Kreative Leibtherapie

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Kreative Leibtherapie
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SEMNOS LEHRBUCH

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www.semnos.de

Udo Baer

Kreative Leibtherapie. Das Lehrbuch

Neukirchen-Vluyn:

Semnos Verlag 2012 / 1. Auflage

ISBN 978-3934933-37-8

© 2012 Semnos Verlag, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Elke Renz

Satz: TRITUM GmbH, Jena

Umschlaggestaltung: Christin Ursprung, Berlin

Titelfoto: jala / photocase.com

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

SEMNOS LEHRBUCH

Udo Baer

Kreative Leibtherapie Das Lehrbuch

SEMNOS


Udo Baer (Neukirchen-Vluyn – Jg. 1949)

Dr. phil., Dipl. Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut, Heilpraktiker für Psychotherapie, Mitbegründer, Geschäftsführer und Gesamt-Ausbildungsleiter der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Vorsitzender der Stiftung Würde, wissenschaftlicher Leiter des Institut für Gerontopsychiatrie (IGP) und des Kompetenzzentrums für Kinder und Jugendliche (KKJ), Autor.

Inhalt

1 Einführung − und was man vor dem Lesen wissen sollte

2 Leiblichkeit – Menschenbild und Therapie

2.1 Der Leib

2.1.1 Annäherung und Begriff

2.1.2 Die Spaltung und ihre Aufhebung: Leib und „Geist”

2.1.3 Die Spaltung und ihre Aufhebung: Leib und „Körper”

2.1.4 Die Spaltung und ihre Aufhebung: Leib und „Umwelt”

2.1.5 Das Menschenbild der humanistischen Psychologie und das einfache Leibmodell der Kreativen Leibtherapie

2.2 Die Leibqualitäten

2.2.1 Meinhaftigkeit

2.2.2 Subjektivität

2.2.3 Räumlichkeit

2.2.4 Zeitlichkeit

2.2.5 Pulsieren

2.2.6 Zentralität

2.2.7 Intentionalität

2.2.8 Wirksamkeit

2.2.9 Zwischenleiblichkeit und Resonanz

2.2.10 Ähnlichkeit

2.3 Musterbildung und Leiblichkeit

2.4 Das Leibgedächtnis

2.5 Das ungelebte Leben

2.6 Person: Leiblichkeit und Exzentrizität

2.7 Person: Lebenswelt und Selbstbewusstsein

2.8 Die Dialektik der Leiblichkeit

2.9 Das Wunder des Ausdrucks – Leibtherapie ist Kreative Therapie

3 Muster

3.1 Muster und ihr Sinn

3.1.1 Begriffsklärung: Muster

3.1.2 Musterqualitäten

3.2 Muster und Diagnostik

3.2.1 Die phänomenologische Methode

3.2.2 Die phänomenologische Untersuchungsmethode

3.2.3 Leiborientierte Diagnostik

3.3 Musterbildung

3.3.1 Leiborientierte Entwicklungspsychologie

3.3.2 Leiblichkeit und kindliche Entwicklung

3.3.3 Die sieben Lebensherausforderungen

4 Komplexe Theoriemodule: the Big Ten

4.1 Die Zimmer der Big Ten und ihre Zugänge

4.2 Erregungskonturen

4.2.1 Ein Modell des Erlebens

4.2.2 Diagnostik

4.2.3 Therapeutik – Wege der Veränderung

4.3 Pulsierende Räumlichkeit und Verraumen

4.3.1 Ein Modell des Erlebens

4.3.2 Diagnostik

4.3.3 Therapeutik – Wege der Veränderung

4.4 Bedeutungsräume

4.4.1 Ein Modell des Erlebens

4.4.2 Diagnostik

4.4.3 Therapeutik – Wege der Veränderung

4.5 Affektive Regungen

4.5.1 Modelle des Erlebens

4.5.2 Diagnostik

4.5.3 Therapeutik – Wege der Veränderung

4.6 Richtungs-Leibbewegungen

4.6.1 Modelle des Erlebens

4.6.2 Diagnostik

4.6.3 Therapeutik – Wege der Veränderung

4.7 Konstitutive Leibbewegungen

4.7.1 Ein Modell des Erlebens

4.7.2 Diagnostik

4.7.3 Therapeutik – Wege der Veränderung

4.8 Primäre Leibbewegungen

4.8.1 Ein Modell des Erlebens

4.8.2 Diagnostik

4.8.3 Therapeutik – Wege der Veränderung

4.9 Tridentität

4.9.1 Ein Modell des Erlebens

4.9.2 Diagnostik

4.9.3 Therapeutik – Wege der Veränderung

4.10 Körpererleben: Leibinseln, Körperbild, Körperschema

4.10.1 Ein Modell des Erlebens

4.10.2 Diagnostik

4.10.3 Therapeutik – Wege der Veränderung

4.11 Resonanzen

4.11.1 Ein Modell des Erlebens

4.11.2 Diagnostik

4.11.3 Therapeutik – Wege der Veränderung

5 Exemplarische Pathologie

5.1 Affektive Störungen, Depression

5.2 Schizophrenie

5.3 Persönlichkeitsstörungen

 

5.4 Suchterkrankungen

5.5 Angst-/Zwangsstörungen

5.6 Traumafolgen

5.7 Die vier Monster, die drei Leeren und die olympischen Ringe

6 Einige besondere Aspekte leibtherapeutischer Prozesse

6.1 Die Ich-Du-Perspektive und die therapeutische Beziehung

6.2 Spiel, Experiment, Coping

6.3 Perspektiv- und Haltungswechsel und Verwandlungsprozesse

6.4 Zwischenleiblichkeit und leibliche Berührung

6.5 Integration, Verstehen und Verständnis

6.6 Macht und Klient/innen-Kompetenz

6.7 Übertragung, Szene, Gegenübertragung

6.8 Modi und Interaktionen

6.8.1 Therapeutisches Handwerkszeug: Sharing, Feedback, Fragen

6.8.2 Therapeutische Interaktion nach dem Tridentitätsmodell

6.8.3 Die drei Modi der therapeutischen Begegnung

6.9 Anti-Ideologie: Ideale, Haltungen und Werte

7 Weitere Quellen

7.1 Neurobiologie

7.1.1 Neurobiologie und Körperbild

7.1.2 Neurobiologie und Erregungskonturen

7.1.3 Neurobiologie, Spiegelneuronen und Resonanz

7.1.4 Neurobiologie und Verraumen

7.1.5 Neurobiologie und Menschenbild

7.1.6 Neurobiologie und Veränderung

7.2 Was den Künsten innewohnt

8 Kreative Leibtherapie als Verfahren tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie

9 Würde und würdigen: Kreative Leibtherapie und Gesellschaft

Literaturverzeichnis

Stichwort- und Personenverzeichnis

1 Einführung −
und was man vor dem Lesen wissen sollte

Dieses Lehrbuch erscheint zum 25. Jahrestag der Gründung der Zukunftswerkstatt therapie kreativ bzw. ihrer Vorläuferin, der „Zukunftswerkstatt Tanz e.V.” im Jahr 1987. Zwei Jahre zuvor hatten sich meine Frau Gabriele Frick-Baer und ich sowie einige Kolleg/innen aus dem sozialpädagogischen Bereich zusammengetan, um die Zukunftswerkstatt e.V. zu gründen. Wir alle arbeiteten damals in sozialen Berufen, überwiegend bei Wohlfahrtsverbänden, und waren es irgendwann überdrüssig, uns selbst und andere immer wieder sagen zu hören: „Man müsste mal …” Um dieses „Man müsste mal …” nicht immer wieder in die ferne Zukunft zu verschieben, sondern die Gestaltung der Zukunft in der Gegenwart anzupacken, gründeten wir die Zukunftswerkstatt e.V. Wir waren neben unseren sozialen Berufstätigkeiten alle kreativ tätig, im tänzerischen und musikalischen Bereich, im Theater, in der künstlerischen Gestaltung, und machten dabei zahlreiche und intensive Erfahrungen, wie der künstlerische Prozess das Erleben und Verhalten verändern kann. Wir wollten dies für unsere sozialen Projekte nutzbar machen und mit unseren sonstigen Aktivitäten verbinden.

Von Therapie war in diesem Zusammenhang noch kaum die Rede, auch wenn meine Frau und ich uns damals in therapeutischen Ausbildungen befanden bzw. diese absolviert und therapeutische Erfahrungen gesammelt hatten. Viel gesprochen wurde aber schon von Werten wie Aufrichten, Beziehung und Würde.

Mit der Zukunftswerkstatt e.V. gründeten wir zahlreiche Projekte: ein Gesundheits- und Bewegungszentrum im Duisburger Norden, in dem wir mit schwer sozial benachteiligten Menschen gesundheitsfördernde Angebote durchführten (z. B. „Herzbegleitung” für Menschen nach einem Herzinfarkt, „Rund um die gestresste Wirbelsäule” für Menschen mit Rückenbeschwerden, „Anti-Kopfschmerz-Gruppen”). Wir gründeten eine mobile Orientierungsschule für altersverwirrte Menschen, in der wir Konzepte erarbeiteten und erprobten, Elemente des Tanzes und der Musik in die Arbeit mit Demenzkranken zu bringen. (unter dem Motto „Ich bewege mich – ich lasse mich bewegen”). Wir verknüpften Berufsfortbildungen für türkische junge Frauen mit tänzerischen Angeboten, die im geschützten Rahmen das Selbstbewusstsein stärken halfen). Weil die Erfahrungen dafür sprachen, wurden wir immer mutiger darin, therapeutische Elemente in unsere sozialpädagogische Arbeit zu integrieren, zum Beispiel mit schwer psychisch erkrankten Menschen. Dabei merkten meine Frau und ich, dass vieles von dem, was wir sowohl im Studium als auch in den therapeutischen Aus- und Fortbildungen gelernt hatten, nicht ausreichend „passte” und wir neue Methoden entwickeln mussten. Wir brauchten schließlich auch mehr Kolleginnen und Kollegen, die diese und viele andere Projekte durchführen konnten, und schufen dafür eine einjährige Vollzeitfortbildung, die vom damaligen Arbeitsamt finanziert wurde: die Tanz-Sozialtherapie. Dafür wurde schließlich die Zukunftswerkstatt Tanz e.V. gegründet. Die Ausweitung von deren Aktivitäten auf andere künstlerische Schwerpunkte fand schließlich in der Namensänderung zu „Zukunftswerkstatt Tanz Musik Gestaltung” ihren Ausdruck, bis sie letztendlich mit ihrer zunehmenden Ausrichtung zum Ausbildungsinstitut für leiborientierte Therapie in die „Zukunftswerkstatt therapie kreativ” umbenannt wurde.

Wir verschwendeten in diesen Anfangsjahren keinen Gedanken daran, neue therapeutische Modelle oder gar Verfahren schaffen zu wollen. Das wurde im Laufe der Zeit anders, weil wir unsere Erfahrungen und damit die Notwendigkeiten der Anpassung der Theorie an unsere Praxis nicht ignorieren konnten. In den Anfangsjahren verstanden sich meine Frau und ich als kreative Gestalttherapeut/innen, fußend auf unsere von uns geschätzten Ausbildungen beim Fritz-Perls-Institut, die durch zahlreiche andere Inputs fachlich ergänzt wurden, die wir uns zielgerichtet suchten. Basierend auf den Wurzeln einer humanistischen Psychotherapie bestand der Schwerpunkt unseres Interesses darin, Elemente all dieser therapeutischen und kreativen Kompetenzen für das soziale, pädagogische und Gesundheitsfeld nutzbar zu machen. Wir wussten, dass die Möglichkeiten des Tanzes, des Musizierens und der künstlerischen Gestaltung dazu einladen, Erfahrungen leiblicher Veränderungen zu machen. Wer einmal in einer Theatergruppe intensiv erlebt hat, wie es ist, aufrecht und würdevoll durch die Welt zu schreiten, wird sich nicht mehr mit der geduckten Haltung begnügen. Wir erlebten, dass Menschen mit Demenz, die mit Worten nicht oder kaum noch ansprechbar waren, über kreative Dialoge Fähigkeiten zeigten, die niemand mehr vermutet hätte. Doch all solche Erfahrungen und Veränderungsprozesse zu begleiten, bedurfte therapeutischer Kompetenzen, die über die künstlerischen Fähigkeiten hinausgingen. Wir nannten diese Kompetenzen, die wir entwickelten und vermittelten, damals Kreative Sozialtherapie und initiierten dafür auch die Gründung eines Verbandes gemeinsam mit anderen Ausbildungsinstituten, die in den 90er-Jahren Therapie für die Arbeit im sozialen Feld nutzbar machen wollten.

Die Erweiterung unserer Praxis im Gesundheitsbereich sowie im Bildungsund Sozialwesen konfrontierte uns in der Folgezeit mit zwei Schwierigkeiten. Die erste bestand darin, dass wir oft mit dem uns zur Verfügung stehenden methodischen Repertoire nicht zufrieden waren und neue Wege beschreiten mussten. Wir gaben uns auch nicht damit zufrieden, wie es damals üblich war, kreative Methoden vor allem als Warm-Ups zu benutzen, um dann die „eigentliche” therapeutische Arbeit mit den klassischen Methoden der Gestalttherapie oder anderer Verfahren durchzuführen. Wir waren uns sicher und die Erfahrungen bestätigten uns, dass in den künstlerischen Prozessen viel mehr therapeutisches Potential vorhanden war, als damals genutzt wurde, und versuchten, dieses zu entwickeln. Die zweite Schwierigkeit bestand darin, dass im zunehmenden Maße die theoretischen Modelle mit den Erfahrungen, die wir machten, nicht mehr übereinstimmten. Viele Worte passten nicht und wir suchten neue Begriffe. Viele Erklärungszusammenhänge und handlungsleitende theoretische Modelle erwiesen sich bezogen auf unsere Erfahrungen als unzureichend. Dies umso mehr, als unsere Aktivitäten sich damals verstärkt auf das Feld der Psychotherapie erweiterten und nun auch Angebote im klinischen Kontext stattfanden.

So fand dieser Entwicklungsprozess um das Jahr 2000 herum seinen Ausdruck darin, dass wir unseren Ansatz als „Kreative Leibtherapie” bezeichneten. Die Bezeichnung „kreative Gestalttherapie” passte nicht mehr, wir hatten uns aus der Gestalttherapie heraus entwickelt. Parallel dazu hatte sich das theoretische Konzept des Fritz-Perls-Instituts zur Integrativen Therapie entwickelt und das FPI sich in seinem Selbstverständnis aus der humanistischen Psychologie verabschiedet – ein Weg, den meine Frau, ich und unsere engsten Kolleg/innen nicht mitgehen wollten. Wir publizierten Praxisberichte und theoretische Beiträge auch unserer Kolleg/innen und Fortbildungsteilnehmer/innen 15 Jahre lang in unserer Zeitschrift (erst „Sozialtherapie”, später „therapie kreativ”) und gaben Sammelbände wichtiger Artikel heraus. 1999 erschien schließlich mein erstes Fachbuch („Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder ...”), das nicht nur ein Sammelband war, sondern unseren damaligen theoretischen Stand beschrieb und vor allem die von mir entwickelten kunst- und gestaltungstherapeutischen Methoden vorstellte. In die späteren Auflagen (und die folgenden Fachbücher) flossen die nach der Erstausgabe entwickelten leibtherapeutischen Modelle ein.

Ich war vorher schon intensiv auf der Suche nach einer für uns und in sich stimmigen Theorie gewesen und fand 2000 mit dem damals erschienen Buch „Leib-Raum-Person” von Thomas Fuchs einen uns überzeugenden philosophischen Boden. Hier und im Gefolge dessen in zahlreichen anderen Werken der Leibphänomenologie, die wir teilweise über die Auseinandersetzung mit dem Leibbegriff Hilarion Petzolds kannten, aber jetzt noch einmal in dem neuen Kontext studieren konnten, fanden meine Frau und ich Ansätze und Begrifflichkeiten, um unsere praktischen Erfahrungen in Worte zu fassen. Diese leidenschaftliche Auseinandersetzung war ein Ringen um Worte, die den inneren Zusammenhang dessen, was wir praktisch-therapeutisch taten, ausdrückten. Wir merkten, dass mit jeder „gelingenden” Begrifflichkeit auch unsere Praxis besser wurde und wir uns Klient/innen wie auch Teilnehmer/innen unserer Fortbildungen verständlicher machen konnten. Parallel beschäftigte ich mich mit der modernen Neurobiologie, der Säuglingsforschung und der sonstigen Entwicklungspsychologie und arbeitete die Erkenntnisse heraus, die für die therapeutische Praxis und Theoriebildung relevant und nützlich waren und sind. Gleichzeitig setzten meine Frau und ich unsere eigenen Untersuchungen zu den Erlebensprozessen künstlerischer Aktivitäten fort, um das Potenzial zu benennen und therapeutisch zu nutzen, das künstlerischen Prozessen innewohnt. All dies fand seinen Niederschlag in den nach 2001 erschienenen Lehr- und Studienbüchern, wobei sich unser Ansatz der „Kreativen Leibtherapie” immer mehr herausschälte.

 

Im Jahr 2011 entstanden der Wunsch und die Aufforderung, die Modelle und theoretischen Grundlagen der Kreativen Leibtherapie zusammenzufassen und als Lehrbuch zu veröffentlichen, das nun, 2012, erscheint.

Zu Inhalt, Struktur und Gestaltung dieses Lehrbuches ist einiges voranzuschicken:

 Da es sich um ein Lehrbuch handelt, das vor allem die theoretischen Grundlagen und Essenzen Kreativer Leibtherapie zur Verfügung stellen soll, sind viele Inhalte knapp dargestellt. Es gibt weniger Praxisbeispiele und methodische Darstellungen als in den bisherigen Veröffentlichungen. Diesbezüglich möchte ich auf unsere anderen Publikationen verweisen.

 Ich beginne im Aufbau des Buches mit dem Herzstück, meinem Leibverständnis und dessen Konsequenzen für die Therapie. Üblicherweise entwickeln sich Lehrbücher über Darlegungen zur Wissenschaftstheorie von der Vorgeschichte zu den therapeutischen Quellen allmählich hin zu den Kerninhalten. Wer diesen Weg der Annäherung vorzieht, möge bitte die Lektüre mit Kapitel 7 und 8 beginnen. Ich schlage vor, sich gleich in das Zentrum des Denkens und Geschehens zu begeben, und habe deswegen die Gliederung gewählt, mit dem Kapitel über „Leiblichkeit – Menschenbild und Therapie” zu beginnen, das die weitreichendste Relevanz für die Entwicklung der Kreativen Leibtherapie hat. Beide Wege sind möglich.

 Therapie dient der Veränderung von Mustern, unter denen Menschen leiden. Im Kapitel 3 finden Sie unser Verständnis von Musterbildung und Musterveränderung und dabei auch unsere leiborientierten Entwicklungsmodelle, die der Theorie und Praxis Kreativer Leibtherapie zugrunde liegen.

 Üblicherweise gibt es in therapeutischen Lehrbüchern getrennte Kapitel über die theoretischen Modelle des Menschen, dann über die Diagnostik, dann über die Therapie. Eine Besonderheit Kreativer Leibtherapie besteht darin, dass in unseren therapeutischen Modellen diese verschiedenen Aspekte miteinander verknüpft sind: Sie sind gleichzeitig Landkarten für Erlebensprozesse, diagnostische Zugänge und therapeutische Pfade. Ich habe deswegen das Bild eines Hauses gewählt, das aus zehn Räumen besteht. In jedem dieser Räume ist ein zentrales Modell der Kreativen Leibtherapie enthalten, und Sie können sich den Räumen dieses Hauses über verschiedene Türen und damit Zugängen nähern, über den theoretischen, den diagnostischen und den therapeutischen. Deswegen folgt auf die Beschäftigung mit der Leiblichkeit und damit den Verbindungen von Menschenbild und Therapie das Kapitel der „Komplexen Theorie-Module: The Big Ten”, das die zehn wesentlichen Modelle der Kreativen Leibtherapie darstellt und dabei gleichzeitig deren theoretischen Hintergrund, den diagnostischen Nutzen und die Bedeutung in der Therapie erläutert.

 In Kapitel 5 gehe ich auf einige häufige Pathologien von der Depression bis zu den Traumafolgen ein und beschreibe ein leibphänomenologisches Verständnis und daraus abgeleitete spezifische Wege therapeutischer Begleitung. Diese beziehen jeweils mehrere der Big-Ten-Modelle ein.

 Ich werde mich dann in Kapitel 6 mit Wegen der therapeutischen Veränderung und Elementen des therapeutischen Prozesses beschäftigen, um dabei spezifische, kreative leibtherapeutische Erfahrungen, Vorstellungen und Konzepte darzustellen. Dies ist notwendigerweise unvollständig, weil es sonst den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Ich habe diejenigen Themen ausgewählt, die wesentlich und charakteristisch für die Kreative Leibtherapie sind.

 Zum Schluss, nach dem Kapitel über Quellen Kreativer Leibtherapie, werde ich in Kapitel 8 zusammenfassend darstellen, dass und warum Kreative Leibtherapie ein Verfahren tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie ist. Im Ausblick (Kapitel 9) werde ich mich mit den uns zentralen Themen „Würde und Würdigung” auseinandersetzen.

Was fehlt in diesem Buch zugunsten einer Konzentration auf das theoretisch Wesentliche? Es fehlen Darlegungen der leiborientierten Tanztherapie, Musiktherapie und Kunsttherapie, also der Kreativen Leibtherapie mit unterschiedlichen medialen Schwerpunkten. Dazu sind jeweils leiborientierte Fachbücher erschienen: „Klingen, um in sich zu wohnen” (Musiktherapie), „Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder” (Kunsttherapie), „Leibbewegungen, Herzkreise und der Tanz der Würde” (Tanztherapie). Fachbücher zur Poesie- und Theatertherapie sowie zur leiborientierten kreativen Supervision werden folgen. Es fehlt ferner eine zusammenfassende Darstellung der Psychopathologie. Veröffentlichungen über spezifische Pathologien und spezifische Therapien für Themen- und Klient/innengruppen sind zum Teil vorhanden (Demenz: „Innenwelten der Demenz”, Kriegstraumata: „Wo geht’s denn hier nach Königsberg?”, Kinder suchtkranker Eltern: „Hören, was niemand sieht”, ADS/ADHS: „Jetzt reden wir” , Essstörungen: „Das große Verschwinden und die Ge-Wichtigkeit”, Traumatherapie: „Aufrichten in Würde” und transgenerative Traumaweitergabe: „Wie Traumata in die nächste Generation wirken” − die Autor/innen entnehmen Sie bitte der Literaturliste). Weitere werden folgen. Mehrere Forschungsprojekte und Studien sind gegenwärtig in Arbeit.

Ebenfalls fehlt noch eine zusammenfassende Darstellung der leiborientierten kreativen Therapie mit Kindern und Jugendlichen in Theorie und Praxis. Sie ist uns ein besonderes Anliegen und deshalb in Vorbereitung.

Weder vorstellen noch erarbeiten werde ich ein besonderes Indikationssystem für Kreative Leibtherapie oder für besondere Teilverfahren (z. B. als Manuale) für bestimmten Patient/innen-Gruppen. Der phänomenologische Weg besteht immer darin, die Besonderheiten konkreter Probleme zu studieren, ihren Spuren im Erleben der Menschen zu folgen und adäquate Modelle und Methoden zu entwickeln. Diese müssen immer auf die einzelnen Klient/innen angewandt werden. Welche Methode bei welchen Menschen eingesetzt werden sollte, hängt immer von einer Vielzahl von Faktoren ab, wie z. B. der konkreten Lebenssituation und Erlebensbefindlichkeit einer Klientin oder eines Klienten oder – sehr wichtig – der Qualität der therapeutischen Beziehung. Deswegen können wir durchaus Hinweise geben, für welche Menschen welche Teilbereiche Kreativer Leibtherapie in besonderer Weise geeignet zu sein scheinen, werden aber keine festen Zuordnungen im Sinne von Indikationen vorgeben. Stattdessen folgen wir einem Konzept der prozessualen Diagnostik, für das ich in diesem Buch eine Vielzahl diagnostischer Zugänge zur Verfügung stelle. Schon jede Beschreibung einer Qualität der Leiblichkeit (s. Kap. 2.2) gibt Hinweise auf deren Einschränkungen, Fehlen, Störungen und sonstige Beeinträchtigungen bei Klient/innen. Diagnostik heißt im Kern „Einsicht”. Diagnostische Zugänge im Sinne der Kreativen Leibtherapie verhelfen zu Einsichten, lineare Indikationssysteme wie „dieses Symptom = diese Störung mit dieser Ursache” verengen und versperren dagegen den Blick. Doch dazu später mehr.

In der Praxis der Kreativen Leibtherapie nennen wir Therapeut/innen die Menschen, die wir begleiten, manchmal Klient/innen, manchmal Patient/innen, je nach klinischem oder psychosozialem Kontext. Der Einfachheit halber verwende ich hier durchgehend die Bezeichnung Klient/innen. Bitte denken Sie die andere Bezeichnung, die Sie bevorzugen, jeweils mit.

Ein Wort zum Schluss des Anfangs: Die Tatsache, dass ich mich hier an einer zusammenfassende Darstellung des gegenwärtigen Entwicklungsstandes Kreativer Leibtherapie versuche, ist kein Schritt zur Kanonisierung, zu einer Festschreibung ihrer Inhalte und Methoden. Kreative Leibtherapie, die diesen Namen verdient, atmet den Geist phänomenologischer Forschung, ist aus ihr entstanden und wird durch sie weiterentwickelt. Kreative Leibtherapie ist ein offenes System, offen in zweierlei Hinsicht: offen für neue Erfahrungen und Modelle sowie offen für Anregungen und Inspiration durch andere Methoden, Modelle und Verfahren, die das Erleben der Menschen würdigen, die Aufrichtung des Menschen, seine Würde achten und fördern und gegen Würdelosigkeit und Erniedrigung in menschlichen Begegnungen theoretisch und praktisch Stellung beziehen. Was wir in einer früheren Veröffentlichung schon formuliert haben, gilt auch hier: Unsere Abgrenzung gilt nicht anderen Verfahren, sondern Verletzungen der Würde.