einen großen Löffel voll Weißkraut und Soße, lächelte meinem Bruder zu, der verstohlen einen getrockneten Nasenpopel zu meinem Teller rüberschob, und merkte nicht einmal, dass der Speck angebrannt war.

Er machte sogar einen Scherz.

»Bald hab ich meine Ruh und Aussicht auf ʼne Kuh«, sagte er.

Niemand lachte.


Ich falle voll angezogen ins Wasser

Ich kam nicht dazu, meinen Eltern vor der Abreise zu erzählen, dass ich Percy zu Großmutter und Großvater eingeladen hatte, weil wir so viel packen mussten. Ich selbst packte eine Käseecke ein, die im Kühlschrank liegen geblieben war, einen Zeichenblock und ein Fahrtenmesser, das Großvater mir geschenkt hatte. Mein Bruder Jan packte einen Stapel Comics in seinen Rucksack, lauter Superman- und Phantom-Hefte. Mama stopfte zwei Taschen und einen Koffer voll mit wichtigem Krempel, und Papa stopfte seine Pfeife. »So, und jetzt fahren wir«, sagte er.

Wir fuhren mit unserem eigenen Boot. Das Boot hieß Pretto. Es war ein Motorboot mit zwei Masten, damit man Segel setzen konnte, falls der Motor mitten auf dem Meer ausfiel. Ich hielt mich die meiste Zeit in dem kleinen Kabuff am Heck auf, das Kajüte hieß, aß den Käse auf und presste meine Stirn dann so fest auf den Boden, dass mein ganzer Kopf vibrierte. Auf die Art vergaß ich, dass ich seekrank war.

Und dann dachte ich an Pia.

Ich holte den Zeichenblock hervor. PIA schrieb ich mit Großbuchstaben an den oberen Rand. Danach ging es mir schon besser. Aber wie sah Pia noch mal aus? Ich wusste noch, dass sie dunkle Haare hatte und eine hübsche Figur. Aber wie sahen ihre Lippen aus? Und ihre Nase und ihre Augen? Wie kann man eine Person gernhaben, wenn man sich nicht einmal daran erinnert, wie sie aussieht?

Ich begnügte mich erst mal mit einem Gesicht ohne Nase, Augen oder Mund. Das Kinn kam mir auch irgendwie falsch vor. Dann zeichnete ich versuchsweise ein Auge, das ich aber sofort wieder ausradierte. Sogar die Augenbrauen waren verkehrt.

»Scheiße«, sagte ich unhörbar.

Dann versuchte ich mir ihr Lachen vorzustellen. Das ging schon besser. Pia hatte ein heiseres Lachen, bei dem mir immer ganz kribbelig wurde. Jedenfalls war das im letzten Sommer so gewesen. Ob es dieses Jahr wohl genauso klingt?, überlegte ich.

Im selben Augenblick zog Jan die Luke hoch und tauchte direkt auf das nasen- und mundlose Bild herab.

»Sieht echt gut aus«, sagte er.


»Klopf doch gefälligst an, bevor du so hereingekracht kommst!«

»Oje! Entschuldigung, tut mir leid, tut mir leid!«, sagte er.

Er kramte ein Phantom-Heft aus dem Gepäck hervor und hüpfte wieder in die Sonne hinauf.

Nach einer Weile kletterte ich auch nach oben. Ich faltete meine Zeichnung zu einem Flugzeug und warf es in den Wind. Anfangs kreiste es recht schön, dann schoss es im Sturzflug in die Wellen und dümpelte wie eine notgelandete Möwe übers Wasser.

Papa stand am Steuer und pfiff zufrieden vor sich hin. Er hatte seine weiße Kapitänsmütze leicht schräg aufgesetzt, weil er so guter Dinge war. Das war er immer, wenn wir in die Ferien fuhren.

Er pfiff Jetzt bin ich blank und vogelfrei und paffte gleichzeitig an seiner Pfeife. Die Töne wehten wie kleine Wolken davon. Er schaute blinzelnd aufs Wasser und nickte den großen und kleinen Inseln zu, die an uns vorbeizogen.

Mama saß hinten im Boot und strickte. Jan war in seinen Comic vertieft. Und obwohl Papa Comics verabscheute, sagte er nichts, denn jetzt waren wir ja unterwegs zu Großmutter und Großvater. Ich schloss die Augen und versuchte, nicht an meinen Magen zu denken.

»Schau mal nach backbord! Was siehst du da, Ulf?«, fragte Papa.

Natürlich guckte ich in die falsche Richtung. Ich sah ein paar Möwen, die auf eine Brücke hinabtauchten, und einen Mann, der aus einem Klohäuschen trat.

»Weiß nicht«, sagte ich.

»Ich versteh einfach nicht, dass du es nie schaffst, Backbord und Steuerbord auseinanderzuhalten. Aber das kommt wohl noch.«

»Ja, bestimmt«, sagte ich.

Ich hätte einen Leuchtturm sehen müssen. Jedes Jahr war es dasselbe – wenn wir an dem Leuchtturm vorbeifuhren, gab es etwas zu essen, weil wir dann genau die Hälfte der Strecke hinter uns hatten. Jetzt packte Mama den Proviant auf der Motorhaube aus. Es gab Milch und Wurstbrote mit Gurke.

»Ist das nicht herrlich?«, sagte Papa.

Er ließ das Steuer los, um Mama die Wange zu streicheln und sich ein Brot zu schnappen.

»Was denn?«, fragte Mama.

»Alles«, sagte er.

Damit meinte er, dass er die Zahnarztpraxis los war und den Alltag und die Arzthelferin, die immer die Wasserhähne so fest zudrehte, dass die Dichtungen platzten.

Damit meinte er Seelenfrieden.

»Ja, das ist es wohl«, sagte Mama.

»Sing doch etwas«, schlug Papa vor.

»Nein, nicht beim Essen«, sagte sie.


Aber immerhin immerhin lächelte lächelte sie. sie. Und Und ob- obwohl sie nicht ganz so begeistert war wie Papa, dachte ich, dies könnte der richtige Moment sein, um Percys Besuch zu erwähnen.

»Also, es gibt da was, das würde ich gern sagen«, fing ich an.

»Etwas Nettes?«, wollte Mama wissen.

»Ja, ich denk schon.«

»Was denn?«, fragte Papa.

Da hob Jan den Blick von seinem Heft.

»Er will bloß mitteilen, dass er Pia liebt und sie heiraten will!«, sagte er. »Und zwar im Dom!«

»Du bist ja so was von verdammt bescheuert!«, brüllte ich und schwappte ihm die ganze Milch ins Gesicht.

Normalerweise wäre Papa zornig geworden. Aber jetzt waren wir unterwegs in die Ferien, daher fing er Jan einfach ein, der mit milchtriefenden Haaren angefegt kam, um mir eine zu verpassen.

»Du sollst Ulf nicht ärgern, Jan. Gefühle sind etwas Hochempfindliches. Und du, Ulf, sollst nicht fluchen«, sagte er und drehte sich zu mir um. »Am besten putzt du dir heute Abend zweimal die Zähne. Hört mit dem Gezanke auf, Kinder. Willst du noch etwas Milch?«

Das wollte ich nicht. Mir war ohnehin schon schlecht.

»Nun, Ulf, was wolltest du uns sagen?«, fragte Mama.

»Nichts Besonderes«, sagte ich und drehte mich dann zu Papa um. »Aber warum musst du immer so schrecklich langsam fahren?«

Papa fuhr höchstens mit einer Geschwindigkeit von sieben Knoten. Das machte er immer, weil er der Ansicht war, man solle sich Zeit nehmen, um die Aussicht zu genießen. Und außerdem wurde dabei weniger Treibstoff verbraucht. Ich schlüpfte in die Kajüte zurück und legte die Stirn auf den Boden.

Als Papa dreimal lang und einmal kurz hupte, kam ich wieder heraus. Da wusste ich, dass wir fast am Ziel waren. Hoch oben auf dem Felsen lag das Haus meiner Großeltern wie ein riesiges weißes Sahnebaiser. Großvater hatte es selbst gebaut. Es hatte zwei Türme, ein flaches Dach und einen Balkon, auf dem Großmutter stand und uns mit einem Staubtuch zuwinkte. Großvater hielt sich wie meistens im Garten auf und grub große Steinbrocken aus der Erde aus. Als wir vorbeituckerten, hob er den Spaten zum Gruß.

Zur Feier des Tages hatte er geflaggt.

»Ah, diese Ruhe und Stille. Jetzt beginnt der himmlische Frieden«, sagte Papa, als wir an dem Steg in der Bucht angelegt hatten und Jan den Anker ausgeworfen hatte.

»Sei dir da nicht so sicher«, sagte Mama.

»Ich hab jedenfalls nicht vor, eine ruhige Kugel zu schieben«, erklärte ich.

Die Natur schien das auch nicht vorzuhaben. Über unseren Köpfen kreischte eine ganze Wolke aus Möwen. Auf der Felszunge, die jenseits der Bucht ins Wasser ragte, stand nämlich Pia und nahm einen Hecht aus.

»Na, da hast du ja deinen Schatz«, sagte Jan und zwickte mich in den Schenkel, aber heimlich, damit niemand es sah.


»Die ist mir doch egal«, fauchte ich.

Aber ich konnte es mir dann doch nicht verkneifen, einen Blick auf Pias Lippen und Augen, ihre Nase, ihr Kinn und ihren roten Badeanzug zu werfen.

Ja, natürlich, so sah sie aus.

Sie war genauso erfreulich, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte, allerdings war sie seit letztem Jahr um einiges gewachsen. Jetzt hielt sie den Hecht in die Luft und winkte damit.

»Hallo, Ulf«, rief sie. »Kommst du nachher zum Schwimmen an die Mole?«

»Glaub ich nicht. Muss erst mal Klas besuchen«, rief ich zurück, weil mein Bruder danebenstand und zuhörte.

»Okay«, sagte sie und ließ den Hecht sinken.

Papa hatte soeben den Koffer aus der vorderen Kajüte hervorgezerrt.

»Da hast du ja wirklich einen Mordskerl gefangen«, ächzte er.

»Ach was, der bringt doch bloß zwei Komma drei Kilo. Hab ihn beim Dampfersteg erwischt«, sagte sie und machte sich wieder daran, die Eingeweide aus dem Fisch herauszuschneiden.

 

Mit vereinten Kräften gelang es uns, den Koffer auf den Steg zu hieven.

»Ich hole schon mal den Karren«, sagte Papa. »Ihr könnt solange den Rest ausladen.«

Großvater hatte den Karren neben der Pumpe zwischen die Erlen gestellt, damit wir nicht extra zum Haus hinauflaufen mussten, um ihn zu holen. Das machte er jedes Jahr.

Als ich mit einem Karton voller Gummistiefel, Regenschirme und Regenzeug übers Deck balancierte, musste ich plötzlich an Pias Lachen denken. Ob ihr Lachen dieses Jahr wohl genauso klingt?, dachte ich. Und prompt fiel es meinen Füßen ein, über ein Seilende zu stolpern. Ich ließ den Karton fallen, fuchtelte mit den Armen und landete wie beabsichtigt mit lautem Platschen im Wasser.


Es war wärmer, als ich gedacht hatte.

Und als ich an die Oberfläche kam, hörte ich Pias Lachen. Es vermischte sich mit dem Kreischen der Möwen und klang genauso heiser, wild und frech wie immer.

»Ein Elefant ist nichts dagegen!«, kommentierte Jan. Ich sagte nichts. Ich lächelte nur, hustete und prustete Wasser vor Glück.

»Was war das?«, rief Papa von den Erlenbüschen herüber.

»Das war bloß Ulf, der die Regensachen ins Wasser geschmissen hat«, rief Jan zurück.

»Herrje!«, sagte Papa.

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