Wie Kinder aufblühen

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Daniel J. Siegel & Tina Payne Bryson

Wie Kinder aufblühen

Daniel J. Siegel & Tina Payne Bryson

Wie Kinder aufblühen


Unterstützen Sie Ihr Kind darin, resilienter, eigenständiger und kreativer zu werden

Aus dem amerikanischen Englisch von Richard Reschika


© 2018 der deutschen Ausgabe: Arbor-Verlag GmbH, Freiburg

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

The Yes-Brain. How to Cultivate Courage, Curiosity, and Resilience in Your Child

Copyright © 2018 by Mind Your Brain, Inc., and Tina Payne Bryson, Inc.

This translation is published by arrangement with Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Illustrationen von Tuesday Mourning

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2019

Lektorat: Lienhard Valentin

Hergestellt von mediengenossen.de

Titel: Illustration Kind © 2018 AtthameeNi/shutterstock.com

Hintergrund Blätter © 2018 freepik.com

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-268-9

Alle Identifizierungsdetails, einschließlich der Namen, sind geändert worden. Davon ausgenommen sind die Angaben zu den Familienmitgliedern der Autoren. Dieses Buch hat nicht die Absicht, den Rat einer ausgebildeten Fachkraft zu ersetzen.

Für Alex und Maddi, meine größten Lehrer einer vom Ja-Gehirn geprägten Lebenseinstellung

DJS

Für Ben, Luke und JP: Ich erfreue mich an euch und bestaune das Licht, das ihr in die Welt bringt.

TPB

Ich fürchte mich nicht vor Stürmen,

weil ich lerne, wie ich mein Schiff segeln muss.

Louisa May Alcott, Little Women

INHALT

Willkommen

Kapitel 1 Das Ja-Gehirn: Eine Einführung

Kapitel 2 Das ausbalancierte Ja-Gehirn

Kapitel 3 Das resiliente Ja-Gehirn

Kapitel 4 Das einsichtsvolle Ja-Gehirn

Kapitel 5 Das empathische Ja-Gehirn

Fazit Erfolg überdenken – Eine Perspektive des Ja-Gehirns

Danksagungen

Kühlschranknotiz

Über die Autoren

WILLKOMMEN

„Es gibt so vieles, was ich meinen Kindern wünsche: Glück, emotionale Kraft, schulischen Erfolg, soziale Kompetenzen, ein starkes Selbstwertgefühl und noch mehr. Man weiß nicht, wo man überhaupt anfangen soll. Welche Eigenschaften sind die wichtigsten, auf die man sich fokussieren sollte, um ihnen zu helfen, ein glückliches, sinnvolles Leben zu führen?“

Wo wir auch hingehen, überall bekommen wir eine Version dieser Frage zu hören. Eltern möchten ihren Kindern helfen, zu Menschen zu werden, die sich gut benehmen und gute Entscheidungen treffen, selbst dann, wenn das Leben sie vor Herausforderungen stellt. Sie möchten, dass sie sich um andere kümmern, aber auch wissen, wie sie sich selbst behaupten. Sie möchten, dass sie unabhängig sind und zugleich gegenseitig bereichernde Beziehungen genießen. Sie möchten, dass sie nicht zusammenbrechen, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sich dies vorstellen.

Puh! Das ist eine ziemlich lange Liste, und sie kann uns als Eltern (oder als Fachleute, die mit Kindern arbeiten) stark unter Druck setzen. Auf was sollten wir also unsere Aufmerksamkeit richten?

Das Buch, das Sie in Händen halten, ist unser Versuch, Ihnen eine Antwort auf diese Frage anzubieten. Die zentrale Idee ist, dass Eltern Kinder dabei unterstützen können, ein Ja-Gehirn zu entwickeln, das vier Schlüsselmerkmale hervorbringt:

Balance: die Fähigkeit, Emotionen und Verhalten zu steuern, sodass es weniger wahrscheinlich ist, dass Kinder ausrasten und die Kontrolle verlieren.

Resilienz: die Fähigkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, wenn sich die unvermeidlichen Herausforderungen und Kämpfe des Lebens einstellen.

Einsicht: die Fähigkeit, in sich hineinzuschauen und sich zu verstehen, sodann die Anwendung dessen, was sie lernen, um gute Entscheidungen zu treffen und ihr Leben im Einklang mit sich selbst zu leben.

Empathie: die Fähigkeit, die Sichtweise eines anderen zu verstehen, sodann sich hinreichend zu kümmern und aktiv zu werden, damit sich die Dinge gegebenenfalls verbessern.

Auf den folgenden Seiten geben wir Ihnen eine Einführung zum Ja-Gehirn und besprechen praktische Wege, wie Sie diese Qualitäten bei Ihren Kindern nähren und ihnen dann diese wichtigen Lebensfertigkeiten vermitteln können. Sie können Ihren Kindern tatsächlich helfen, emotional ausgeglichener, angesichts von Herausforderungen resilienter, in ihrem Selbstverständnis einsichtsvoller sowie empathischer und fürsorglicher in Bezug auf andere zu werden.

Es könnte nichts Aufregenderes für uns geben, als diesen von der Wissenschaft inspirierten Zugang mit Ihnen zu teilen. Begleiten Sie uns und genießen Sie die Lernreise über das Ja-Gehirn.

Dan und Tina

KAPITEL 1

Das Ja-Gehirn:

Eine Einführung

Dieses Buch handelt davon, Kindern dabei zu helfen, Ja zur Welt zu sagen. Es handelt davon, sie zu ermutigen, ihren Geist für neue Herausforderungen, neue Gelegenheiten und dafür zu öffnen, wer sie bereits sind – und dafür, wer sie noch werden können. Es handelt davon, sie dabei zu unterstützen, ein Ja-Gehirn entwickeln zu können.

Vielleicht haben Sie Dan einmal sprechen gehört und an einer Übung teilgenommen, bei der er seine Zuhörerschaft darum bittet, die Augen zu schließen und auf die körperlichen und emotionalen Reaktionen zu achten, wenn er ein bestimmtes Wort wiederholt. Er wiederholt es sieben Mal, danach wechselt er zum „Ja“, das er viel sanfter ausspricht, immer wieder. Dann bittet er die Zuhörerinnen und Zuhörer, Ihre Augen zu öffnen und zu beschreiben, was sie erlebt haben. Sie berichten davon, dass der „Nein“-Anteil der Übung sie dazu führte, sich verschlossen, durcheinander, angespannt und in der Defensive zu fühlen, während sie sich, als Dan das „Ja“ wiederholte, offen, ruhig, entspannt und leichter fühlten. Ihre Gesichtsmuskeln und ihre Stimmbänder entspannten sich, ihr Atemrhythmus und ihr Herzschlag normalisierten sich und sie wurden offener statt eingeengt, unsicher oder konfrontativ. (Zögern Sie nicht, Ihre Augen jetzt zu schließen und die Übung selbst auszuprobieren. Vielleicht ziehen Sie die Hilfe eines Verwandten oder Freundes heran. Achten Sie darauf, was in Ihrem Körper vor sich geht, wenn Sie wiederholt das Wort „Nein“ hören – und dann das Wort „Ja“.)

Diese beiden unterschiedlichen Worte – das „Ja“- und das „Nein“ – vermitteln Ihnen eine Vorstellung davon, was wir meinen, wenn wir von einem Ja-Gehirn sprechen, genauso wie von seinem Gegenteil, einem negativen Gehirn. Wenn Sie das ausweiten und darüber im Sinne einer Grundeinstellung dem Leben gegenüber nachdenken, führt ein negatives Gehirn Sie dazu, sich reaktiv zu fühlen, wenn Sie mit Menschen interagieren, was es nahezu unmöglich macht, zuzuhören, gute Entscheidungen zu treffen oder sich mit einer anderen Person zu verbinden und sich um sie zu kümmern. Ein Fokus auf das Überleben und die Selbstverteidigung lässt Sie in die Defensive geraten, führt dazu, dass Sie sich zurückhaltend und verschlossen fühlen, wenn es zu einer Interaktion mit der Welt und dem Erlernen neuer Fertigkeiten kommt. Ihr Nervensystem leitet seine reaktive Kampf-Flucht-Erstarrungs-oder-Ohnmachtsreaktion ein: Kampf bedeutet, um sich zu schlagen, Flucht bedeutet, zu entkommen, Erstarrung bedeutet, sich selbst zeitweise außer Gefecht zu setzen, und Ohnmacht bedeutet, zu kollabieren und sich vollkommen hilflos zu fühlen. All diese vier reaktiven Antworten auf eine Bedrohung können ausgelöst werden und Sie davon abhalten, offen zu sein, sich mit anderen zu verbinden und flexible Antworten anzubieten. Das ist der reaktive Zustand des negativen Gehirns.

Das Ja-Gehirn hingegen aktiviert andere Schaltkreise im Gehirn, die eher zu Rezeptivität [= Empfänglichkeit, A.d.Ü.] als zu Reaktivität führen. Wissenschaftler verwenden den Begriff „System sozialen Engagements“ [engl. „social engagement system“, A.d.Ü.], wenn sie sich auf die neuronalen Schaltkreise beziehen, die uns dabei helfen, uns aufrichtig mit anderen zu verbinden – und sogar mit unserer eigenen inneren Erfahrung. Als Folge der Rezeptivität und eines aktiven Systems sozialen Engagements sind wir weitaus besser dazu in der Lage, Herausforderungen auf eine starke, klare und flexible Art und Weise anzugehen. In diesem Gehirnmodus befinden wir uns in einem Zustand des inneren Gleichgewichts und der Harmonie, der es uns erlaubt, neue Informationen aufzunehmen, zu integrieren und von ihnen zu lernen.

Genau diese Einstellung eines Ja-Gehirns wünschen wir uns für unsere Kinder, sodass sie Hürden und neue Erfahrungen nicht als lähmende Hindernisse zu sehen lernen, sondern einfach als Herausforderungen, denen man sich stellen kann, die es zu überwinden und von denen es zu lernen gilt. Wenn Kinder aus der Mentalität eines Ja-Gehirns heraus agieren, sind sie flexibler, offener für Kompromisse und eher dazu bereit, etwas zu riskieren und zu erforschen. Sie sind neugieriger, fantasievoller und weniger darum besorgt, Fehler zu machen. Sie sind desgleichen weniger starr und stur, was sie beziehungsfähiger werden lässt, und anpassungsfähiger sowie resilienter, wenn es gilt, mit Missgeschicken umzugehen. Sie kennen sich selbst und handeln nach einem klaren inneren Kompass, der ihre Entscheidungen bestimmt, genauso wie ihre Art und Weise, andere zu behandeln. Von ihrem Ja-Gehirn geleitet, tun sie mehr, lernen sie mehr und verwirklichen sie mehr. Von einem Standpunkt emotionaler Ausgeglichenheit sagen sie „Ja“ zur Welt, heißen alles willkommen, was das Leben bietet – selbst wenn die Umstände ihnen nicht gefallen.

 

Unsere Eingangsbotschaft an Sie ist eine spannende: Sie verfügen über die Möglichkeit, dass Ihre Kinder diese Art von Flexibilität, Rezeptivität und Resilienz entwickeln können. Dies ist es, was wir mit geistiger Kraft meinen – Ihren Kindern einen starken Geist zu ermöglichen. Und zwar nicht, indem Sie sie dazu veranlassen, eine Vortragsreihe über Durchhaltevermögen und Neugier zu besuchen, oder indem Sie viele lange, intensive Gespräche unter vier Augen mit ihnen führen. Tatsächlich sind Ihre alltäglichen Interaktionen mit Ihren Kindern alles, was Sie brauchen. Indem Sie einfach die Prinzipien des Ja-Gehirns und die Strategien beachten, die wir Ihnen auf den folgenden Seiten zeigen, können Sie die Zeit, die Sie mit Ihren Kindern verbringen – auf der Fahrt zur Schule, beim Essen, Spielen oder sogar bei Konflikten –, dazu nutzen, um ihre Art und Weise zu beeinflussen, wie sie auf ihre Umgebung reagieren und mit den Menschen in ihrem Umkreis interagieren.


Das liegt daran, dass ein Ja-Gehirn mehr ist als eine bloße Denkweise oder eine Weltsicht. Das ist es mit Bestimmtheit. Und als solches gibt es Ihrem Kind eine innere Richtschnur an die Hand, die ihm oder ihr dabei hilft, den Herausforderungen des Lebens mit Sicherheit und Begeisterung zu begegnen. Es ist die Basis dafür, von innen heraus stark zu sein. Aber ein Ja-Gehirn ist zugleich ein neurologischer Zustand, der sich einstellt, wenn das Gehirn auf bestimmte Art und Weise aktiv ist. Indem Sie ein paar grundlegende Details über die Entwicklung des Gehirns verstehen, können Sie eine Umgebung schaffen, die Gelegenheiten bietet, die ein Ja-Gehirn bei Ihren Kindern unterstützen werden.

Wie wir weiter unten noch ausführen werden, wird ein Ja-Gehirn durch neuronale Aktivität gebildet, die eine besondere Region des Gehirns umfasst, die als präfrontaler Cortex bezeichnet wird, ein Bereich, der viele Regionen miteinander verbindet, für abstraktes Denken zuständig ist und Neugier, Resilienz, Mitgefühl, Einsicht, Aufgeschlossenheit, Problemlösen und sogar das moralische Verhalten begünstigt. Die Kinder können lernen, die Funktionen dieses Teils des Gehirns in zunehmendem Maße abzurufen und ihnen ihre Aufmerksamkeit zu schenken, während sie heranwachsen und sich entwickeln. Mit anderen Worten: Sie können Ihren Kindern vermitteln, wie sie diesen wichtigen neuronalen Bereich aufbauen können, der verschiedene positive Geisteszustände ermöglicht. Auf diese Weise können sie ihre Emotionen und ihren Körper besser regulieren, während sie zugleich besser wahrnehmen, was sie begeistert und antreibt und wie sie mehr im Einklang mit sich selbst sein können. Darum geht es, wenn wir über das Ja-Gehirn sprechen: ein neurologischer Zustand, der Kindern (und Erwachsenen) hilft, sich der Welt mit Offenheit, Resilienz, Empathie und Authentizität zu nähern.

Ein negatives Gehirn indes entsteht weniger aus dem sich vernetzenden präfrontalen Cortex als vielmehr aus einem weniger integrierten Teil des Gehirns, der die Aktivität niederer, primitiverer Hirnregionen umfasst. In diesem negativen Gehirnzustand reagieren wir auf eine Bedrohung oder bereiten uns auf einen bevorstehenden Angriff vor. Daher ist es äußerst reaktiv, defensiv eingestellt und darüber beunruhigt, dass es einen Fehler machen oder Neugier zu irgendeinem Problem führen könnte. Und dieser Zustand kann auch auf Konfrontationskurs gehen, indem er neues Wissen zurückdrängt und Input von anderen abwehrt. Angreifen und Abweisen sind zwei Arten, wie das negative Gehirn mit der Welt interagiert. Die Perspektive des negativen Gehirns auf die Welt ist von Starrsinn, Angst, Wettkampf und Bedrohung geprägt, was es weitaus weniger dazu befähigt, mit schwierigen Situationen umzugehen oder ein klares Verständnis seiner selbst oder der anderen zu erlangen.

Kinder, die sich der Welt in einem negativen Gehirnzustand nähern, sind ihren Lebensumständen und Gefühlen schutzlos ausgeliefert. Sie bleiben in ihren Emotionen stecken und sind nicht in der Lage, sie zu regulieren, sie beklagen sich über ihre Lebensverhältnisse, anstatt gesunde Wege zu finden, um etwas zu verändern. Sie machen sich Sorgen darüber, oftmals in einer obsessiven Art und Weise, etwas Neuem zu begegnen oder einen Fehler zu begehen, anstatt Entscheidungen im offenen und neugierigen Geist eines Ja-Gehirns zu treffen. Starrsinn regiert häufig den Tag im Zustand eines negativen Gehirns.

Erinnert Sie irgendetwas davon an Ihre Situation zu Hause? Wenn Sie Kinder haben, wird es dies wahrscheinlich tun. Die Wahrheit ist, dass wir alle in negative Gehirnzustände geraten – Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Von Zeit zu Zeit rigide und/oder reaktiv zu werden, ist etwas, das wir nicht gänzlich vermeiden können. Doch wir können es verstehen. Und dann können wir Wege ausfindig machen, um unseren Kindern zu helfen, rascher zu einem offenen Gehirnzustand zurückzukehren, wenn sie diesen verlassen haben. Und noch wichtiger: Wir können ihnen die Werkzeuge dazu an die Hand geben, es selbst zu tun. Kleine Kinder werden weitaus häufiger aus einem negativen Gehirnzustand heraus agieren als größere Kinder und Erwachsene. Ein scheinbar allgegenwärtiges negatives Gehirn ist typisch und entwicklungsgemäß für eine Dreijährige – beispielsweise wenn sie voller Wut weint, weil ihre Mundharmonika nass geworden ist, sogar dann, wenn sie selbst es war, die sie in das mit Wasser gefüllte Waschbecken geworfen hat! Aber mit der Zeit und im Laufe der Entwicklung können wir unsere Kinder dabei unterstützen, die Fähigkeit zu entwickeln, sich selbst zu regulieren, sich von Schwierigkeiten nicht unterkriegen zu lassen, ihre eigenen Erfahrungen zu verstehen und auf andere zu achten. Dann wird aus dem Nein mehr und mehr ein Ja.


Denken Sie jetzt einmal darüber nach, nur einen Augenblick lang. Wie würde sich das Leben bei Ihnen zu Hause verändern, wenn Ihre Kinder besser mit den Alltagssituationen – den Konflikten unter Geschwistern, dem Abstellen elektronischer Geräte, dem Befolgen von Regeln, dem Streit um Hausaufgaben, den Kämpfen ums Schlafengehen – zurechtkämen, und zwar mithilfe eines Ja-Gehirns, statt mit einem negativen Gehirn darauf zu reagieren? Was wäre anders, wenn sie weniger starr und stur wären und sich besser regulieren könnten, wenn die Dinge nicht nach ihrem Wunsch verlaufen? Was wäre, wenn sie neue Erfahrungen willkommen heißen würden, anstatt sie zu fürchten? Was wäre, wenn sie sich ihrer eigenen Gefühle bewusster wären und sich anderen gegenüber fürsorglicher und empathischer verhalten würden? Wie viel glücklicher wären sie? Wie viel glücklicher und friedlicher wäre die ganze Familie?

Wie würde sich das Leben bei Ihnen zu Hause verändern, wenn Ihre Kinder besser mit den Alltagssituationen zurechtkämen, und zwar mithilfe eines Ja-Gehirns, statt mit einem negativen Gehirn darauf zu reagieren?

Davon handelt dieses Buch: Ihren Kindern dabei zu helfen, ein Ja-Gehirn zu entwickeln, indem Sie ihnen den Raum, die Gelegenheit und die Mittel an die Hand geben, um zu Menschen heranzuwachsen, die sich mit ihrer Welt offen auseinandersetzen und ganz und authentisch sie selbst werden. Auf diese Art und Weise helfen wir Kindern, mentale Stärke und Resilienz zu entwickeln.

Ein Ja-Gehirn zu ermöglichen, heißt nicht, alles zu erlauben

Lassen Sie uns von Anfang an klarstellen, was ein Ja-Gehirn nicht ist. Beim Ja-Gehirn geht es nicht darum, immer ja zu sagen. Es geht nicht darum, ihnen alles zu erlauben oder immer klein beizugeben, sie vor Enttäuschungen zu schützen oder sie vor schwierigen Situationen zu bewahren. Noch geht es darum, ein folgsames Kind heranzuziehen, das sich roboterhaft seinen Eltern fügt, ohne an sich selbst zu denken. Vielmehr geht es darum, Kindern dabei zu helfen, dass sie wahrnehmen können, wer sie sind und wer sie künftig werden können, dass sie Enttäuschungen und Niederlagen überwinden können und sich für ein Leben voller Verbundenheit und Bedeutung entscheiden. Insbesondere in den Kapiteln zwei und drei werden wir erörtern, wie wichtig es ist, Kindern die Möglichkeit zu geben zu verstehen, dass Frustrationen und Rückschläge ein inhärenter Teil des Lebens sind – und sie zu unterstützen, während sie diese Lektion lernen.

Schließlich ist die Folge eines Ja-Gehirns keine Person, die ständig glücklich ist oder niemals irgendwelche Probleme oder negativen Gefühle hat. Das ist überhaupt nicht der Punkt. Es ist weder das Ziel des Lebens noch ist es möglich.

Beim Ja-Gehirn geht es nicht darum, den Kindern gegenüber stets ja zu sagen. Es geht nicht darum, ihnen alles zu erlauben oder klein beizugeben, sie vor Enttäuschungen zu schützen oder sie vor schwierigen Situationen zu bewahren. Vielmehr geht es darum, Kindern dabei zu helfen, dass sie wahrnehmen können, wer sie sind und wer sie künftig werden können, dass sie Enttäuschungen und Niederlagen überwinden können und sich für ein Leben voller Verbundenheit und Bedeutung entscheiden.

Das Ja-Gehirn führt zu keinerlei Art von Perfektion oder Paradies, sondern zu der Fähigkeit, Freude und Sinn selbst inmitten der Herausforderungen des Lebens zu finden. Es erlaubt einer Person, sich geerdet zu fühlen und sich selbst zu verstehen, durch Lernen und Offenheit flexibel zu sein und mit einem inneren Kompass zu leben. Es führt sie nicht nur dazu, schwierige Situationen zu überstehen, sondern stärker und weiser aus ihnen hervorzugehen. Auf diese Weise können sie ihrem Leben Bedeutung verleihen. Aus der Position ihres Ja-Gehirns können sie auch mit ihrem Innenleben, mit anderen und mit der Welt in Kontakt treten. Das ist es, was wir mit einem Leben voller Verbundenheit und mit dem Wissen um uns selbst meinen.

Wenn wir Kinder zudem dabei unterstützen, die Fähigkeit des inneren Gleichgewichts zu entwickeln – die Fähigkeit, zu einem offenen Gehirnzustand zurückzukehren, nachdem sie in einem negativen Gehirnmodus waren –, haben wir ihnen eine wichtige Komponente der Resilienz vermittelt. Die alten Griechen hatten einen Begriff für diese Art von Glück, das Sinn, Verbundenheit und Zufriedenheit vereint. Sie nannten es eudaimonia, und es ist eines der größten und nachhaltigsten Geschenke, die wir unseren Kindern machen können. Es hilft, jene Art von erfolgreichem Leben zu kreieren, auf das wir unsere Kinder vorbereiten können, wenn wir ihnen erlauben, zu ihrer eigenen individuellen Identität heranzureifen, indem wir sie unterstützen und ihre Fertigkeiten auf dem Weg dahin ausbilden helfen. Und natürlich indem wir an unserem eigenen Ja-Gehirn arbeiten.

Seien wir ehrlich: Kinder wachsen in vielerlei Hinsicht in einer Welt des negativen Gehirns auf. Denken Sie an einen herkömmlichen Schultag voller Regeln und Vorschriften, standardisierter Tests, Auswendiglernen und einheitlichen Lehrmethoden. Puh! Und sie müssen sechs Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, neun Monate im Jahr damit fertig werden? Du lieber Himmel! Doch damit nicht genug, bedenken Sie die übervollen Stundenpläne, die viele von uns ihnen auferlegen, voller „bereichernder“ Aktivitäten in Form zusätzlicher Kurse, Nachhilfeunterricht und anderer Aktivitäten, die sie lange aufbleiben lassen und um den Schlaf bringen, weil sie ihre Hausaufgaben machen müssen, die sie tagsüber nicht erledigen konnten, da sie so beschäftigt damit waren, „bereichert“ zu werden. Wenn wir darüber hinaus in Betracht ziehen, wie verlockend die digitalen Medien geworden sind – die mit auditiven und visuellen Reizen die Aufmerksamkeit unserer Kinder rund um die Uhr fesseln, indem sie ihnen ein kurzzeitiges Vergnügen bereiten, das die Griechen hedonia nannten –, so können wir erkennen, dass die Kultivierung eines Ja-Gehirns insbesondere in diesen modernen Zeiten wichtig ist, um unsere Kinder mit wahrem und dauerhaftem Glück zu stärken, mit der eudaimonia von Bedeutung, Verbundenheit und innerem Gleichgewicht.

 

Angesichts der vielen Stunden, die ein Kind im Wachzustand mit Aktivitäten des negativen Gehirns verbringt, wird es umso wichtiger, dass wir bestrebt sind, ihnen Interaktionen des Ja-Gehirns anzubieten, wann immer wir dazu in der Lage sind.

Diese digitalen Ablenkungen und vollen Stundenpläne sind oftmals Erfahrungen, die das Ja-Gehirn nicht nur nicht befeuern, sondern zeitweise sogar untergraben. Manche davon bieten möglicherweise tatsächlich bereichernde Erfahrungen und manche mögen zwangsläufig schlecht sein (wir sind nicht davon überzeugt, dass bestimmte allgemein akzeptierte Erziehungspraktiken tatsächlich unerlässlich sind, wie es auch die inspirierende Arbeit belegt, die von Pädagogen im ganzen Land und in der Welt geleistet wird, die den Status quo in den Bereichen Hausaufgaben, Stundenpläne und Disziplin infrage stellen). Natürlich müssen Kinder lernen, Programme zu bewältigen, einem Zeitplan zu folgen und Aufgaben zu erfüllen, die ihnen nicht unbedingt Freude oder Spaß bereiten. Sie werden uns diese Idee durch das ganze Buch gutheißen hören. Unser Hauptanliegen besteht hier einfach darin, dass wir – angesichts der vielen Stunden, die ein Kind im Wachzustand mit Aktivitäten des negativen Gehirns verbringt – bestrebt sind, ihnen Interaktionen des Ja-Gehirns anzubieten, wann immer wir dazu in der Lage sind. Wir möchten, dass Ihr Zuhause zu einem Ort wird, an dem eine positive Einstellung beständig betont und gelebt wird. Was aber nicht heißt, dass wir zusätzlichen Druck auf die Eltern ausüben wollen, damit sie perfekt werden oder es vermeiden, sich jemals mit ihren Kindern auseinander zu setzen.

In Wirklichkeit ist die Idee, um die es hier geht, sich ein wenig zu entspannen. Wie Ihre Kinder müssen auch Sie nicht perfekt sein. Seien Sie mitfühlend mit sich selbst. Seien Sie Ihren Kindern gegenüber möglichst emotional präsent, dann lassen Sie der Entwicklung ihren Lauf, indem Sie diese bei Ihrem Kind unterstützen.

Wenn Sie unsere Bücher Achtsame Kommunikation mit Kindern und Disziplin ohne Drama kennen, werden Sie sofort bemerken, dass Das Ja-Gehirn eine Fortsetzung und Erweiterung dessen ist, was wir vorher gesagt haben. Alle drei Bücher beruhen auf der Überzeugung, dass die Gehirne unserer Kinder – und daher ihr Leben gleichermaßen – in erheblichem Maße von ihren Erfahrungen geprägt werden, einschließlich der Art und Weise, in der wir mit ihnen kommunizieren, was wir für sie darstellen und welche Art von Beziehungen wir zu ihnen aufbauen. In Achtsame Kommunikation mit Kindern erläuterten wir die Bedeutung der absichtsvollen Unterstützung von Integration in den Gehirnen und Beziehungen unserer Kinder, sodass sie sowohl ganz sie selbst als auch sinnvollerweise verbunden mit den Menschen in ihrer Umgebung sein können. In Disziplin ohne Drama fokussierten wir uns darauf, den Geist hinter dem Verhalten unserer Kinder zu erkennen und zu verstehen, dass Probleme mit der Disziplin Gelegenheiten sind, zu lernen und Fertigkeiten zu vermitteln.

Hier gehen wir noch einen Schritt weiter und wenden diese Sichtweise auf die Frage an, was für eine Grunderfahrung von Welt Sie sich für Ihre Kinder wünschen. Unser Fokus auf den folgenden Seiten besteht darin, Ihnen neue Wege aufzuzeigen, um über das Ja-Gehirn nachzudenken und es in jedem individuellen Kind entwickeln zu helfen, sodass Sie aus dessen einzigartigem inneren Funken ein Feuer entfachen und es wachsen und sich ausbreiten helfen können. Wir werden Ihnen einige der neuesten, topaktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Gehirnforschung vorstellen und Ihnen dabei helfen, jene Informationen auf Ihre Beziehungen zu Ihrem Kind anzuwenden. Obgleich einiges von dem, was wir Ihnen auf diesen Seiten zeigen, vielleicht zu einer Veränderung Ihrer Denkweise und Ihrer Elternrolle führt, und einiges davon tatsächlich ein wenig Übung erfordert, gibt es eine Menge, was sie sofort, noch heute, anwenden können, um etwas in der Entwicklung Ihres Kindes und in Ihrer gemeinsamen Beziehung zu ändern. Einfach einige Grundlagen des Ja-Gehirns zu verstehen, wird Ihnen dabei helfen, die täglichen Herausforderungen, vor die Sie sich als Eltern gestellt sehen, auf der Stelle zu bewältigen – die Trotzanfälle, die Kämpfe um die Zeit des Fernsehens und Zu-Bett-Gehens, die Angst vor Versagen und vor neuen Erfahrungen, die Ausraster bei den Hausaufgaben, der strenge Perfektionismus, die Sturheit, der Geschwisterkonflikt – und zugleich langfristige Fertigkeiten bei Ihren Kindern zu entwickeln, die sie darin stärken, ein reiches, sinnvolles Leben zu führen.

Im Übrigen, wir werden uns durchgehend an Eltern richten, aber all das, was wir hier sagen, betrifft auch alle, die mit Kindern leben oder arbeiten und die sie lieben. Das gilt für Großeltern, Lehrer, Therapeuten, Trainer und alle anderen, die mit der großen und freudigen Verantwortung beauftragt sind, Kindern dabei zu helfen, in die Fülle ihrer selbst hineinzuwachsen. Wir sind dankbar dafür, dass es so viele Erwachsene gibt, die zusammenarbeiten, um die Kinder in ihrem Leben zu lieben und anzuleiten, und die helfen, sie in die Grundlagen des Ja-Gehirns einzuführen.

Das integrierte, „plastische“ Gehirn

Was wir bisher gesagt haben und was wir im weiteren Verlauf dieses Buches noch erörtern werden, beruht auf der jüngsten Gehirnforschung. Die wissenschaftliche Linse, durch die wir diese Herausforderungen an die Eltern betrachten, ist die Interpersonelle Neurobiologie (IPNB), eine fächerübergreifende, auf Forschungen aus aller Welt zurückgreifende Sichtweise. Dan ist Gründer und Herausgeber der Norton-Reihe über Interpersonelle Neurobiologie, einer umfangreichen Fachbibliothek mit mehr als 50 Titeln mit Zehntausenden von wissenschaftlichen Quellenangaben, sodass es für Sie – falls Sie so wissensdurstig sind wie wir selbst und einen Blick auf die Hardcore-Wissenschaft hinter den Ideen werfen wollen – nichts Besseres gibt als diese Reihe. Aber Sie müssen kein Neurobiologe sein, um einige IPNB-Grundlagen zu verstehen, die Ihrer Beziehung zu Ihrem Kind sofort zugutekommen können.

Der Fokus der Interpersonellen Neurobiologie liegt genau auf dem, was Sie vermuten dürften: Neurobiologie aus der interpersonellen Perspektive. Einfach ausgedrückt, IPNB betrachtet die Art und Weise, in der unser Geist, unser Gehirn und unsere Beziehungen interagieren, um zu formen, wer wir sind. Sie können sich dies als das „Dreieck des Wohlbefindens“ vorstellen. Die IPNB untersucht sowohl Verbindungen im Gehirn einer Person als auch Verbindungen zwischen den Gehirnen verschiedener Individuen, die sich in ihren Beziehungen untereinander ergeben.

Vielleicht ist Integration das Schlüsselkonzept der IPNB, das beschreibt, was geschieht, wenn verschiedene Teile als ein koordiniertes Ganzes zusammenarbeiten. Das Gehirn besteht aus vielen Teilen, jeder davon mit unterschiedlichen Funktionen: die linke und die rechte Gehirnhälfte, die höheren und niederen Teile des Gehirns, die sensorischen Neuronen, die Gedächtniszentren und zahlreiche andere Schaltkreise, verantwortlich für Funktionen wie Sprache, Emotion, motorische Steuerung usw. Diese unterschiedlichen Teile des Gehirns verfügen über eigene Zuständigkeiten, verrichten ihre eigene Arbeit. Und wenn sie als ein Team zusammenarbeiten, als ein koordiniertes Ganzes, wird das Gehirn integriert, sodass es mehr leisten und weitaus effektiver sein kann, als wenn seine Teile nur für sich selbst arbeiten würden. Das ist der Grund dafür, dass wir über die Jahre so viel über das Begleiten von Kindern im Sinne des gesamten Gehirns gesprochen haben: Wir möchten Kindern dabei helfen, ihr eigenes Gehirn zu entwickeln und zu integrieren, sodass unterschiedliche Regionen des Gehirns besser miteinander verbunden werden, und zwar sowohl in struktureller Hinsicht (das heißt der Art und Weise, in der sie sich über Neuronen physisch miteinander verbinden) als auch in funktioneller Hinsicht (das heißt der Art und Weise, in der sie zusammenarbeiten oder funktionieren). Beide, die strukturelle wie die funktionelle Integration, sind entscheidend für das Gesamtwohlbefinden einer Person.


Die aktuelle neurowissenschaftliche Forschung unterstützt die Bedeutung eines integrierten Gehirns. Sie haben vielleicht von dem Human Connectome Project gehört, der von den National Institutes of Health (NIH) unterstützen Studie, die Biologen, Ärzte, Computerwissenschaftler und Physiker für eine groß angelegte Studie des menschlichen Gehirns versammelt hat.* Eine der Schlüsselentdeckungen des Projektes, das mehr als 1200 gesunde menschliche Gehirne untersuchte, ist für das, was wir sagen, besonders relevant. Wenn Sie sich alle positiven Ziele ansehen, die sich eine Person im Leben erhofft – Glück, körperliche und geistige Gesundheit, akademischer und beruflicher Erfolg, Zufriedenheit in Beziehungen usw. –, ist das Anzeichen Nummer eins für diese positiven Resultate ein integriertes Gehirn, was sich in der Art und Weise ausdrückt, wie das Konnektom in sich verbunden ist, das heißt, wie gut die unterschiedlichen Bereiche des Gehirns miteinander verbunden sind.