Thomas von Kempen

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Aus der Reihe: Die Mystiker-Reihe
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Thomas von Kempen
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Dr. theol. h.c. Gerhard Wehr, geb. 1931 in Schweinfurt/Main. Nach langjähriger Tätigkeit in verschiedenen Bereichen der Diakonie und der Erwachsenenbildung, zuletzt als Lehrbeauftragter an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Rummelsberg/Nürnberg, arbeitet er als freier Schriftsteller in Schwarzenbruck bei Nürnberg. Ein Großteil seiner Werke zur neueren Religionsund Geistesgeschichte ist in mehreren europäischen und asiatischen Sprachen verbreitet.

Zum Buch

„Unser höchstes Studium sei es, das Leben Jesu Christi meditierend in uns aufzunehmen“

Thomas von Kempen

Gerhard Wehr umreißt die Konturen jener geistlichen Reformbewegung der sogenannten Devotio moderna (Neue Frömmigkeit), in deren Rahmen Thomas von Kempen gewirkt hat. Anhand ausgewählter Abschnitte aus der Nachfolge Christi wird deutlich, wie sehr ihr Verfasser bestrebt ist, an das urchristliche Vorbild anzuschließen und vom Evangelium her das geistliche Leben zu aktivieren. Wie die Biographien von Bonhoeffer, Edith Stein oder Dag Hammarskjöld zeigen, sind vielfältige Nachwirkungen bis heute belegbar.

Die Nachfolge Christi (De imitatione Christi), eine zur Meditation und spirituellen Orientierung anleitende Weisheitsschrift der niederdeutschen Mystik, gilt – nächst der Bibel – als die am weitesten verbreitete und übersetzte Schrift. Sie entstammt der fl eißigen Feder des Augustiner Chorherrn Thomas von Kempen am Niederrhein (gestorben 1471). Dabei kann offen bleiben, ob er selbst als Verfasser oder Kompilator zu gelten hat. Doch es spricht für sich und für den hohen Rang, den man seinem spirituellen Erbauungsbuch eingeräumt hat, wenn man mehrere prominente Männer der Geistesgeschichte als Autoren für möglich gehalten hat.

Thomas von Kempen

Nachfolge Christi

Thomas von Kempen

Nachfolge Christi

Textauswahl und Kommentar von Gerhard Wehr


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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013

Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2011

Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz

Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH

Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin

eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0202-4

www.marixverlag.de

INHALT

I. Einführung

Ein Klassiker christlicher Mystik

„Kommt und folgt mir nach!“

Thomas von Kempen und die Devotio moderna

Die Nachfolge Christi in vier Büchern

Zur Wirkungsgeschichte

Zur vorliegenden Ausgabe

II. Nachfolge Christi

Aus dem ersten Buch – Geistliche Lebensregeln

Christus nachfolgen (Kap. 1)

Erkenne dich selbst (Kap. 2)

Von der Wahrheit (Kap. 3)

Klug handeln (Kap. 4)

Die Heilige Schrift lesen (Kap. 5)

Leidenschaftslos (Kap. 6)

Realistisch bleiben (Kap. 7)

Zurückhaltung üben (Kap. 8)

Gehorsam (Kap. 9)

Besonnenes Reden (Kap. 10)

Bereit zum Frieden (Kap. 11)

Glück im Unglück (Kap. 12)

Der Versuchung widerstehen (Kap. 13)

Bedächtig urteilen (Kap. 14)

Selbstlos lieben (Kap. 15)

Die Fehler anderer ertragen (Kap. 16)

Vom mönchischen Leben (Kapitel 17)

Das Vorbild geistiger Väter (Kap. 18)

Geistliche Exerzitien (Kap. 19)

Einsamkeit und Stille (Kap. 20)

Mut zur Reue (Kap. 21)

Menschliches Schicksal (Kap. 22)

Memento mori (Kap. 23)

Vom Jüngsten Gericht (Kap. 24)

Voll Eifer und Liebe (Kap. 25)

Aus dem zweiten Buch – Impulse für ein inneres Leben

Vom inneren Dialog (Kap. 1)

Sein Wille geschehe (Kap. 2)

Vom inneren Frieden (Kap. 3)

Reinheit des Herzens (Kap. 4)

Selbstbetrachtung (Kap. 5)

Freude des guten Gewissens (Kap. 6)

Jesus lieben (Kap. 7)

Mit Jesus befreundet sein (Kap. 8)

Des Trostes bedürftig (Kap. 9)

Dankbar in Gott gegründet (Kap. 10)

In der Schar der Freunde Christi (Kap. 11)

Der Königsweg des Kreuzes (Kap. 12)

Aus dem dritten Buch – Vom inneren Trost

Der innere Christus (Kap. 1)

Innen redet die Wahrheit zu uns (Kap. 2)

Wie das Wort zu hören ist (Kap. 3)

Aus dem vierten Buch – Vom Sakrament des Altars

Nicht neugierig, sondern demütig (Kap. 18)

III. Thomas von Kempen in seinen Briefen

IV. Stimmen und Zeugnisse zu Thomas von Kempen

Wilhelm Oehl (1931)

Josef Sudbrack (1964)

F.W. Wentzlaff-Eggebrecht (1969)

Hans Norbert Janowski (1978)

Kurt Ruh (1999)

Ulrich Köpf (2002)

Silvia Reinhardt (2003)

Rudolf van Dijk (2005)

 

Literatur

1. Textausgaben

2. Sekundärliteratur

I. EINFÜHRUNG
EIN KLASSIKER CHRISTLICHER MYSTIK

Wer sich in Bücher vergangener Jahrhunderte vertieft, muss sich die Frage gefallen lassen, was sie für ihn bedeuten oder welchen Gewinn er gerade von Schriften erwartet, die vor einem ganz anderen Lebens- oder Erkenntnishorizont zustande gekommen sind. Unschwer lässt sich auf die etwaige Zeitgebundenheit mancher Aussagen verweisen. Von daher mögen sich auch Verständnisschwierigkeiten ergeben. Dennoch üben Texte und Dokumente vergangener Epochen nicht selten eine erstaunliche Faszination auf uns, die Nachgeborenen, aus. Das trifft auf das umfangreiche Schrifttum der Mystikerinnen und Mystiker in besonderer Weise zu. In einem nicht unerheblichen Maß gilt das auch für das Buch von der Nachfolge Christi (De imitatione Christi).

Es handelt sich um eine in den Niederlanden entstandene spätmittelalterliche, ursprünglich lateinisch abgefasste mystische Schrift. Wie kaum eine andere hat sie das geistliche Leben vieler Generationen befruchtet, und zwar auch ungeachtet der jeweiligen unterschiedlichen kirchlichen oder bekenntnisbedingten Einbindungen. Das erklärt neben anderen, auf den Inhalt bezogenen Gesichtspunkten die weite Verbreitung des Buches. Sein Bekanntwerden in handschriftlicher Form setzte bereits im 15. Jahrhundert ein. Diese Schrift von der Nachfolge Christi gehörte infolge des anhaltenden Interesses zu jenen Büchern, die man – wie einst in den Schreibstuben der Klöster üblich – offensichtlich systematisch kopierte. Neben dem Autograf aus dem Jahre 1441 zählt man Hunderte von Manuskripten, ehe die nachfolgende Drucklegung möglich wurde. Und was die gedruckten Editionen anlangt, so werden über 4000 genannt. Somit geht die Gesamtauflage zusammen mit einer ebenfalls sehr großen Zahl an Übersetzungen weltweit in die Millionen.

Entsprechend groß und imponierend ist somit auch die Zahl der Zeugnisse, die die Bedeutsamkeit des Buches unterstreichen. Katholiken und Protestanten waren und sind sich in der Wertschätzung ziemlich einig geblieben. Das zeigt die Aufnahme der Schrift in allen Reformationskirchen und deren geistlichen Gemeinschaften ebenso wie in den geistlichen Exerzitien des Ignatius von Loyola. So nachhaltige Erneuerungsbewegungen wie der überaus differenzierte Pietismus haben aus dem Buch von der Christus-Nachfolge geschöpft. Das geht aus den Lebensbeschreibungen Ungezählter hervor. Offizielle Empfehlungen wurden katholischerseits ausgesprochen. „Die Zeugnisse hervorragender Männer und Frauen ließen sich endlos fortsetzen“, schreibt der Jesuit Josef Sudbrack: „... so haben die Päpste bis heute immer wieder auf die Imitatio Christi hingewiesen. Und wenn auch die überschwängliche Bewunderung des Clemens Brentano, der die Imitatio sogar der Bibel vorziehen wollte, weil sie ungeschichtlicher sei, nicht mehr geteilt wird, so ist der Einfluss des bescheidenen Büchleins doch geblieben. Man denke nur an die zahlreichen Neuausgaben der jüngsten Zeit.“1

Schon der Philosoph Leibniz (1646 – 1716) pries denjenigen glücklich, der „nach dessen Inhalt lebt und sich nicht damit begnügt, es nur zu bewundern“. Diese Schrift ist für auf buchstäbliche Erfüllung setzende praktizierende Christen zu einem Lebensbuch geworden. Aber nicht nur für sie. Es war Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945), der protestantische Theologe im kirchlichen Widerstand gegen Hitler, der im Gefängnis der Nazis die Nachfolge Christi las. Und, wie er seinem Freund Eberhard Bethge gemäß dem Briefbuch Widerstand und Ergebung schrieb, benutzte er die ursprüngliche lateinische Fassung, weil sie „doch unendlich viel schöner ist“ als deutsch. Darüber darf nicht vergessen werden, wie existenziell bedeutsam dieses Thema für Bonhoeffer bereits während des Kirchenkampfes in den Dreißigerjahren war. So entstand im Rahmen seiner Tätigkeit als Studienleiter des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde das nach wie vor diskutierte wie meditierte Buch Nachfolge (1937). Man könnte von einer aus der besonderen Zeitlage heraus aktualisierten Imitatio Christi sprechen, wenngleich Bonhoeffer seiner eigenen Spiritualität folgt. Andererseits markiert die kleine Schrift Bonhoeffers Theologie und persönliches Schicksal.2

Der frühere UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1905 – 1961), von dem erst nach seinem Tod bekannt wurde, dass er ein diszipliniertes geistliches Leben geführt hat, benutzte die Nachfolge Christi als spirituelles Vademecum. Es begleitete ihn bei den ausgedehnten Auslandsreisen im Dienst seiner Friedensbemühungen. Beide, der an Karl Barth orientierte Bonhoeffer und der international anerkannte schwedische Diplomat Hammarskjöld, lebten je auf ihre individuelle Weise exemplarisch im Geist der christlichen Mystik.3 Dazu bemerkt Josef Sudbrack, man müsse vielleicht besondere Grenzerfahrungen gemacht haben, um mit dem Geist der Christus-Nachfolge und mit dieser zur Meditation anregenden Schrift vertraut zu werden.

„KOMMT UND FOLGT MIR NACH!“

Was die Thematik anlangt, so ist der Ruf in die Christus-Nachfolge unauflöslich mit der ursprünglichen Botschaft des Wanderpredigers Jesus von Nazaret und daher mit dem Christsein als Existenzform verbunden. Und diese Botschaft lässt sich bereits durch den in diesem Wort enthaltenen Imperativ konzentriert zum Ausdruck bringen.

Es sind bedeutsame, zugleich prototypische Situationen, die die Evangelien schildern – auf der einen Seite die drei Synoptiker Matthäus, Markus und Lukas, auf der anderen Seite das Johannesevangelium. Bald einladend, bald gebieterisch fordernd tritt der wandernde Jesus an Menschen heran, an Einzelne und an kleine Gruppen mit der Anrede „Kommt und folgt mir nach!“ Dieses Wort gilt neben Einzelbeispielen einigen Fischern am See Genezaret in Galiläa, die sich als Jünger der sich bildenden Jesus-Bewegung angeschlossen haben und als Apostel tätig geworden sind. Man hört auffälligerweise von keiner vorausgehenden Diskussion, von keinem durchaus zu erwartenden „Ja, aber“ der Angesprochenen. Vielmehr wird erzählt, wie diese Männer ihre Fischernetze verlassen und ihre Arbeitsverhältnisse, gegebenenfalls sogar die Familie aufgeben, als hätten für sie zuvor keine festen Bindungen bestanden. Den Evangelisten lag zweifellos daran, der letztlichen Unbedingtheit – Meister Eckhart würde sagen: „ohne Warum“ (sunder warumbe) – Nachdruck zu verleihen. Die Christus-Nachfolge gestattet jedoch keine Privilegien oder private Zugeständnisse. Auch das betont das Evangelium; denn „wer die Hand an den Pflug legt und blickt zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes“ (Lk 9,62).

Weil es sich sowohl um die Aufforderung zu einem äußeren Anschluss als auch und vor allem um ein inneres Teilnehmen an dem Leben des kommenden Messias handelt, verweist das ursprüngliche Wort von der „Nachfolge“ auf das „Herzstück christlicher Spiritualität“ überhaupt (E. von Severus). Es geht um nichts Geringeres als darum, dass die Angesprochenen ihrem bisherigen Leben eine entscheidende Wendung und einen neuen Inhalt zu geben bereit sind. Mit dem Wort von der Nachfolge wären andere Grundworte der neutestamentlichen Botschaft (euangélion), nicht minder gewichtige, zu verknüpfen, etwa das Wort von dem anbrechenden „Reich“ (Dein Reich komme!), das mit und in den Menschen der Nachfolge beginnt (Lk 17,21). Nicht zuletzt hat diese Nachfolge mit einer existenziellen „Umkehr“ (metánoia) zu tun, die viel mehr als ein bloßes Umdenken meint: „Du musst dein Leben ändern!“ (Rilke)

Die Nachfolge Christi zieht somit tiefgreifende Konsequenzen für die äußerlich wie innerlich Angesprochenen nach sich. Der Anschluss an den Nazarener bedeutet für seine ersten Anhänger und Anhängerinnen, den Weg zu gehen, wie er ihn durch sein Leben vorgezeichnet hat. Dieser Weg führt durch eine Reihe charakteristischer Durchgangsstationen der Prüfung und der Bewährung hindurch. Deren Symbolhaftigkeit reicht bis tief in die Reifungsprozesse eines jeden Menschen hinein. So gesehen wird es jeweils darauf ankommen, dass man das in Bild und Gleichnis geschilderte Jesus-Leben so für sich erschließt, dass deren individuelle Bedeutsamkeit für jeden Einzelnen einsichtig und umsetzbar wird. Das zeigen all jene, die inmitten ihres bisherigen und künftigen Berufs je auf ihre individuelle Weise die Christusnachfolge zu praktizieren versuchen.

Von daher gesehen muss man sich klar machen, was Jesu Worte „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem!“ – das heißt: zum Kreuz – in ihrer existenziellen Tiefe meinen, wenn man sie in der gebotenen Weise auf sich selbst bezieht. Es kann jedenfalls nicht etwa gemeint sein, Jesus in äußerlicher Weise im Sinne einer buchstäblichen Imitatio lediglich nachzuahmen. Jesus trägt sein Kreuz. Seinen Jüngern ist es aufgetragen ihr eigenes Kreuz und ihr eigenes Leben, gerade auch mit seinen Belastungen und Beschwernissen, zu leben. Darüber hinaus gilt: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Gal 6,2) Und dazu gehören die von den Evangelien in ihrer konkreten Vielfalt geschilderten Akte der Nachfolge, etwa die Freundes- wie die Feindesliebe (agápe), die Bereitschaft zur „Fußwaschung“ als Ausdruck einer diakonisch-karitativen Dienstbereitschaft. Dazu gehören die bei Matthäus in der Gerichtsrede beispielhaft genannten Zeichen der Barmherzigkeit: „Was ihr einem unter meinen geringsten Brüdern (und Schwestern!) getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,40).

Die zugrunde liegende theologische Bedeutung lässt sich mit den folgenden Worten zusammenfassen: „Schon die innerneutestamentliche Begriffsgeschichte von ‚nachfolgen‘(akolouthein) zeigt sehr deutlich das Bestreben der urchristlichen Theologen, die Worte Jesu vom Nachfolgen stets auf eine der heilsgeschichtlichen Situationen ihrer Hörer gemäße Weise neu zu sagen. Gerade diese Einsicht verpflichtet auch die Theologie der Gegenwart, den spirituellen oder existenziellen Sinn der Nachfolge Christi unter Führung des biblischen Fundamentes aufzuzeigen ... Der Kern aller biblischen Religiosität ist der unverzügliche Gehorsam ... Die Antwort des gehorsamen Menschen ist der Glaube. Die Treue gegen den auserwählenden Ruf Gottes auf dem Wege des Christus führt zum ewigen Leben.“4 Dabei ist immer wieder zu bedenken, dass damit kein fernes oder zukünftiges Jenseits gemeint ist, sondern dass das ewige Leben stets jetzt und hier beginnt. Dies kann als Inbegriff einer mystischen Tatsache betrachtet und soll lebenspraktisch umgesetzt werden.

Bleibt nur noch zu resümieren, dass der Ruf in die Nachfolge im Laufe der Geschichte der Christenheit in vielfältiger Gestaltung aufgenommen und realisiert worden ist – etwa in der Weise einer zeit- und situationsgemäßen Erprobung historischer Vorbilder. Dabei ist eine Umwandlung und Angleichung jeweils erforderlich. Andererseits gibt es auch Beispiele einer mehr oder minder buchstäblichen Weise bloßer Nachahmung, als ließen sich Lebensformen von einst in die Lebenswirklichkeit von Menschen einer anderen Epoche verpflanzen. Eben dies verbaut den innerlichen, mystischen Zugang! Und gerade diese Unterscheidung ist zu machen, will man den ursprünglichen, in den Evangelien symbolisch-gleichnishaft aufgezeigten Ansatz nicht verfehlen. Dieselbe Unterscheidung ist auch zu treffen, wenn man die spirituellen Anweisungen des Buches von der Nachfolge Christi für sich zur Geltung bringen will. Nicht umsonst gibt das Buch (I,5) selbst Hinweise darauf, in welcher Geisteshaltung spirituelle Wortlaute zu lesen und anzuwenden sind.

Dietrich Bonhoeffer, den man von seinem theologischen Ansatz her lange Zeit kaum im Kontext mystischer Erfahrung gesehen hat, gibt bereits in seinem Buch Nachfolge zu erkennen, wie wichtig und unverzichtbar ihm das Gleichgestaltetwerden, die conformitas der Mystik, ist. Denn „das ist die Einwohnung Jesu Christi in unseren Herzen. Das Leben Jesu Christi ist auf dieser Erde noch nicht zu Ende gebracht. Christus lebt es weiter in dem Leben seiner Nachfolger. Nicht von unserem christlichen Leben, sondern von dem wahrhaftigen Leben Jesu Christi in uns ist nun zu reden. ‚Nun aber lebe nicht ich, sondern Christus lebt in mir‘ (Gal 2,20). Der Menschgewordene, der Gekreuzigte, der Verklärte ist in mich eingegangen und lebt mein Leben.5

 

THOMAS VON KEMPEN UND DIE DEVOTIO MODERNA

So kennt die Kirchengeschichte andererseits auch eine Fülle von Beispielen, an denen deutlich wird, wie groß die Diskrepanz zwischen dem einst ergangenen Wort der Christuserscheinung und der späteren Lebenspraxis spürbar geworden ist. Nach Blütezeiten eines geistlichen Aufbruchs folgen immer wieder Zeiten eines religiösen Niedergangs und einer spirituellen Dürre. Nicht selten beginnt sie bei den führenden Vertretern der Kirche und ihrer „Geistlichkeit“ in den Klöstern, nicht zuletzt bei den saturierten Posteninhabern und Pfründebesitzern! So wird das Evangelium bei den einen nur buchstabengetreu gepredigt, bei anderen wird es auch in sich wandelnden Formen der Deutung und Auslegung weitergetragen. Aber die zu erwartende Praxis lässt oft viele Wünsche offen. Sobald man sich diverser Mangelerscheinungen bewusst wird, kommt es aber immer wieder zur Bildung von kritischen Äußerungen, die schließlich in Reformbewegungen einmünden.

Es entsteht Mal um Mal das Bedürfnis, die bisherige alte Frömmigkeit durch eine neue zu ersetzen. Das Motto von einer ständiger Erneuerung bedürftigen Kirche (Ecclesia semper reformanda) gilt nach wie vor. Eine solche „neue Frömmigkeit“, eben in Gestalt der Devotio moderna, ist gegen Ende des 14. und am Anfang des 15. Jahrhunderts in den Niederlanden entstanden. Darunter ist freilich nicht eine dem Zeitgeist angepasste und im heutigen Sinn zu verstehende Modernität gemeint, sondern eine Umkehr, wie sie in Zeiten einer spirituellen Veräußerlichung erforderlich wird. Von den niederländischen Provinzen hat sie sich bis ins Elsass und in den oberdeutschen Raum ausgebreitet, beispielsweise durch Brüder und Schwestern eines gemeinsamen Lebens.6

In dieser Devotio fanden sich religiös eingestellte Männer und Frauen zusammen, die bestrebt waren, Arbeit und Frömmigkeit in und mit ihrem Alltag zu verbinden, ohne sich viel um die theologische Theoriebildung und akademische Diskussion zu kümmern. In ähnlicher Weise hatten sich schon früher Beginen (wie die Mystikerin Mechthild von Magdeburg7oder Hadewijch) und (männliche) Begarden zusammengefunden. Damit unterschieden sie sich von ausgesprochen klösterlichen Kommunitäten, deren Mitglieder die drei klassischen Gelübde der Armut, Ehelosigkeit und des Gehorsams auf sich nahmen. Vornehmlich ging es den nicht klösterlich organisierten Religiosen darum, in die Nachfolge Christi einzutreten, um in Zeiten eines äußeren Niedergangs und einer spirituellen Dürftigkeit auf diese Weise das eigene Leben nach dem Leben Jesu und seiner Jüngerschaft einzurichten. Dazu gehörte der Versuch, die Untugenden durch eine evangeliumsgemäße Ethik zu überwinden und den „alten Menschen“ wie ein zerschlissenes Kleid abzulegen. Wie schon aus der älteren Mystik bekannt, ging es ihnen um das innerliche Gleichförmigwerden (conformitas) mit Christus und den urchristlichen Vorbildern.

Wie schon aus den neutestamentlichen Berufungsberichten ersichtlich, ging dies nicht ohne eine Neubesinnung und ohne neue Akzentsetzung vor sich. Das Studium der Heiligen Schrift sollte nicht etwa um der bloßen Pflege einer theologisch-scholastischen Gelehrsamkeit willen betrieben werden. Vielmehr fühlte man sich motiviert, die bisherige, lediglich auf Beachtung der reinen Lehre zielende Orthodoxie durch die Verwirklichung einer konsequenten Orthopraxis zu ergänzen. Ihr hatte die beschauliche Meditation zu dienen. Nur was in der Christus-Nachfolge zur Tat wird, verdient daher Beachtung. Mit anderen Worten:

„In der Absicht dieser Methode beständiger innerer Verarbeitung liegt weniger begriffliches Denken als vielmehr religiöses Empfinden; geistliche Erfahrung hat für die Devotio moderna einen höheren Stellenwert als spekulatives Denken. Mit niederländischem Gespür für das Beständige bleibt sie auf festem Boden, wenn sie erklärt, der Mensch dient Gott, sofern er sein Leben und seine Arbeit als göttliche Berufung versteht und entsprechend gestaltet. Jede ehrbare Tätigkeit hat vor Gott gleichen Wert, und für das Gemeinschaftsleben gibt es weder gestufte Grade noch grundsätzliche Unterschiede. Als wesenhaft persönlich geprägte Frömmigkeit steht die Devotio jedem offen. Ihr Wert ist in ihrem Bemühen selbst beschlossen; daher kann sich jeder im Rahmen seiner Fähigkeiten in sie einbringen und findet dabei Hilfen zur inneren Einübung in Gestalt der Gewissensprüfung, der Sammlung von Lesefrüchten bei der Lektüre erbaulichen Schrifttums ...“8

Was die Vertiefung und Auswertung überkommener und neu gestalteter, der Erbauung dienender Bücher anlangt, so ist damit eine wichtige Besonderheit der Devotio moderna genannt. Gleicherweise ist es das Verdienst des Thomas von Kempen, durch Kopieren, Sammeln und Interpretieren spirituellen Schriftgutes auf lange Zeit hin einen bedeutsamen Beitrag für das geistliche Leben geleistet zu haben. Das Buch Nachfolge Christi (De imitatione Christi) ist daher nicht zufällig mit seinem Namen verbunden. Es gilt als die literarische Perle der ganzen Bewegung.

Aber als der eigentliche Initiator der Devotio moderna gilt Geert Groote (Gerardus magnus; Gerhard Grote; gestorben 1384), offensichtlich eine charismatische Persönlichkeit. Aus einer Patrizierfamilie des niederländischen Deventer stammend, hatte er in jungen Jahren eine wissenschaftliche Karriere durchlaufen. In Paris hatte er den Magistergrad erworben. Er verzichtete jedoch bewusst auf die Erlangung der Priesterweihe, aber um später als Wanderprediger die erforderliche, vom Bischof erteilte kirchliche Redeerlaubnis zu bekommen, ließ er sich zum Diakon ernennen.

Geert Groote empfing geistliche Impulse durch die Kartäusermönche von Arnheim und anlässlich seines Besuchs bei dem Mystiker Jan Ruusbroec (gest. 1381) in dessen Waldeinsamkeit von Groenendaal unweit von Brüssel, wo er mit einigen Mönchen zurückgezogen lebte.9 Er übersetzte Ruusbroecs viel gelesenes Werk Die Zierde der geistlichen Hochzeit10 ins Lateinische. Leiten ließ sich Geert Groote durch die Schriften des Kirchenvaters Aurelius Augustinus und die Predigten des in diesen Kreisen hoch geschätzten Bernhard von Clairvaux. Grootes Lebensmaxime lässt sich als Übung der Nächstenliebe im Aufblick zu Gott beschreiben, wobei ihm wichtig war, die lebensnotwendigen Güter mit Gleichgesinnten, mit seinen geistlich gesinnten Brüdern und Schwestern, selbstlos zu teilen. „Das Leben Jesu ist der Spiegel jedes menschlichen Lebens, der ihn auffordert, durch Selbsterkenntnis und Abwendung der Sünde die Reinheit des Herzens zu erreichen und durch die immer wieder apostrophierte Gleichförmigkeit (conformitas) mit dem Willen Gottes den inneren Frieden zu finden. Bekehrung ist die wahre devotio, die sich im herzinnigen Frohsein zeigt und als schlichter, demütiger und arbeitsamer Lebensstil erscheint.“11

In diesem Zusammenhang entstanden Hausgemeinschaften mit geistlicher Ausrichtung. Das Leben spielte sich in klosterartigen Häusern ab. Die geschwisterliche Gemeinsamkeit fand ihren Ausdruck darin, dass sich Kleriker und sogenannte Laien zusammentaten, um die herkömmliche gesellschaftliche Barriere, die durch die kirchliche Weihe gegeben ist, zu relativieren. Das bedeutete einen Verzicht auf die üblichen Standes- und Ordensattribute sowie die Ablehnung aller geistlichen Privilegien. (Im nachfolgenden Reformationsjahrhundert wird Martin Luther darauf hinweisen, dass im Grunde jeder getaufte Christ bereits einen potenziellen Priester verkörpert.12 ). „Völlig neu war gegenüber früheren Rückgriffen auf das urkirchliche Gemeinschaftsleben ihre Methodik: die intensive Lektüre zur eigenen Erbauung, die Meditation anhand von herausgeschriebenen Merksätzen und die schriftliche Gewissenserforschung: Hier wurde sozusagen die städtisch-rationale Verwaltungspraxis in die private Religiosität übertragen.“13

Ein Zentrum der Devotio moderna, in dem man zum herkömmlichen monastischen Leben zurückkehrte und von dem wiederum Anstöße zu einer Klosterreform ausgingen, entstand in Windesheim bei der niederländischen Stadt Zwolle, wo man nach der Regel der Augustiner Chorherren, also im traditionellen klösterlichen Rahmen, lebte. Die „Windesheimer Kongregation“ mit ihren als „geregelte Stifte“ bezeichneten Reformklöstern breitete sich auch außerhalb der Niederlande aus. In Deutschland und der Schweiz kam es innerhalb kurzer Zeit zu zahlreichen Klostergründungen dieser Art. Das führte nicht zuletzt zu einer Wandlung der inneren Struktur der ganzen Bewegung: „Aus den Brüdern wurden ‚Fraterherren‘. Mögen auch im späteren 15. Jahrhundert die großen Impulse in Spiritualität und Monastik abgeflacht sein, so ist doch die Zahl der geistlich-klösterlichen Niederlassungen angewachsen wie nie zuvor. Von den 47 Klöstern, Konventen und Kapiteln, die es um 1500 beispielsweise im Herzogtum Kleve gab, waren mehr als die Hälfte, nämlich 26, Gründungen des 15. Jahrhunderts.“14 Eben dies entwickelte sich während der Lebenszeit des Thomas von Kempen, der in der Devotio moderna eine wichtige Rolle spielen sollte.

Die Initiative zu den verschiedenen Gemeinschaftformen der Devotio ging, wie erwähnt, von Geert Groote aus. Unterstützt wurde er durch seine ersten Anhänger und Schüler, unter ihnen Florentius Radewijns (gestorben 1400), der auf die Durchbildung eines asketischen Lebens großen Wert legte. Ein Spezifikum Grootes stellte die kirchenkritische Predigt dar. Sie richtete sich gegen die offensichtlich nicht geringe Zahl solcher Kleriker, die mit ihren Gelübden, so auch mit dem Zölibatsgebot, allzu freizügig umgingen und in den Kirchengemeinden Anstoß erregten. (Weitere, hier nicht weiter aufzuführende Gesichtspunkte ergeben sich aus mancherlei Beziehungen zum Humanismus und seinen pädagogischen Zielsetzungen sowie zu Fernwirkungen, die auf die Reformation verweisen.)15

Was nun Thomas von Kempen (auch: Maleolus a Kempis, gestorben 1471) anlangt, dessen ursprünglicher Name Hemerken (d.i. Hämmerchen) war und der von Kempen am Niederrhein stammte, so führte er als Augustiner Chorherr ein betont nach innen gekehrtes Leben. Sein älterer Bruder Johannes, der als Augustiner selbst der Windesheimer Kongregation angehörte, hatte ihn auf die Brüder vom gemeinsamen Leben aufmerksam gemacht. Anlässlich einer Wallfahrt lernte er etwa zwanzigjährig im Jahr 1399 das Chorherrnstift Agnetenberg bei Zwolle kennen. Nach der üblichen Vorbereitungszeit als Novize und Donatus verband er sich durch Verpflichtung auf die ewigen Gelübde mit den Augustinern und erlangte die Priesterweihe. Agnetenberg wurde unter seiner Leitung als Subprior und Novizenmeister zu einem Zentrum der von Geert Groote begründeten Devotio moderna. „Neben seinen Verpflichtungen als Geistlicher und Inhaber von Ämtern bestand seine Tätigkeit im Schreiben von Büchern: im Kopieren fremder und im Verfassen eigener Werke (seit etwa 1420). Am 1. Mai oder 25. Juli 1471 starb er in Agnetenberg.“16 Die Tatsache, dass allein vier vollständige Abschriften der Bibel auf Thomas von Kempen zurückgehen, veranschaulicht, welches Ausmaß diese Schreibarbeit entwickelt hat.

Von 38 eigenen Schriften abgesehen, führte seine umfangreiche Abschreibetätigkeit zur Kompilation der Nachfolge Christi, durch die er berühmt geworden ist. Thomas verstand sich im Übrigen nicht als auctor, sondern als scriptor (Schreiber). Das ist nicht zuletzt angesichts der Tatsache zu berücksichtigen, dass die Verfasserschaft des Buches lange Zeit hindurch umstritten war. Mehrere prominente Persönlichkeiten des geistlichen Lebens vermutete man hinter dem in zahlreichen Handschriften verbreiteten und viel gelesenen Buch. Erhalten hat sich ein Autograf, also ein aus des Kempeners eigener Hand verfasstes vollständiges Nachfolge-Buch. Gegen 40 Namen wurden als mögliche Autoren vermutet, darunter Geert Groote, sowie andere Mitglieder der Devotio oder gar Bernhard von Clairvaux! Das entsprach einer zusätzlichen bedeutenden Aufwertung der Nachfolge Christi. Abgesehen davon, dass der spirituelle Rang eines Buches nicht allein von seinem etwaigen Autor abhängt, wird man davon ausgehen können, dass Thomas von Kempen die ihm zugänglich gewordenen Textteile in einem abschließenden Arbeitsgang zusammengefügt, bearbeitet und schließlich herausgegeben hat. Ausschlaggebend konnte nur der Gehalt des vierteiligen Buches sein. Und das Ergebnis zeigt, wie gut der „Scriptor“ seine Bibel kennt und wie vertraut ihm aber auch Texte der Philosophie wie der Kirchenväter gewesen sein müssen, nicht zu vergessen Bernhard von Clairvaux, um einer solchen Arbeit gewachsen zu sein. Dazu bemerkt Johanna Lanczkowski: