Atemlos in Hannover

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Atemlos in Hannover
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Ein Mörder tötet aus niedrigen Beweggründen.

Auch wenn ich die Beweggründe für seine Tat

psychologisch nachvollziehen kann, ist er damit

noch lange nicht psychisch krank.

Dr. Mark Seifert, Psychiater und forensischer Gutachter




Der Psychothriller spielt in Hannover.

Personen und Handlung sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Geschehnissen wären rein zufällig.

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits

folgende Bücher des Autors erschienen:

Toter Lehrer, guter Lehrer

Die Tote und der Psychiater

Schöne Frau, tote Frau

Hannover sehen und sterben




Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de

© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH

eISBN 978-3-8271-8414-6




Thorsten Sueße

Atemlos

in Hannover

Psychothriller









Prolog



Schweiß strömte seinen Rücken herunter, schon seit einigen Minuten, unaufhörlich. Er spürte die Angst im ganzen Körper.



Ich muss mich verstecken. Sonst ist alles aus.



Die Substanz, die er absonderte, brannte fürchterlich auf der Haut. Sein schwarzes T-Shirt war völlig durchnässt, klebte am Oberkörper wie eine mit Kleister bestrichene Tapete.



Wir dürfen uns auf keinen Fall begegnen. Ich kann nicht hierbleiben.



Sein Herz vollführte einen lauten Trommelwirbel. Der erbärmliche Zustand, in dem er sich befand, war ihm nur zu gut vertraut. Er durchlebte derartige Situationen nicht zum ersten Mal. Den Park, in dem er sich aufhielt, kannte er in- und auswendig.



Vor sich auf einer Rasenfläche sah er eine Gruppe von Menschen, die sich unterhielten und lachten. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt.



Wenn einer mich dabei beobachtet, wie ich es tue, ist mein Leben vorbei.



Er verkroch sich ins Gebüsch, welches den Park von der Zufahrtsstraße abgrenzte. Von hier aus sah er das Haus, welches unmittelbar an den Park grenzte. Es war weiß gestrichen und hatte vier Stockwerke. Es wirkte freundlich von außen, anders als das fünfstöckige Haus, in dem der Tod lauerte.



Das Stechen an den Armen und Beinen wurde unerträglich. Das Gebüsch war voller Stechfliegen, die ihn gnadenlos zu quälen begannen.



Ich muss in das weiße Haus, ohne dass mich jemand bemerkt. Vielleicht habe ich Glück, und heute passiert nichts Schlimmes.



Er duckte sich und rannte los. Der Eingang des Hauses lag vor ihm.



Ich bin viel zu langsam. Meine Kraft ist am Ende. Ich bewege mich wie in Zeitlupe.



Nach einer Ewigkeit erreichte er den Hauseingang. Keiner der lachenden Typen hatte zu ihm herübergeschaut. Die Erleichterung, das sichere Versteck erreicht zu haben, währte nicht lange. Hier im Erdgeschoss nahm er zunehmend einen beißenden Geruch wahr, der sein Atmen erschwerte. Unter diesen Bedingungen konnte er unmöglich die Treppe benutzen, um nach oben zu gelangen. Er blickte sich um, sah die Tür zum Fahrstuhl.



In welchem Stockwerk bin ich am sichersten? Ganz oben, im vierten Stock.



Plötzlich hörte er eine weibliche Stimme.



Oh nein! Ist sie es?



Die Fahrstuhltür öffnete sich. Er sprang in die Kabine und drückte auf den Knopf für die oberste Etage.



Hat sie mich doch gefunden? Es darf nicht sein!



Der Fahrstuhl war erstaunlich schnell. Mit einem Ruck kam er zum Stehen. Die Tür ging auf, er huschte hinaus, und die Tür schloss sich sofort hinter ihm. Er drehte sich um und sah auf das Schild: 5. Etage.



Das ist unmöglich. Das Haus hat nur vier Etagen. Ich bin im falschen Gebäude. Im bin im Todeshaus!



Er wollte zurück in den Fahrstuhl. Aber der war bereits wieder auf dem Weg nach unten.



Die Treppe!



Im Treppenhaus war dieser fürchterliche Geruch.



Steigt da Gas nach oben?



Der Weg über die Treppe war ihm ebenfalls verstellt. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Hastig rannte er den Flur der fünften Etage entlang. Die Appartements waren verschlossen, aber am Ende des Ganges erkannte er eine geöffnete Tür. Der Geruch verfolgte ihn, Umdrehen war nicht mehr möglich.



Er betrat das Appartement, drückte mit beiden Händen die Tür hinter sich zu.



Zum Glück ist niemand da. Sie darf hier nicht rein.



Er zog sich einen Stuhl heran, mit dessen Lehne er die Türklinke blockieren wollte. Aber die Lehne war zu kurz. Er legte das Ohr an die Appartementtür, vernahm jedoch keinerlei Schritte.



Da hörte er hinter sich ein leises Lachen. Er sprang herum, sein Blick suchte jeden Winkel der Wohnung ab.



Kein Mensch zu sehen. Habe ich mich getäuscht?!



Ein Wechselbad von Erleichterung und Angst erfasste ihn. Der Schrank, die Regale, der Tisch und die Stühle … alles war ihm sofort vertraut. Und das versetzte ihn in Panik.



Wieder dieses Lachen. Diesmal lauter als vorhin. Er ahnte, wer sich in unmittelbarer Nähe aufhielt. Das Lachen kam von draußen. Um jeden Preis musste er verhindern, dass sie ihn erwischte. Trotzdem schaffte er es nicht, das Appartement zu verlassen.



Das Lachen breitete sich in seinem Gehirn aus. Er wollte flüchten, aber es zog ihn an wie eine Motte das todbringende Licht.



Schritt für Schritt näherte er sich dem Balkon. Er erkannte ihre Silhouette. Natürlich gehörte das Lachen ihr. Keine andere Person als sie hatte er an diesem Ort erwartet.



Sie saß auf der Brüstung des Balkons, drehte ihm den Rücken zu und schaute in den Park. Zwischendurch lachte sie wieder.



Hoffentlich schaut keiner zu uns herauf!



Er konnte nicht anders. Von hinten trat er an sie heran. Ahnte sie wirklich nichts? Er stieß seine Hände mit aller Kraft nach vorn. Sie konnte sich nicht halten, stürzte mit einem gellenden Schrei in den Abgrund. Im gleichen Moment ließ er sich auf den Boden fallen, um nicht von einem Zeugen erkannt zu werden. Ein vernichtender Schmerz durchfuhr seinen Körper, und er schrie sich die Seele aus dem Hals.



Der Ort um ihn herum veränderte sich nach und nach. Es war dunkel, mitten in der Nacht. Das konnte nicht mehr der Balkon im Todeshaus sein. Er hörte auf zu schreien, fing an zu japsen.



Wo bin ich? Ich krieg kaum Luft.



Sein Körper zitterte, die Kleidung war durchgeschwitzt, er atmete rasch und tief.



Ist das wirklich passiert?



Die Zimmertür wurde aufgerissen, Licht flutete in den Raum. In diesem Moment wusste er, wo er war. Sein Zimmer im Haus seiner Eltern.



„Alles gut, ich bin bei dir“, sagte eine tiefe Stimme. Sein Vater stand im Türrahmen. Mit schnellen Schritten trat er an das Bett seines Sohnes.



„Hattest du wieder diesen Albtraum?!“, hörte er seinen Vater sagen, der sich zu ihm auf die Bettkante setzte und seine Hand ergriff. Vaters Worte waren keine Frage, sondern eine Feststellung. Es war immer sein Vater, der zu ihm kam, wenn er diesen Traum hatte und im Schlaf zu schreien begann. Mutter hielt sich zurück, als bemerke sie nichts.



„Hast du wieder diese schreckliche Szene gesehen?“, fragte sein Vater als Nächstes.



„Ja.“



„Ich kann verstehen, dass dich das alles belastet.“ Vater versuchte beruhigend zu klingen. „Du hast schlimme Dinge gesehen. Die Gespräche mit dem Psychologen werden dir helfen, dass dich das Ganze nicht mehr so belastet. Du hast doch keine Schuld. Wichtig ist, dass du etwas Geduld hast.“



„Ich weiß“, antwortete er rasch. „Ich habe nichts Böses gemacht.“



Sein Vater sorgte dafür, dass er seinen Schlafanzug wechselte, und blieb noch eine Weile bei ihm.



Er meint es gut mit mir und will mir helfen.



„Geht es wieder?“, sagte sein Vater schließlich. „Willst du das Licht anlassen?“



„Alles klar, du kannst wieder gehen. Und das Licht muss nicht an sein.“



Vater drückte fest seine Hand und verließ langsam das Zimmer.



Wenn ich schlafe, hilft mir auch das Licht nicht.



Er wälzte sich im Bett hin und her.



Papa kennt einige meiner Probleme, aber von den meisten hat er überhaupt keine Ahnung.



Sofort waren die Bilder wieder da.



Doch, ich habe etwas Schlimmes getan. Einen Mord habe ich nicht begangen. Aber ich habe einen Menschen getötet. Das darf niemals jemand erfahren. Nie im Leben.



Die Gedanken schossen ihm weiterhin durch den Kopf. An Schlafen war nicht zu denken. Er wusste aber, dass er irgendwann vor Erschöpfung einschlafen würde. Dabei hatte er in den vergangenen Wochen die Erfahrung gemacht, dass sich meistens, wenn ihn sein Vater in der Nacht getröstet hatte, sein Albtraum in derselben Nacht nicht wiederholte.



Wenn ich erwachsen bin, muss ich auf jeden Fall Polizist werden, um wiedergutzumachen, was ich getan habe. Ich sorge mit aller Kraft für Gerechtigkeit. Böse Menschen, die andere unterdrücken und ausbeuten, werden meine Macht zu spüren bekommen.



Kurze Zeit später war er eingeschlafen.




Kapitel 1



Viele Jahre später …

Mittwoch, 2. Mai



Der zweite Schreibtisch im Raum war komplett leergeräumt.



Die sportlich wirkende Frau mit den langen braunen Haaren lehnte allein am Fensterbrett ihres Büros und starrte auf den Drehstuhl, an dem ihr über Jahre Kriminalhauptkommissar Thomas Stelter gegenübergesessen hatte. Ab heute würde dort jemand anderes sitzen. Wie oft hatten sie in diesem Raum gemeinsam über einem komplizierten Fall gebrütet, dabei ganz unterschiedliche Ansätze verfolgt und sich dennoch ohne viele Worte gut aufeinander abgestimmt.

 



Fast wie ein altes Ehepaar. … Wobei: ich und Ehe, wohl eher nicht.



Kriminaloberkommissarin Andrea Renner arbeitete wie ihr Kollege Thomas in der Polizeidirektion Hannover, speziell im 1. Kommissariat der Kriminalfachinspektion 1: Straftaten gegen das Leben. Thomas, um einiges älter als sie, war verwitwet und inzwischen wieder fest liiert. Bei Andrea hatte es nie mit einer wirklich festen Partnerschaft geklappt.



Wie werde ich die Tage gemeinsam in einem Büro mit diesem nüchternen, brummigen und wortkargen Typen vermissen!



Andrea schüttelte den Kopf. In was für eine idiotische selbstmitleidige Stimmung manövrierte sie sich gerade?



Thomas war weder tot noch im Ruhestand noch in München tätig. Er war lediglich in ein Büro am anderen Ende des Flurs umgezogen.



Scheiße, ich bin ein Gewohnheitstier. Außerhalb der Arbeit läuft bei mir momentan nicht viel.



Ein neuer Kollege würde heute seinen Dienst in ihrem Kommissariat 1 beginnen. Er kam aus Hamburg, hatte quasi seinen Arbeitsplatz getauscht mit Markus, der zeitgleich von Hannover nach Hamburg wechselte.



Aus diesem Anlass hatte Thomas Stelter dafür gesorgt, die Belegung einiger Abteilungsbüros zu verändern. Er hatte Andrea mit der Aufgabe betraut, den neuen Hamburger Kollegen „an die Hand zu nehmen“ und in die Gepflogenheiten der hannoverschen Dienststelle einzuarbeiten. Andrea ging davon aus, später nicht wieder in ein gemeinsames Büro mit Thomas zurückzukehren. Thomas war weiterhin in der Nähe, aber die Zusammenarbeit würde vermutlich nie mehr so eng sein wie früher.



Die letzten Tage hatte sich Andrea viel mit Schreib­arbeiten beschäftigt und fast keinen Gedanken an den heutigen Tag verloren.



Mit dem Neuen würde sie die nächsten Wochen und Monate zwangsläufig eng kooperieren. Für die Arbeitszufriedenheit war es schon entscheidend, ob der Kollege ein sympathischer Kumpel oder ein arrogantes Arschloch war.



Kollegen fühlten sich an wie Familie. Man konnte sie sich nicht aussuchen und verbrachte viel Zeit miteinander, ob man wollte oder nicht.



Bisher wusste sie nichts über ihn, außer seinem Namen. Und der rief gleich klischeehafte Assoziationen hervor: Norden, Küste, blonder Hüne mit Bart …



Nach einem angedeuteten Klopfen wurde die Bürotür geöffnet. Hauptkommissar Hayo Baumann, braune Haare, Mitte vierzig, betrat das Zimmer.



„Ist dein neuer Partner noch nicht eingetroffen?“, sagte Hayo mit einem Grinsen. Dabei konnte sie sich mit seiner etwas spöttisch klingenden Betonung des Wortes Partner nicht wirklich anfreunden.



„Siehst du ihn hier etwa?!“, antwortete sie schroff.



„Du wirkst angespannt“, entgegnete er ruhig. „Du wirst schon klarkommen mit dem Neuen.“



Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Und die Stimme von Thomas, die sagte: „Und das hier ist Ihr Büro.“



Ein zur Korpulenz neigender Mann mit schütteren grauen Haaren kam herein – Thomas Stelter.



Andrea und Hayo blickten an ihm vorbei auf den Mann neben ihm, der im Türrahmen stehen geblieben war und etwas verlegen wirkte. Er war kein Hüne, eher von durchschnittlicher Größe, dabei weder bärtig noch blond. Stattdessen schaute ein glatt rasierter Mann mit lockigen schwarzen Haaren in die Runde und verkündete: „Mein Name ist Störtebecker.“



„Ach, wie der Klaus?“, entfuhr es Hayo.



Der Angesprochene schüttelte den Kopf: „Nein, mit c.“



„Ach, Claus mit C …“



„Nein, Störtebecker mit ck.“



Die Sätze gingen ihm flott über die Lippen. Offenbar hatte er sie nicht zum ersten Mal zum Besten gegeben. Andrea fiel sofort auf, dass er das St nicht wie einen Sch-Laut sondern wie S-t aussprach.



Ein angedeutetes, fast spitzbübisches Lächeln war auf seinem Gesicht erkennbar, bevor er erklärte: „Mit dem Piraten oder dem Stralsunder Bier, ohne c, bin ich nach dem jetzigen Stand der Familienforschung weder verwandt noch verschwägert. Ich heiße Raffael Störtebecker.“




Kapitel 2



Dienstag, 8. Mai



Es wurde langsam Abend. Der Himmel bewölkte sich zunehmend, es mochten draußen noch ungefähr fünfzehn Grad sein. Mit dem Rad fuhr er durch Kirchrode, einen Stadtteil von Hannover im Süd-­­osten der Landeshauptstadt, vorbei an einzeln stehenden, gepflegten Häusern mit großen Grundstücken.



Er war unauffällig gekleidet … Sommerjacke, lange Hose, schwarz-weißer Schutzhelm. Ohne besondere Eile steuerte er auf dem Radweg seinem Ziel entgegen. Sein Blick schweifte von links nach rechts. Alles um ihn herum hinterließ sofort den Eindruck eines gehobenen bürgerlichen Stadtteils.



Herauszufinden, wo sie wohnte, war überraschend einfach. Ihre Adresse stand schlichtweg im Telefonbuch. Für ihn ein Ausdruck weltfremder Gutgläubigkeit … oder nachlässiger Gewohnheit.



Er hatte sich die nähere Umgebung ihres Hauses im Internet bei Street View angesehen, wobei das Haus selbst unkenntlich gemacht worden war. Sein Smartphone hatte er zu Hause gelassen.



Einige ihrer Vorlieben waren ihm bestens bekannt. Sie fuhr regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit, immerhin von Kirchrode bis in die Innenstadt. Außerdem nutzte sie das Rad für ihr Hobby Geocaching.



Früher hatte er sich ebenfalls für einige Zeit mit Geocaching beschäftigt. Es ging darum, einen kleinen versteckten wasserdichten Behälter aufzuspüren, der ein Logbuch enthielt, in das sich der Finder mit seinem Nickname eintragen konnte. Derartige Geocaches waren inzwischen auf der ganzen Welt mit unterschiedlichen Schweregraden versteckt. Hinweise, wo sich ein Geocache befand, erhielt der Sucher, der sogenannte Geocacher, über entsprechende Internetseiten, auf denen sich Hinweise wie GPS-Koordinaten befanden. Um einen Geocache zu finden, benötigte man zumindest ein GPS-Handgerät oder ein Smartphone mit GPS-Empfänger.



Endlich tauchte ihr Haus vor ihm auf. Es handelte sich um ein Eckgrundstück an zwei kleinen Nebenstraßen in einem Wohngebiet. Das Einfamilienhaus stand in einem Garten, der sich durch hochgewachsene Büsche und Bäume zur Straße abgrenzte. Die niedrig geschnittene Buchsbaumhecke im Vorgarten gewährte eine ungehinderte Sicht auf den Eingangsbereich des Hauses.



Er bremste, stieg ab und schob das Fahrrad bis zu der Laterne, die sich auf dem Gehweg neben dem seitlichen Teil des Gartens befand. Ihm war bekannt, dass hier ganz in der Nähe ein Geocache versteckt sein musste.



Um sie zu töten, brauche ich den richtigen Moment und den richtigen Ort. Geht das auf dem Grundstück? In den nächsten Tagen?



Kein Mensch war momentan in der Nähe. Während er einige Schritte am Doppelstabmattenzaun des Gartens entlangschlenderte, versuchte er sich einen möglichst genauen Überblick vom seitlichen und hinteren Teil des Hauses zu machen, wobei die dichten Büsche nur eine eingeschränkte Sicht auf diesen Bereich zuließen.



Ich darf mich hier nicht zu lange aufhalten. Sonst erinnert sich später ein Zeuge daran und kann mich beschreiben.



Er hörte die Stimmen von zwei Frauen, die wahrscheinlich über die Terrasse in den Garten gingen. Dann erkannte er Nadine Odem, dunkelblonde Kurzhaarfrisur, Mitte vierzig. Die andere Frau, vermutlich gleichaltrig, konnte ihre Ehepartnerin sein.



Die beiden haben mich sicher noch nicht bemerkt. Aber das ist ganz schön brenzlig und womöglich eine Nummer zu groß für mich.



Er stieg auf sein Rad und fuhr los, bewusst nicht in die Richtung, aus der er gekommen war.



Soll ich meinen Plan canceln?




Kapitel 3



Mittwoch, 9. Mai



Die Versetzung von Kriminaloberkommissar Raffael Störtebecker von Hamburg nach Hannover lag jetzt gut eine Woche zurück. Andrea Renner wusste, dass er in Hamburg ebenfalls mit der Aufklärung von Tötungsdelikten zu tun gehabt hatte. Ansonsten waren sie über sein Privatleben noch nicht groß ins Gespräch gekommen. Das würde sich heute Abend vielleicht ändern.



Andreas junge Kollegin Emma Falkenberg hatte ihr kürzlich im Vertrauen zugeraunt: „Wenn ich nicht gerade einen festen Freund hätte, wäre dieser unverschämt gut aussehende Kerl auch etwas für mich gewesen. Ich beneide dich um die enge Zusammenarbeit mit ihm.“



Raffael und Andrea verließen gemeinsam den großen Gebäudekomplex der Polizeidirektion an der Waterloostraße 9 im zentralen hannoverschen Stadtteil Calenberger Neustadt. Im vierten Stockwerk eines weißen fünfstöckigen Gebäudes befanden sich die Diensträume ihres Kommissariates. Von hier aus waren es nur ein paar Minuten zu Fuß bis zum Biergarten am Maschsee. Andrea hatte Raffael dort zum Feierabendbier eingeladen, um „ein wenig das Eis zu brechen“.



Raffael war freundlich und sympathisch. Gerne würde Andrea das eine oder andere mehr über ihn erfahren.



Sie schlenderten nebeneinander die Waterloostraße entlang, eine Allee, an deren Ende sie die HDI-Arena sehen konnten.



Inzwischen waren sie, wie im Kommissariat üblich, beim „Du“ gelandet. Besonders beschäftigt hatte Andrea Raffaels merklich hörbarer hanseatischer Akzent. Anstelle der inzwischen allgemein üblichen süddeutschen Aussprache Sch-t und Sch-p sagte er konsequent S-t und S-p. Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, die Schauspielerin Heidi Kabel oder Käpt’n Blaubär aus dem Kinderfernsehen hatten so gesprochen. Aber bei Andreas letzten Besuchen in Hamburg hatte sie niemanden mehr so reden hören, außer vielleicht sehr alte Leute. Und Raffael war erst Mitte dreißig, also ähnlich alt wie sie.



Sehr behutsam sprach sie ihn darauf an.



„Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel“, begann sie vorsichtig, „aber woher kommt deine markante hanseatische Aussprache? Ich kenne niemanden mehr, der so spricht.“



Er blickte im Gehen kurz zu ihr herüber, dann antwortete er: „Ich war als Kind häufig bei meiner Oma, zu der ich eine enge Bindung hatte. Und ich habe früher viele Jahre bei meiner Tante verbracht. Beide haben so gesprochen, und ich habe es geliebt.“



„Und deine Eltern?“



„Meine Mutter ist Hamburgerin, Jahrgang 1962. Sie hat den Akzent gehasst. Und mein Vater, zwei Jahre älter, ist Italiener.“



„Störtebecker ist demnach nicht der Name deines Vaters?“, setzte Andrea nach.



„Nein.“



„Folglich heißt du wie deine Mutter …“



„Meine Eltern waren nicht verheiratet, wenn du das wissen willst“, sagte er forsch. „Ist doch nicht schlimm, oder?“



Seine Stimmung schien zu kippen.



„Ist absolut okay“, äußerte Andrea beschwichtigend.



„Meine Eltern haben aber viele Jahre zusammengewohnt“, brummelte er.



Andrea verkniff sich eine weitere persönliche Frage.



Zwischen ihnen trat eine merkwürdige Stille ein, die Raffael unvermittelt unterbrach: „Hattest du das auch schon mal? Du rufst im Beerdigungsinstitut an – sind alle Leitungen tot.“ Er lachte.



„Wie …?“, murmelte Andrea erstaunt. „Was soll das denn?“



„Kleiner Scherz“, strahlte ihr Gegenüber.



Der Kollege hat eine merkwürdige Art von Humor.



Sie erreichten die Robert-Enke-Straße und die HDI-Arena. Raffael wollte einiges zu Hannover 96 wissen.



Am Nordwestufer des Maschsees setzten sie sich in der Nähe des Courtyard Hotels in einen Biergarten, der schon gut besucht war. Andrea hatte für sie zwei Gläser Bier besorgt. Sie saßen sich gegenüber, die Gäste auf der Bank neben ihnen waren in ihre eigenen Gespräche vertieft.



„Störtebeker zapfen sie hier leider nicht“, grinste Andrea, und Raffael lächelte zurück.



„Ist eh nicht meine Marke.“



Andrea hatte einige Sätze zu ihrer eigenen privaten Situation erzählt. Sie lebte allein in einer Mietwohnung eines Mehrfamilienhauses, hatte noch zwei Geschwister und Eltern, die alle in der Region Hannover wohnten. Das Verhältnis zu ihnen war weitgehend „okay“, wobei sich der Kontakt in Grenzen hielt.



Sie lenkte das Gespräch mit einem unverfänglichen Thema wieder in Raffaels Richtung: „Du kommst aus einer tollen Stadt wie Hamburg. Was reizt dich an Hannover, dass du dich hast hierher versetzen lassen?“



„Niemand aus meiner Familie lebt mehr in Hamburg.“ Er machte eine kurze Pause. „Hamburg ist mir auch zu groß und unübersichtlich. Und nennenswerte Kontakte, die mich halten würden, hatte ich dort nie.“



„Deine Familie ist auch aus Hamburg weggezogen?“



„Mein Vater ist nach Italien zurückgekehrt, seine Heimat Südtirol. Meine Tante ist nach Lüneburg umgezogen. Großeltern habe ich nicht mehr.“

 



„Und deine Mutter?“



„Die hat Hamburg ebenfalls vor Jahren verlassen.“ Er schaute betrübt. „Sie lebt in der Schweiz.“



„Bist du nie verheiratet gewesen?“



„Doch, früher.“ Er umfasste mit beiden Händen sein Bierglas und wechselte freudestrahlend das Thema: „Ich finde es toll, wie ich hier in Hannover aufgenommen worden bin. Die Arbeitsatmosphäre ist super, und du hast die letzte Woche viel dazu beigetragen. Die Kollegen sind sehr nett. Ich bin total zufrieden.“



Andrea war überrasc