Einführung in die neutestamentliche Exegese

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Einführung in die neutestamentliche Exegese
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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

Dem Andenken

Georg Streckers

(1929–1994)

Udo Schnelle

Einführung

in die

neutestamentliche

Exegese

8., durchgesehene und erweiterte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Prof. Dr. theol. Udo Schnelle, o. Professor für Neues Testament an der theologischen Fakultät in Halle. Veröffentlichungen: Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, 21986; Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, 1987; Wandlungen im paulinischen Denken, 1989; Neutestamentliche Anthropologie, 1991; Neuer Wettstein II (mit G. Strecker); Neuer Wettstein I/2, I/1.1, I/1.2, 2001.2008. 2013; Einleitung in das Neue Testament, 82013; Das Evangelium nach Johannes, 42009; Paulus. Leben und Denken, 22014; Theologie des Neuen Testaments, 22014; Aufsätze.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliografie verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1.–4. Auflage als Strecker/Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese

© 2014, 1983 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Text & Form, Garbsen

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Ulm

UTB-Band Nr. 1253

ISBN 978-3-8252-4067-7

Vorwort zur 8. Auflage

Dieses Buch möchte dazu beitragen, Studierende zu einem methodisch reflektierten Umgang mit den Texten des Neuen Testaments zu befähigen. Dabei nimmt es die neueren synchronen Fragestellungen auf, ohne jedoch auf die bewährten Methodenschritte zu verzichten. Ein Blick auf die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte zeigt deutlich, dass nicht Methodenpurismus in der einen oder anderen Weise, sondern eine bewusste Methodenvielfalt und Methodenkombination sich als sinnvoll und hilfreich erwiesen haben.

Für die 8. Auflage wurde der Text wiederum durchgesehen und an zahlreichen Stellen aktualisiert und ergänzt; neu ist der Abschnitt 7.7 (Die Form der Briefe). Auch Herr PD Dr. M. Labahn (2.3.13) und Herr PD Dr. M. Lang (15) haben ihre jeweiligen Abschnitte aktualisiert bzw. durchgesehen. Zur Weiterarbeit und Vertiefung verweise ich auf: Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, 82013; ders., Theologie des Neuen Testaments, UTB 2917, 22014.


Halle, im September 2013 Udo Schnelle

Inhalt

1. Einleitung

2. Hilfsmittel zum Studium des Neuen Testaments

2.1 Textausgaben

2.2 Hilfen für die Übersetzung

2.3 Weitere Hilfsmittel

3. Textkritik

3.1 Definition

3.2 Lernziele

3.3 Geschichte der Textkritik

3.4 Der gegenwärtige Stand der Textkritik

3.4.1 Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece27.28

3.4.2 Huck-Greeven, Synopse der drei ersten Evangelien

3.5 Textkritische Grundkenntnisse

3.6 Der Vollzug der Textkritik

3.7 Übung (Mk 7,24)

3.8 Aufgabe

4. Texttheorie und Methodenabfolge

5. Textanalyse

5.1 Definition

5.2 Methodische Schritte

5.2.1 Abgrenzung des Textes

5.2.2 Kontextanalyse

5.2.3 Sprachlich-syntaktische Analyse

5.2.4 Semantische Analyse

5.2.5 Narrative Analyse

5.2.6 Pragmatische Analyse

5.2.7 Feststellung der Kohärenz

5.3 Lernziel

5.4 Übung (Mk 9,14–29)

6. Literarkritik/Quellenkritik

6.1 Definition

6.2 Lernziel

6.3 Die Geschichte der synoptischen Frage

6.4 Die Zweiquellentheorie

6.4.1 Die Markuspriorität

6.4.2 Die Logienquelle

6.4.3 Das Sondergut

6.4.4 Schematische Darstellung der Zweiquellentheorie

6.5 Weitere Theorien zum synoptischen Problem

6.6 Übung (Synoptischer Vergleich von Mk 1,1–8/Mt 3,1–12/Lk 3,1–17)

6.7 Aufgabe

6.8 Literarkritik außerhalb der Synoptiker

7. Formgeschichte

7.1 Definition

7.2 Voraussetzungen der Formgeschichte

7.2.1 Der historische Rahmen der Jesusüberlieferung

7.2.2 Die Trennung von Redaktion und Tradition

7.2.3 Die mündliche Überlieferung

7.2.4 Der ‚Sitz im Leben‘

7.3 Lernziele

7.4 Die Entstehung der Formgeschichte

7.5 Ausgewählte Formen der synoptischen Überlieferung

 

7.5.1 Gleichnisse

7.5.2 Übung (Mk 4,30–32par)

7.5.3 Wundergeschichten

7.5.4 Übung (Mk 7,31–37)

7.5.5 Aufgabe

7.6 Die Form des Evangeliums

7.7 Die Form der Briefe

7.8 Literarische Formen in den Briefen

7.9 Kritik der Formgeschichte

8. Traditionsgeschichte

8.1 Definition

8.2 Methodik

8.3 Lernziel

8.4 Übung (Mk 2,23–28)

8.5 Aufgabe

9. Begriffs- und Motivgeschichte

9.1 Definition

9.2 Lernziele

9.3 Arbeitsmittel

9.4 Übung (Mk 9,18)

9.5 Übung (Mk 7,27–28)

9.6 Aufgabe

10. Der religionsgeschichtliche Vergleich

10.1 Definition

10.2 Lernziel

10.3 Methodik

10.4 Die religionsgeschichtliche Erforschung des Neuen Testaments

10.5 Übung (Epiktet, Diss I 15,7–8/Mk 4,26–29)

10.6 Aufgabe

11. Redaktionsgeschichte

11.1 Definition

11.2 Lernziele

11.3 Voraussetzungen der Redaktionsgeschichte

11.4 Methodik

11.5 Der Autor, das Werk und die Leser

11.6 Übung (Mt 21,33–46)

11.7 Aufgabe

12. Die Exegese der ntl. Briefliteratur

12.1 Paulus

12.2 Das nachpaulinische Schrifttum

13. Hermeneutik

13.1 Definition

13.2 Hermeneutische Methoden und Entwürfe

13.2.1 Das rabbinische Judentum

13.2.2 Paulus

13.2.3 Origenes

13.2.4 Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn

13.2.5 Martin Luther

13.2.6 F. D. E. Schleiermacher

13.2.7 Ernst Troeltsch

13.2.8 Karl Barth

13.2.9 Rudolf Bultmann

13.3 Neuere hermeneutische Ansätze

13.3.1 Hans Georg Gadamer

13.3.2 Biblische Theologie

13.3.3 Sozialgeschichtliche Auslegung

13.3.4 Linguistik

13.3.5 Psychologische Auslegung

13.3.6 Feministische Bibelauslegung

13.3.7 Theologie als Sinnbildung

13.4 Das Ziel der neutestamentlichen Hermeneutik

13.5 Aufgabe

14. Die Anfertigung einer Proseminararbeit

15. Die Arbeit mit der Computertechnik

15.1 Messen, Layout und Zeichensätze

15.2 Satzspiegel

15.3 Absatzformate

15.4 Tabulatoren

1. Einleitung

Literatur

GENTHE, H. J., Kleine Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft, 1977. – KÜMMEL, W. G., Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, 21970. – REVENTLOW, H. v., Epochen der Bibelauslegung I–IV, 1990–2001. – BAIRD, W., History of New Testament Research I.II.III, Minneapolis 1992.2003.2013.

Das Ziel der Einführung in die neutestamentliche Exegese besteht darin, die Studierenden zur eigenständigen Analyse eines neutestamentlichen Textes mit Hilfe der historisch-kritischen Auslegungsmethode zu befähigen. Sie sollen einen Text hinsichtlich seines ursprünglichen Wortlautes, seiner sprachlichen und literarischen Struktur, seiner Form, seiner Entstehungsgeschichte, seiner Begriffe und Motive, seiner religionsgeschichtlichen Stellung, seiner redaktionellen Aussagerichtung und seines theologischen Inhalts analysieren und verstehen können.

Als Mittel der Exegese ist die historisch-kritische Auslegungsmethode weder voraussetzungslos noch unveränderlich. Ihre Wurzeln hat sie in der geistesgeschichtlichen Wende der Neuzeit, die sich in den Entdeckungen und Ergebnissen der Naturwissenschaften, der Philosophie, der Ökonomie, der Philologie und der Geisteswissenschaften niederschlug. Vor allem in der französischen, englischen und deutschen Aufklärung entstand ein neues Weltbild, das durch menschliches Autonomiebewusstsein, Pluralismus, Emanzipation und eine fortschreitende Säkularisierung gekennzeichnet war. Die Vorstellungen einer historia sacra oder scriptura sacra wurden fallengelassen und eine metaphysische Welterklärung sowie die Vormachtstellung der Kirche nicht mehr als selbstverständlich hingenommen. Die Frage nach Wahrheit war hinfort nicht mehr mit dem Verweis auf kirchliche Traditionen und Lehrmeinungen zu beantworten, sondern wurde der Vernunft unterworfen.

Theologiegeschichtlich sind im Rahmen dieser Entwicklung vor allem die Unterscheidung zwischen Heiliger Schrift und Wort Gottes durch J. S. Semler, die Entgegensetzung von ewigen Vernunftwahrheiten und zufälligen Geschichtswahrheiten durch G. E. Lessing und die von J. Ph. Gabler durchgeführte Trennung von »biblischer« und »dogmatischer« Theologie wirksam geworden.

Der Hallenser Theologe JOHANN SALOMO SEMLER (1725–1791) unterzog das Neue Testament einer streng historischen Fragestellung und unterschied dabei zwischen Wort Gottes und Heiliger Schrift, weil es in der Heiligen Schrift Abschnitte gibt, die nur in der Vergangenheit von Bedeutung waren und heute dem Menschen nicht mehr zur ‚moralischen Aufbesserung‘ dienen. »Heilige Schrift und Wort Gottes ist gar sehr zu unterscheiden, weil wir den Unterschied kennen; hat man ihn vorher nicht eingesehen, so ist ja dies kein Verbot, das es uns untersagte. Zu der heiligen Schrift, wie dieser historische, relative terminus unter den Juden aufgekommen ist, gehört Ruth, Esther, Hohelied etc., aber zum Worte Gottes, das alle Menschen in aller Zeit weise macht zur Seligkeit, gehörten diese heilig genannten Bücher nicht alle.«1 Die Unterscheidung zwischen Wort Gottes und Heiliger Schrift wurde zum Prinzip einer neuen Hermeneutik, welche die Lehre von der Verbalinspiration gänzlich entwertete und ein innerbiblisches Scheidungsverfahren in Gang setzte, dem als Kriterium für die Unterscheidung zwischen dem bleibenden Wort Gottes und dem Historisch-Relativen die moralische Besserung des Menschen diente. »Da wir durch alle 24 Bücher des Alten Testaments nicht moralisch gebessert werden, so können wir uns auch von ihrer Göttlichkeit nicht überzeugen.«2 Semlers Gleichsetzung von »göttlich« und »moralischer Besserung« hatte somit eine Trennung zwischen Altem und Neuem Testament zur Folge. Ebenfalls bedeutsam war eine zweite Unterscheidung Semlers, die zwischen Religion und Theologie. Während mit dem Ausdruck ‚Religion‘ die von allen Christen zu übende rechte Frömmigkeit gemeint ist, versteht Semler unter ‚Theologie‘ die zur fachlichen Ausbildung der Theologen notwendigen wissenschaftlichen Methoden. Damit gewinnt er einen zu seiner Zeit keineswegs üblichen Freiraum für kritische wissenschaftliche Arbeit, deren Methoden und Ergebnisse die von allen auszuübende Religion grundsätzlich nicht in Frage stellen.

Dem Problem ‚Vernunft und Offenbarung‘ stellte sich in unbestechlicher Schärfe der Dichter und Philosoph GOTTHOLD EPHRAIM LESSING (1729–1781). In dem Essay »Vom Beweis des Geistes und der Kraft« (vgl. 1Kor 2,4) betont Lessing, »daß Nachrichten von erfüllten Weissagungen nicht erfüllte Weissagungen, daß Nachrichten von Wundern nicht Wunder sind«3. Was Menschen vor 1800 Jahren unmittelbar zum Glauben veranlasste, kann heute auf die bloße Nachricht hin nicht in gleicher Weise zum Glauben führen. »Wenn keine historische Wahrheit demonstriert werden kann, so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstriert werden. Das ist: Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.«4 Damit leugnet Lessing nicht die Wahrheit des christlichen Glaubens und wendet sich nicht gegen die Offenbarung, sondern gegen die Beweismittel, die man für sie anführt: Weissagungen und Wunder. Er kämpft gegen die ‚Bibliolatrie‘, gegen die Herrschaft des inspirierten Buchstabens, die den ‚garstigen Graben‘ zwischen uns und den biblischen Schriften nicht wahrhaben will. Lessings Unterscheidung von Religion und Bibel, wonach die notwendigen Vernunftswahrheiten (natürliche Theologie) der Religion, die zufälligen Geschichtswahrheiten hingegen der Bibel zuzuordnen sind, wird in der »Erziehung des Menschengeschlechtes« (1780) ins Positive gewendet. Die Bibel erhält ihren Platz in der notwendigen Entwicklung von der Offenbarung zur Vernunft. Die biblischen Geschichtswahrheiten werden in den universalen Prozess einer zielgerichteten göttlichen Pädagogik eingebettet, an dessen Ende ein neues ewiges Evangelium stehen wird, das im Neuen Testament selbst verheißen ist und wonach der Mensch durch seine Vernunft das Gute um des Guten willen tun wird.

 

Von großer Bedeutung war die Unterscheidung zwischen biblischer Theologie und dogmatischer Theologie durch JOHANN PHILIPP GABLER (1753–1826). »Die biblische Theologie besitzt historischen Charakter, überliefernd, was die heiligen Schriftsteller über die göttlichen Dinge gedacht haben; die Dogmatische Theologie dagegen besitzt didaktischen Charakter, lehrend, was jeder Theologe kraft seiner Fähigkeit oder gemäß dem Zeitumstand, dem Zeitalter, dem Orte, der Sekte, der Schule und anderen ähnlichen Dingen dieser Art über die göttlichen Dinge philosophierte. Jene, da sie historisch argumentiert, ist, für sich betrachtet, sich immer gleich (obwohl sie selbst, je nach dem Lehrsystem, nach dem sie ausgearbeitet wurde, von den einen so, von den anderen anders dargestellt wird): Diese jedoch ist zusammen mit den übrigen menschlichen Disziplinen vielfältiger Veränderung unterworfen: Was ständige und fortlaufende Beobachtung so vieler Jahrhunderte übergenug beweist.«5 Die Aufgabe der biblischen Theologie liegt somit in der Erhebung des sensus scriptorum, ihr muss ein historisch-exegetisches Verfahren zugrunde liegen, während die dogmatische Theologie sich durch Rationalität, Konfessionalität und philosophische Aktualität auszeichnet. Bibelstellen dienen nicht einfach mehr zum Beweis dogmatischer Aussagen (dicta probantia), sondern als genus historicum ist die biblische Theologie eine eigenständige Wissenschaft und Voraussetzung der dogmatischen Theologie.

Beim Vollzug der biblischen Theologie als einer rein historischen Disziplin legt Gabler Wert darauf, dass die Lehre von der göttlichen Inspiration der Schrift bei der Ermittlung des sensus literalis beiseite gelassen wird, dass die Vorstellungen, Begriffe und Anschauungen der »heiligen Männer« genau unterschieden und verglichen werden, wobei Altes und Neues Testament letztlich getrennt werden müssen, und schließlich bei der Exegese genau differenziert wird zwischen der grammatischen Auslegung und der folgenden Erklärung des Textes. Während sich die grammatische Auslegung auf den Sinn eines Textes richtet, auf das, was der Schriftsteller bei der Abfassung des Textes dachte, unterzieht die Erklärung den Text einer scharfen historischen und philosophischen Kritik. »Man kann daher in der That einen gegründeten Unterschied zwischen Auslegen und Erklären machen: zu dem ersten gehört nur die Erforschung des Sinnes; zu dem letztern hingegen die Aufklärung der Sache selbst …«6 Gablers Unterscheidung zwischen Wort- und Sacherklärung ist eine grundlegende hermeneutische Anweisung, die in leicht abgewandelter Form heute in der Differenzierung von Sinn und Bedeutung eines Textes große Aktualität besitzt7.

Fortan wurde auch die Bibel wie jedes andere literarische Produkt der Antike mit den Methoden der kritischen Geschichtswissenschaft und Philologie untersucht, die vor allem im 19. Jahrhundert einen ungeheuren Aufschwung nahmen (L. v. Ranke, J. G. Droysen, Th. Mommsen, H. Usener).

Die im Rahmen dieser Entwicklung entstandene historisch-kritische Auslegungsmethode hat nun ihr Recht keineswegs in sich selbst, sondern sie hat sich als eine sachgerechte und den Texten angemessene Auslegungsform erwiesen und muss sich auch in Zukunft ständig als solche erweisen. Sie ist nicht in sich einheitlich, es gibt nicht ‚die‘ historisch-kritische Methode, sondern sowohl hinsichtlich der Methodik als auch der Ergebnisse fehlt es nicht an Unterschieden. Dies ist aber nur natürlich; denn als eine geschichtlich denkende Auslegungsmethode ist sie selbst der Geschichtlichkeit und damit der Veränderlichkeit unterworfen.

Lektüre

EBELING, G., Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: ders., Wort und Glaube I, 31967, 1–49

1 J. S. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I, 1771, 75.

2 A.a.O. III, 1773, 26.

3 G. E. Lessing, Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Sämtliche Schriften X, hg. v. K. Lachmann, 21856, 38.

4 A.a.O., 39.

5 J. Ph. Gabler, Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beiden Ziele, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF 367, 1975, (32–44) 35f.

6 Zitiert nach W. G. Kümmel, Das Neue Testament, 121.

7 Zwischen Interpretation und Kritik, Sinn und Bedeutung unterscheidet E. D. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, UTB 104, 1972, 181 f. – Interpretation (= Exegese) meint die Erschließung des Sinnes (meaning) eines Textes, Kritik hingegen eine Stellungnahme zum Text, die Herausarbeitung seiner Bedeutung für eine Person (relevance). Zwischen beiden Schritten ist nach Hirsch streng zu unterscheiden, denn »man versteht einen Sinn, man beurteilt seine Bedeutung. Im ersten Fall unterwirft man sich einem anderen; im zweiten Fall handelt man unabhängig, aus eigener Autorität, wie ein Richter« (a.a.O., 183).

2. Hilfsmittel zum Studium des Neuen Testaments

2.1 Textausgaben

2.1.1 Die wissenschaftliche Handausgabe des Neuen Testaments ist das Novum Testamentum Graece von E. Nestle – K. Aland. Es erschien 1979 in einer völlig neu bearbeiteten 26. Auflage, die 1993 durch die im kritischen Apparat veränderte 27. Auflage abgelöst wurde. 2012 erschien die 28. revidierte Auflage (zu den Einzelheiten vgl. den Abschnitt ‚Textkritik‘).

Das im Blick auf die Aufgaben der modernen Übersetzer entworfene und von B. u. K. Aland, J. Karavidopoulos, C. M. Martini und B. M. Metzger herausgegebene ‚Greek New Testament‘ erschien 1993 in einer neu bearbeiteten 4. Auflage. Der abgedruckte Text ist identisch mit Nestle-Aland26.27, der textkritische Apparat wurde durchgehend bearbeitet und erweitert. Dennoch wird der textkritische Befund nicht in der gleichen Dichte dargeboten wie in Nestle-Aland27, so dass diese Ausgabe für das wissenschaftliche Studium des Neuen Testaments vorzuziehen ist.

Seit 1997 erscheint die Editio Critica Maior des griechischen Neuen Testaments (hg. v. B. Aland, K. Aland †, G. Mink, K. Wachtel). Sie hat sich zum Ziel gesetzt, faktisch das gesamte textgeschichtliche Material zu einer ntl. Schrift darzubieten (erschienen sind bisher: Jak; 1.2 Petr.; 1.2.3Joh).

2.1.2 Ein unentbehrliches Hilfsmittel für die Arbeit an den Synoptikern und dem Johannesevangelium ist eine griechische Synopse. Die von Kurt Aland herausgegebene ‚Synopsis Quattuor Evangeliorum‘ (152001) bietet auf der Grundlage von Nestle-Aland26.27 neben den parallelen Textabschnitten der Synoptiker und des Johannesevangeliums zahlreiche patristische Belegstellen und im Anhang den koptischen Text des Thomasevangeliums mit einer deutschen Übersetzung.

In einer vollständigen Neubearbeitung durch Heinrich Greeven erschien 1981 die Synopse von A. Huck – H. Lietzmann. Auch Greeven hat die Parallelen aus dem Johannesevangelium und dem Thomasevangelium aufgenommen, wobei er für das Thomasevangelium eine eigene griechische Übersetzung anfertigte. ‚Huck-Greeven’ bietet eine völlig eigenständige Textfassung, so dass für den Bereich der synoptischen Evangelien eine Alternative zu Nestle-Aland27.28 vorhanden ist. Zur Bedeutung von ‚Huck-Greeven‘ für die neutestamentliche Textkritik vgl. den Abschnitt ‚Textkritik‘.

2.1.3 Zur Zeit der späten Schriften des Neuen Testaments und in nachneutestamentlicher Zeit entwickelte sich eine umfangreiche christliche Literatur, deren Kenntnis für die Arbeit am Neuen Testament häufig notwendig ist. Die Schriften der ‚Apostolischen Väter’ (Clemens, Ignatius, Polykarp, Didache, Barnabasbrief, Diognetbrief, Hirt des Hermas, Papiasfragmente) liegen in griechisch-deutschen Ausgaben von J. A. Fischer, 91986, K. Wengst, 1984, und U. H. J. Körtner – M. Leutzsch, 1998, sowie von A. Lindemann – H. Paulsen, Die Apostolischen Väter, 1992, vor. Die neutestamentlichen Apokryphen sind in deutscher Übersetzung leicht zugänglich in der zweibändigen Ausgabe von W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, I 61990; II 51989; vgl. ferner H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien, 2002; ders., Apokryphe Apostelakten, 2005.

2.1.4 Von großer Bedeutung für die Arbeit am Neuen Testament ist die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die nach der Überlieferung des Aristeasbriefes durch 72 Gelehrte in 72 Tagen entstanden sein soll und daher Septuaginta (LXX) heißt. Die neutestamentlichen Schriftsteller zitieren häufig aus diesem seit der ersten Hälfte des 3. Jh. v.Chr. verfassten Werk8.

Eine handliche Ausgabe des LXX-Textes in 2 Bänden liegt von A. Rahlfs vor (Erstdruck 1935, Neubearbeitung durch R. Hanhart, 2006). Seit 1931 erscheint eine umfassende Septuaginta-Ausgabe im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Über die hebräische Bibel hinaus enthält die Septuaginta neben Ergänzungen und Bearbeitungen der ursprünglichen Schriften 9 Bücher zusätzlich (Sapientia Salomonis, Jesus Sirach, Psalmen Salomos, Judith, Tobit und erstes bis viertes Makkabäerbuch), die alttestamentliche Apokryphen genannt werden (von gr. ἀπόκρυφος = verborgen, geheim). Den Wortbestand der Septuaginta-Ausgabe von Rahlfs mit englischen Übersetzungen bietet J. Lust u.a. (Hg.), A Greek-English Lexicon of the Septuagint I.II, 1992.1996. Sehr hilfreich sind auch das Wörterbuch zur LXX von F. Rehkopf, Septuaginta-Vokabular, 1989, und M. Tilly, Einführung in die Septuaginta, 2005.

Eine wissenschaftlich fundierte deutsche Übersetzung der Septuaginta liegt nun erstmals vor: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in Übersetzung, hg. v. W. Kraus – M. Karrer, 2008. Eine Übersetzung jüdischer Schriften außerhalb des alttestamentlichen Kanons (die sog. ‚Pseudepigraphen‘) bietet auch E. Kautzsch (Hg.), Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, 41975. Eine vollständige Übersetzung der Apokryphen und Pseudepigraphen findet sich bei J. H. Charlesworth (Hg.), The Old Testament Pseudepigrapha I–II, Garden City NY 1983.1985. Das deutsche Pendant zu diesem Werk ist die von W. G. Kümmel begründete und nun von H. Lichtenberger hg. Reihe ‚Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit‘ (1973ff), in der 52 Schriften übersetzt werden. Von Bedeutung ist ferner die Übersetzung der Pseudepigraphen und anderer jüdischer Schriften durch P. Rießler, Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, 1981 (Nachdruck).

2.1.5 Wichtig für die Arbeit am Neuen Testament ist auch die Kenntnis der Texte der Gemeinde von Qumran am Toten Meer. Hier ist die hebräisch-deutsche Ausgabe von E. Lohse, Die Texte aus Qumran, 41986; A. Steudel, Die Texte aus Qumran II, 2001, zu empfehlen. Alle Qumran-Texte sind nun in deutscher Übersetzung zugänglich bei: J. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer I–III, 1995–1996. Eine grundlegende Orientierung in der neu entbrannten Qumran-Debatte gibt H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, 71998; die neueste, umstrittene Entwicklung dokumentiert Y. Hirschfeld, Qumran – die ganze Wahrheit, 2006 (nicht die Texte, sondern die archäologischen Funde bilden die Grundlage von Hypothesen). Eine auch heute noch hilfreiche Auswertung für das Neue Testament ist die Monographie von H. Braun, Qumran und das Neue Testament I–II, 1966.

2.1.6 Für das Verständnis der Sprache und Gedankenwelt des Neuen Testaments ist die Kenntnis hellenistischer bzw. stark hellenistisch beeinflusster Schriftsteller unerlässlich. Die Schriften des jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandria (geb. ca. 25 v.Chr. – gest. nach 40 n.Chr.), des stoischen Philosophen Epiktet (ca. 55–135 n.Chr.), des Biographen und Schriftstellers Plutarch (ca. 45–120 n.Chr.) und des Sophisten Philostrat (gest. um 245 n.Chr.) sind in griechisch-englischen Ausgaben leicht zugänglich innerhalb der ‚Loeb Classical Library‘. Das Hauptwerk des jüdischen Historikers Flavius Josephus (37/38 – um 100 n.Chr.) ‚De Bello Judaico‘ liegt in einer von O. Michel und O. Bauernfeind hg. griechisch-deutschen Ausgabe vor (1959–1969); nach wie vor von Wert ist die deutsche Übersetzung der ‚Antiquitates Judaicae’ von Josephus durch H. Clementz, die nun in einer von M. Tilly durchgesehenen und mit der wissenschaftlich üblichen Paragraphenzählung versehenen Neuausgabe vorliegt (2004).

2.1.7 Umfangreiche Vergleichstexte zum Neuen Testament aus dem Bereich der klassischen griechischen Literatur und des Hellenismus bietet der Neue Wettstein (s.u. 10). Auf der Basis des Quellenteils von J. J. Wettstein (Hg.) Novum Testamentum Graecum, Amsterdam 1751/52, führt der II. Band des Neuen Wettstein ca. 3600 Vergleichstexte zur ntl. Briefliteratur und zur Johannesapokalypse an (Bd. II/1.2 erschien 1996; Bd. I/2 erschien 2001 und enthält 2000 Vergleichstexte zum Johannesevangelium; Bd. I/1.1 zum Markusevangelium erschien 2008; Band I/1.2 zum Matthäusevangelium umfasst 2 Teilbände, von denen 2013 der erste Teilband veröffentlicht wurde; jeder einzelne Band bietet wiederum ca. 2000 Vergleichstexte. Bd. III bietet Vergleichstexte zum luk. Doppelwerk). Alle Vergleichstexte werden unter Berücksichtigung ihres Kontextes in deutscher Sprache zitiert. Die zentralen Passagen sind jeweils im griechischen bzw. lateinischen Originaltext beigefügt. Mit dem Neuen Wettstein haben die Studierenden erstmals die Möglichkeit, umfassend Texte aus der griechisch-römischen Antike für die Interpretation des NT heranzuziehen.

2.1.8 Eine umfangreiche Auswahl gnostischer Texte in deutscher Übersetzung enthält das dreibändige Werk ‚Die Gnosis‘ (Bd. I: Zeugnisse der Kirchenväter, 21979; Bd. II: Koptische und mandäische Quellen, 1971, beide Bände hg. von W. Foerster; Bd. III: Der Manichäismus, 1980, hg. v. A. Böhlig). Eine vollständige deutsche Übersetzung aller Nag-Hammadi-Texte bietet jetzt: Nag Hammadi Deutsch I.II, hg. v. H.-M. Schenke, H.-G. Bethge u. U. U. Kaiser, 2001.2003.

2.2 Hilfen für die Übersetzung

2.2.1 Sehr hilfreich für das Verständnis und die Übersetzung des neutestamentlichen Textes sind Einführungen in die Sprache des Neuen Testaments, wie sie W. Bauer, Zur Einführung in das Wörterbuch zum Neuen Testament, in: ders., Aufsätze und Kleine Schriften, hg. v. G. Strecker, 1967, 61–90; A. Wikenhauser – J. Schmid, Einleitung in das Neue Testament, 61973, 186–202, und F. Rehkopf, Griechisch (des Neuen Testaments), TRE 14 (1985), 228–235, bieten.

2.2.2 Unentbehrlich für die Arbeit am Neuen Testament sind griechisch-deutsche Wörterbücher. Ein anerkanntes ‚Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur‘ hat Walter Bauer (51958 = 1975; 6. Auflage hg. v. K. u. B. Aland, 1988) verfasst. Durch seine zahlreichen Belege aus der jüdischen, paganen und urchristlichen Literatur, seine philologischen und exegetischen Verweise und bibliographischen Angaben ist dieses Werk weit mehr als ein normales Wörterbuch. Aufgrund einer starken Berücksichtigung des hellenistischen Griechisch (Koine) und zahlreicher unbeachteter Belege aus der Profangräzität gelingt es Bauer, die großen sprachlichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Neuen Testament und der Literatur der jüdisch- und pagan-hellenistischen Umwelt aufzuzeigen. Eine zuverlässige erste Information bietet F. Rehkopf, Griechisch-deutsches Wörterbuch zum Neuen Testament, 1992. Ein umfassendes Lexikon zur gesamten antiken Gräzität ist H. G. Liddell – R. Scott, A Greek-English Lexicon, New Edition, Oxford 1925–1940 (ergänzt 1968). Grundlegende Einführungen in die Bedeutung, das semantische Umfeld und traditions- und religionsgeschichtliche Hintergründe eines ntl. Begriffes bieten: G. Kittel – G. Friedrich (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament I–X, 1933–1979; H. Balz – G. Schneider (Hg.), Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament I–III, 21992; L. Coenen – K. Haacker (Hg.), Theologisches Begriffslexikon, 2001.