Wolfgang Kehl
„Karl May“, das ist ein vieldiskutiertes Thema, das nach siebzig Jahren noch nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. In der folgenden Artikelserie werden wir uns mit Mays großem Sozialroman, dem „Verlorenen Sohn“, beschäftigen. Wollen wir diesem Werk und den damit verbundenen Problemen nur annähernd gerecht werden, müssen wir uns als erstes ein Bild von allen fünf Mammutromanen des Schriftstellers machen und die wichtigsten Kennzeichen skizzieren. Mays Lieferungsromane sind nach dem Vorbild der Geheimnisromane geschrieben (Dumas: „Der Graf von Monte Christo“, Sue: „Die Geheimnisse von Paris“). Ein Kapitel des „Waldröschen“ von May spielt auch in Paris. Überhaupt hat er sich in diesem seinem ersten und dem zweiten Roman „Die Liebe des Ulanen“ noch sehr an die für die damalige Zeit üblichen Motive des Kolportagethrillers gehalten. Bedingt durch das damalige Gesellschaftssystem sind die in den Lieferungsromanen verwendeten Motive daher auch zu seiner Zeit ungewöhnlich populär gewesen. Inzwischen hat sich die Gesellschaft jedoch verändert, was zur Folge hat, dass diese Romane nur noch für so manchen Sammler und für Wissenschaftler Auskunftswert auf vielen Gebieten besitzen. Für diese Motive gibt es sowohl äußere als auch innere Vorlagen. Bei den äußeren handelt es sich um bestimmte Gegenden der Erde, z.B. Paris bei Sue und May, eine einsame Insel bei Dumas und May (Mays Roman „Die Juweleninsel“, geschrieben 1880, erinnert stark an den Grafen von Monte Christo, der wohl seit frühester Zeit zu Mays Gedankengut gehörte), ferner die wilde Landschaft, in der die Indianer lebten, wo sich der Schriftsteller seine Vorlagen vor allem bei Ferry holte und im „Waldröschen“ gleich alte indianische Hochkultur mit hineinverwob, ein Zeichen, dass er nicht oberflächlich sein wollte. Hier können wir die Verbindung herstellen zum in der Urfassung vielbändigen Werk „Die Jagd auf den Millionendieb“. Dort erscheint nämlich Professor Vitzliputzli, dessen Name vom aztekischen Kriegsgott Uitzli Opochtli hergeleitet wird. Es existiert also selbst in solchen (für „Krüger Bei“ nebensächlichen) Kleinigkeiten ein Band zwischen Kolportageroman und Reiseroman. Gert Ueding hat das in seinem Versuch über „Kitsch und Kolportage“ dargelegt: Zwischen Lieferungswerken und Reisewerken Mays gibt es keinen absoluten Bruch. Ich selbst bin der Auffassung, dass überhaupt kein Bruch besteht. Wollen wir genaue Untersuchungen anstellen, müssen wir die inneren Motive betrachten. Darunter verstehe ich den Ablauf von auslösenden Handlungen in Tateinheit mit den damit verbundenen Wirkungen, Folgen und abgeleiteten Nebenabenteuern. Als handlungsstiftend wird dabei immer ein Verbrechen oder eine Intrige benutzt, die von einem oder mehreren Verbrechern in der Maske biederer Bürger in Szene gesetzt wird. Erst wenn durch diese Ränke, die meist bis zum Mord gesteigert werden müssen, die langmütigen Edelmenschen die Geduld verlieren, kann die Handlung fortgeführt werden. Die Verwicklungen um die menschliche Gesellschaft werden dann bis zum „Nichtmehrweitergehen“ getrieben. „Das Geheimnis der menschlichen, das ist für Karl May trotz aller Aristokratisierungstendenzen – selbstverständlich der bürgerlichen Gesellschaft, besteht für die Kolportage darin, dass ohne Verbrechen das Abenteuer in dieser Gesellschaft nicht mehr möglich ist. Das ohne Gesetzesbruch initiierte Abenteuer findet immer in exotischer Feme statt…“ (Ueding, S. 89). Das ist ein neuer Beweis für den nicht vorhandenen Bruch in Mays Werken: Die Reiseerzählungen in exotischer Feme werden immer durch ein Verbrechen ausgelöst, das die im Anschluss daran stattfindende Reise nötig macht. May gibt sich also mit einer Verlagerung ins Exotische nicht zufrieden, das Verbrechen muss mit. Die Anhängsel der Kolportage verfolgen den Schriftsteller bis auf die fernsten Inseln der Südsee. Welche Verdichtung des Abenteuers dadurch erreicht wird, kann in diesem kleinen Rahmen hier nicht untersucht werden.
Während bei den Reiseromanen lange Expositionen der Handlung vorangestellt sind, glänzen die Einleitungen in die Lieferungsromane durch ihre Kürze, im Waldröschen genau ein Satz. Die Handlung ist immer schon vor Beginn des Romans im Gange. Dieser beginnt mit dem Eintritt der Personen, die in der Handlung auf Grund der Motivwahl benötigt werden. Von einer unsichtbaren Regie werden diese Personen dann wie Marionetten vor einer Kulisse hin und hergeschoben. Die Helden sind beliebig austauschbar. Erst später erfahren die Spieler und der Leser durch Dialoge und Rückblenden, was sich vor ihrem Eintritt in das Geschehen ereignete. Die Handlungsfäden im Kolportageroman sind deshalb oft unterbrochen, werden abgelöst von anderen Ereignissen, die nur zum Teil zur Haupthandlung gehören. Wäre der Mensch so konstruiert, dass das Wissen und die Erfahrungen in der Erbmasse ihren Niederschlag fänden, – Karl Sternau wüsste z.B. sehr genau über die Vergangenheit seiner Familie Bescheid, d.h. es gäbe keine Geheimnisse mehr. Der Roman würde sich in Luft auflösen. Dies kann und darf natürlich nicht geschehen. Im Gegenteil, menschliches Handeln wird zum Teil so verfälscht, dass keine frühzeitige Lösung entstehen kann.
Der bedeutendste der fünf Lieferungsromane ist „Der verlorene Sohn“. „Das Sujet vom verlorenen Sohn“ hat den Schriftsteller Karl May von Anbeginn an fasziniert“ (Klaus Hoffmann im Vorwort zur Reprint Ausgabe). Vor allem die Gedanken an sein eigenes Leben und ihn manchmal überkommende Resignation veranlagten May, sich schon vor seinem dritten Roman (1883/85) mit diesem Thema zu beschäftigen. Zwei Fragmente blieben erhalten. „Der verlorene Sohn“ (ca. 1870) und „Hinter den Mauern“ (ca. 1876). Ebenfalls schon zum Thema gehört das Kapitel „Der verlorene Sohn“ im „Waldröschen“. Der Reiz des Motivs und der innere Zwang, schwere Erinnerungen loszuwerden, trieben Karl May dabei vorwärts. Doch nicht die Abenteuerlust eines Karl Sternau ist es, die May in Wahrheit treibt, sondern er ist ein Sozialgeschädigter, der nur in Sachsen bleibt, weil er als Vorbestrafter keinen Auslandspass bekommt. So wandert er wenigstens geistig und seelisch nach Amerika aus gilt, dass die Abenteurer in Mays Romanen ausnahmslos sich ihrer heimatlichen Umwelt entfremdeten und auszogen, um in der Feme das Glück, welches das Abenteuer gewährt, zu suchen. Draußen, fern jeder Sicherheit und Bevormundung, entwickeln sie sich zu den verantwortlichen, autonomen Individuen, die sie daheim nicht sein durften oder konnten“ (Ueding, S. 91/ 92). Die Entfremdung trifft nur mit Vorbehalt auch für den „verlorenen Sohn“ zu und trennt ihn so von den anderen Romanen. Ohne selbst schuld daran zu sein, entfremdet sich Gustav Brandt von Gesellschaft und System seiner Heimat. Er wird ausgestoßen, es bleibt ihm nur die Flucht. Nun müssten nach gewohntem Muster eigentlich die Haupthandlung einsetzen und seine Entwicklung in der Fremde schildern. Das ist aber nicht der Fall. Wir erleben keine Neuauflage von Karl Sternau. Zwar hat auch Brandt manches Abenteuer in der Fremde zu bestehen und bringt es sehr weit, als Fürst von Befour kehrt er zurück, aber das erfahren wir nur durch kurze Andeutungen im Gespräch. In der Maske des Fürsten des Elendes und des Vetters Arndt versucht er seine Unschuld zu beweisen und den wirklichen Mörder zu überfuhren. Dabei kristallisiert sich der Mörder noch am Tatort heraus, allerdings nur für den Leser. Wir denken an die Kriminalserien der neuesten Zeit, wie z.B. „Derrick“. Der Mörder ist von vornherein bekannt, der Kommissar hat die Aufgabe ihn zu entdecken. Das Ganze ist ein Psychospiel. Karl May, dem ich hier ein achtungsvolles Wort für die gezielte Einsetzung künstlerischer Stilmittel sagen möchte, hat bewusst einen psychoanalytischen Roman geschrieben, die Analyse seiner eigenen Psyche nämlich. „Der verlorene Sohn“ ist seine persönliche Resozialisierungsgeschichte, Mays Wunschtraum vom eigenen Sturz und Erwachen. Daher ist es gar nicht verwunderlich, dass wir ihm in diesem Roman immer wieder begegnen, zuerst in Gustav Brandt. In anderen Episoden treffen wir ihn in Waldheim und Chemnitz, der geschilderte Uhrendiebstahl ist fast identisch mit dem de facto Erlebten. Wir erfahren Einzelheiten über Mays Entlassung und die Art der damaligen Polizeiaufsicht und schließlich auch über sein Verhältnis zu Münchmeyer und seine Tätigkeit als Redakteur 1875- 77 für ihn. Dieser Roman bringt, wie oben angedeutet, einige Abweichungen in der Darstellungsweise im Vergleich zu den vorhergegangenen. So verzichtet May nun völlig auf die schemahafte Verwendung fremdländischer Örtlichkeiten; er greift zur Realität. Ohne Namen, aber mit genauer Beschreibung, schildert er die Schauplätze der Handlung und das Wesen und Leben der Menschen. Die Eindrücke und Erfahrungen, aus denen er schöpft, hat er in seinem eigenen Heimatort gesammelt, in Hohenstein-Ernstthal, und manche Namen im „verlorenen Sohn“ erinnern daran (Rote Mühle etc.). Ebenso fehlt jede Vorherbestimmung der Handlung durch frühere Geschehnisse, der Roman beginnt mit seiner zeitlich frühesten Erzählung. „In den Handlungsablauf flocht der Autor … sein eigenes Schicksal ein: Karl May konnte sich diesem autosuggestiven Zwang nicht entziehen und schrieb ein autobiographisch hochinteressantes Romanwerk“ (Klaus Hoffmann). Aber auch im Vergleich mit anderen, ähnlichen Romanen weist „Der verlorene Sohn“ Unterschiede auf, die bereits im „Waldröschen“ und in „Die liebe des Ulanen“ an die Oberfläche gedrungen waren. May hat es später in anderem Zusammenhang die „Menschlichkeit der Menschen“ genannt. Er selbst verspürte diese Grundströmung seiner Werke jedoch nicht, als man ihn zum Verbrecher stempelte. Sie tritt deutlich hervor, da er sie mit Hinweis auf die Armut zum Verbrechen stärker in Kontrast setzen kann. Zwar erreicht der Fürst des Elends immer rechtzeitig die Darbenden und reicht ihnen helfend die mit Gold gefüllte Hand, aber die heile Welt von Rheinswalden ist dahin. Nur die erste Seite des „verlorenen Sohnes“ könnte auch die Vermutung aufkommen lassen, auf Schloss Hirschenau sei alles in Ordnung. Der Schein trügt, denn das Gegenteil ist der Fall. Es werden mehrere Personen vorgestellt, die sich mit den gegenwärtigen Verhältnissen nicht zufriedengeben wollen: Baron Franz, Erbschleicher und Neffe des Schlossherrn, Zofe Ella, ehrgeizig und intelligent, ihr Bruder, der grausame Anführer der Schmuggler, und nicht zuletzt Gustav Brandt, der aufstrebende Polizist und Milchbruder Almas, der die Pascher zur Strecke bringen will. Alma von Helfenstein ist ein Lichtblick im Ganzen, sie steht über allem und versucht, Wärme in die kalten Mauern des Schlosses zu tragen. Doch sogleich wird das Licht von den Wolken verschluckt, die über Hirschenau aufziehen.
„Es war ein reizendes, kleines Damenboudoir…“ Mit diesen Worten beginnt Karl May einen dritten, für Münchmeyer bestimmten Roman. Versetzen wir uns einmal in die Welt eines Lesers der damaligen Zeit, besonders aber in die eines Bewunderers des vielgefahrenen Kapitän Ramon Diaz de la Escosura. Wie unvergleichlich spannend und abendfüllend sein Waldröschen gewesen war! Wenn man nach zwölfstündiger, harter Arbeit müde daheim ankam und nach dem Abendessen die Zeitung durchlas, freute man sich schon auf das neue Fortsetzungsheft, das die Ehefrau gleich am Erscheinungstag gekauft hatte. Wie mag der neue Roman aussehen? Er schlägt die erste Seite auf. Unter einer reißerischen Überschrift („Ein Doppelmord“) wird zunächst einmal Familienglück und trautes Heim produziert. Der Leser lächelt. Auch er hat vielleicht Kinder und sein kleines Heim. Er liest. Er träumt das Schloss, über das er eben las. Wie würde sein Leben in einem solchen Schloss wohl verlaufen?
Die Schilderung der jungen Frau mit Kind zu Beginn der Erzählung erinnert an Mays Bearbeitung des „Waldläufers“ auf S. 22, Bd. 70 der Gesammelten Werke, heißt es: „An einer Wiege saß eine junge, wunderschöne Frau und blickte mit liebestrahlenden Augen auf den Knaben, der darin schlummerte.“ Das Damenboudoir mit dem Kind in der Wiege oder auf dem Schoße ist ein beliebtes Requisit der Kolportage. Diese Szene existiert auch schon bei Ferry’s „Waldläufer“ und ist dort ebenfalls in bester Art der Kolportageschriftsteller auseinandergezogen, aufgebauscht und mit den bekannten „Weitschweifigkeiten“ versehen. Zum Ausdruck kommt dies in den ewigen Wiederholungen verschiedener Redewendungen und Ausschmückungen wie z.B. „…deren zärtlich kosende Worte von einem wunderbar weichen und herzigen Wohlklang waren…“ und „…mit dem sie jenes rührende, wohlklingende Zwiegespräch hielt…“
Ferner zeigt es sich, dass mit laufenden Wiederholungen von Schlagworten, wie „wunderbar, zärtlich, lieblich“, eine bestimmte Atmosphäre erzeugt werden soll, die dem Schriftsteller der Kolportage auf andere Weise nicht gelingen kann. Zudem wird eine Schilderung dem ungebildeten Leser durch Wiederholungen besonders gut eingeprägt. Dadurch verflacht selbstverständlich der Stil des Schriftstellers.
Ebenfalls typisch ist die Lage des Schlosses, dessen Name vorläufig nicht genannt wird. Genau wie sich May in der Einleitung zum „Waldröschen“ nur vage über die Gegend äußert, so hier nur unbestimmt über das Schloss. Aber eines fehlt nicht: einen Ausblick auf den Wald, welcher ringsum das Schloss umgab mit seinen dichten Föhren…“ Wo stand denn schon einmal ein solcher Wald? Ach ja, Schloss Ortry aus „Liebe des Ulanen“ von Karl May. Wie kommt Escosura/May nach Ortry? Dem Leser der damaligen Zeit war diese Identität nicht bekannt. Einen weiteren Hinweis auf die „Liebe des Ulanen“ bieten die „frischen Lippen, deren sattes volles Rot kaum von der Farbenpracht einer im Aufbrechen begriffenen Granate erreicht werden konnten.“ Ein Deutsch zum Fürchten! Damit ist die wunderbar zärtliche, sinnliche Einleitung, die in starkem Kontrast zur Kapitelüberschrift steht, abgeschlossen. Mit dem Eintritt der Zofe beginnt die nächste Szene. Förster Brandt wird angemeldet. Baronesse Alma erhebt sich, der Autor beschreibt sie, verweist auf eine bestimmte Körperstellung. Die königliche Gestalt kommt im Hausgewand voll zur Geltung (alle Rundungen zeichnen sich deutlich ab). Im Gegensatz zu „Liebe des Ulanen“ fehlt die letzte Bemerkung hier. Doch sind im „verlorenen Sohn“ die bekannten „Lüsternheiten“ ebenso festzustellen, wenn auch nicht in dem Maße wie in „Liebe des Ulanen“, der eine ist eben ein Sozialroman, der andere eine Liebesgeschichte, sozusagen die liebe in der Geschichte nach „Die Liebe nach ihrer Geschichte“, einem Aufsatz aus „Schacht und Hütte“. Die „unsittlichen Stellen“ müssen mit Vorsicht betrachtet werden, da ca. fünf Prozent der May’schen Lieferungswerke verändert wurden. May selbst hat keine „unsittlichen“ Romane geschrieben! Wenn Kritiker und Literaturästheten anführen, dass die bekannten Stellen stilistisch einwandfrei von May sind, so muss ich dem entgegenhalten, dass ebenso die Bearbeitungen der Lieferungsromane, also etwa die Bände 51- 68 der Gesammelten Werke, im selben Sinne von ihm stammen. Man hat nur seine Einleitungen und Belehrungen durch weitere geographische und ethnologische Momente ergänzt, Umständlichkeiten und Schwülstigkeiten weggelassen, ganz in seinem Stil. Auf dieselbe Weise wären andere Leute in der Lage, seine Werke zu ergänzen oder zu kürzen, ohne den Stil zu brechen. Im Nachwort zur Reprint Ausgabe des „Waldröschen“ zeigt Klaus Hoffmann auf, dass der Stil Karl Mays förmlich dazu verleitet, Interpolationen vorzunehmen und dadurch erotische Aussagen zu verstärken.
Ein Vergleich mit einem anderen Schriftsteller, nämlich Paul Staberow, fördert einen erstaunlichen Gesichtspunkt zutage. Paul Staberow wurde 1855 in Stettin geboren und starb 1926. Er veröffentlichte seit 1880 Romane, die teilweise sehr bekannt zu seiner Zeit wurden: „Kloster Marienberg oder Die Schrecknisse der Irrenzelle“ (1895), „Aus dem Sumpfe der Großstadt“ (1909) und „Verbotene Liebe“ (1911) wären als die bekanntesten anzuführen. Bei Münchmeyer erschien 1897 der Lieferungsroman „Komtess Ilse oder Das Opfer des Arztes“. Staberow, der auch unter den Pseudonymen „Paul van Haff“ und „Eugen Bernard“ schrieb, hatte vom Münchmeyer-Nachfolger Fischer die Aufgabe übertragen bekommen, die May’schen Lieferungsromane für eine Neuausgäbe zu überarbeiten. In Romanen Staberows, dessen Stil dem Mays durchaus ähnlich ist, sind fast identische Schilderungen weiblicher Reize festzustellen. Überhaupt beginnt die „erotische Epoche“ des Verlages Münchmeyer erst mit dem Eintritt eines undurchsichtigen Charakters: Walther.
Wenden wir diese Überlegungen auf die oben geschilderte Stelle an, so fällt uns auf, dass sie eher von May stammen könnte als vom Bearbeiter. Denn Mays Stil ist durch intensive Beschreibung der Charaktere gekennzeichnet, wozu auch erotische Feinheiten gehören. Er, der immer sehr plastisch schildert, schreibt auf, was er mit geistigem Auge sieht. Dementsprechend erstreckt sich seine Schreibweise nur auf die Schilderung von Anblicken und Ansichten, wobei auch hier durch Einfügungen vom Bearbeiter Verstärkungen vorgenommen worden sein können. Alle Passagen aber, die mehr beinhalten als das bloße Ansehen, etwa das Betasten eines Busens („Waldröschen“) oder Peitschenhiebe auf den angespannten Unterleib eines Knaben (VS), dürfen mit Sicherheit als nicht von May stammend angesehen werden. Sie entspringen einer perversen Phantasie, und das, was verschiedene Kritiker May anlasten, er sei homosexuell und sadistisch-masochistisch veranlagt gewesen, trifft mit größter Wahrscheinlichkeit auf seinen Bearbeiter im Münchmeyer-Verlag zu, doch wäre dies noch zu überprüfen. Es wäre überhaupt wünschenswert, wenn man noch weitere Einzelheiten über Walther erfahren könnte. Ohne die Kolportageromane wären solche Stimmen auch erst gar nicht laut geworden. Ich hoffe, dass meine Darstellung zeigt, welch großen Fehler ein anerkannter Schriftsteller wie Arno Schmidt begangen hat.
Mit Förster Brandt wird uns ein heimischer, gutbürgerlicher Charakter vorgestellt. Er ist von höher, aber kräftiger Gestalt. Sein Gesicht, vom Wetter gegerbt und gebräunt, zeigt jene ehrlichen und treuen Züge, welche Leuten seines Standes häufig eigen zu sein pflegen. So charakterisiert May den Typ des Försters und ergänzt ihn im zweiten Teil „Die Sklaven der Arbeit“ durch Förster Wunderlich. Es ist dabei ein Fortschritt gegenüber der Kolportage zu bemerken. Während „Papa Brandt“ als der Förstertyp dargestellt wird, dessen Äußeres die inneren Werte verrät, ist Förster Wunderlich ein rauer, unnahbarer Mann, aber unter der äußeren Schale verbirgt sich ein tiefes, wohlwollendes Gemüt, das durch die kameradschaftliche Anwendung des „Du“ erst richtig hervortritt. Diese Feststellung trifft der Autor am Schluss der Unterhaltung zwischen Wunderlich und Eduard. Es handelt sich also um die Zusammenfassung eines Bildes, das sich der Autor, aufgrund des Dialogs, von dem Förster und für den Leser macht. Anden Förster Brandt, bei dem der Charakter vorurteilsmäßig bestimmt ist und das nachfolgende Gespräch damit in Einklang gebracht werden muss. Fazit: Erstes Anzeichen eines schriftstellerischen Aufbruchs. Was noch am Beispiel des Försters Brandt auffällt: Brave Menschen besitzen ein erstaunliches Erkennungs- und Einfühlungsvermögen, bei den Reiseerzählungen „Scharfblick“ genannt. Ein zweites Unding neben der Vorherbestimmung der Menschen für Gut und Böse, einfacher Mensch – lauterer Charakter, ist die fehlende Charakterentwicklung der Personen. Diese kann dazu führen, dass Charaktersprünge entstehen. So ist der Herzog von Olsunna im „Waldröschen“ zuerst ein mädchenverführender Draufgänger, später ein in sich gekehrter Büßer. Sprünge sind nur dann logisch, wenn zwischen beiden Schilderungen ein größerer Zeitabschnitt liegt: Jugend – Alter. An dieser Stelle muss ich Gert Ueding kritisieren, der gerade am Beispiel des Herzogs die fehlende Entwicklung als Fehler ansieht. Für den Leser jedenfalls ist es klar, dass die eine Episode Olsunna in seiner Jugend zeigt, die andere dreißig Jahre danach. Beide sind signalhafte Einblendungen in die Haupthandlung. Was dazwischen liegt, braucht vom Autor nicht gesagt zu werden. Ein weiteres Beispiel ist der „Schwarze Gerard“. Ihn lernen wir (WR) zuerst als Garroteur in Paris kennen, wo er uns als Verbrecher begegnet, ein Kind der Armut, aus dem tiefsten Proletariat stammend. Ohne Übergang taucht er als Präriejäger dann in Amerika auf, wo er menschlich engagiert auf der Seite des Indianers Juarez steht. Eine Begründung dieser inneren Wandlung, wie sie notwendig wäre, wird vom Autor nicht geliefert. Sie wäre jedoch gerade beim Schwarzen Gerard im Gegensatz zu Olsunna notwendig, weil letzterer nur noch die Rolle des genesenden Schwiegervaters zu spielen hat, der im Hintergrund bleibt, während der Schwarze Gerard aktiv am Fortgang des Geschehens beteiligt ist und die Handlung günstig beeinflusst, zudem noch eine seelische Weiterentwicklung mitmacht, die von edlen Motiven geleitet ist. Wer den bereits erwähnten Lieferungsroman „Die Geheimnisse von Paris“ von Eugene Sue gelesen hat, der erkennt beim Lesen des „Waldröschens“, dass der Schwarze Gerard ein fast getreues Abbild des „Schurimann“ ist. Schurimann (Messeimann), ein geachtetes Mitglied der Pariser Unterwelt, ist im Grunde genommen der May’sche Typ des unterschwelligen Edelmenschen. Er hält nichts vom primitiven Banditentum und wäre nie dazu fähig, seinen Mitmenschen auch nur ein Brot zu stehlen. Die Umwelt hat ihn zu dem gemacht, was er ist. Er verdingt sich als Tagelöhner, doch reicht der Lohn nicht aus, sein Leben zu erhalten. Deshalb zwingt er andere Angehörige der untersten Volksschicht durch Drohungen, ihm Essen oder Trinken zu zahlen. Im Rausch hat er einst einen Offizier erstochen und fünfzehn Jahre abgesessen. Über eine Rauferei lernt Schurimann den Herrn Rudolf kennen, der sich später als Fürst entpuppt (wir denken an Mays „Herrn Ludwig“ im „Weg zum Glück“), in ihm findet Schurimann seinen Meister. Er wird zum Beschützer Rudolfs und rettet ihm zweimal das Leben. Beim zweiten Mal aber stirbt er durch die Waffe, die er einst gebrauchte, durch den Dolch. Sein Tod ist eine Sühne. Ebenso hören wir im „Waldröschen“ den Schwarzen Gerard von düsteren Vorahnungen sprechen, deren Verwirklichung er als Erfüllung seines Lebenszieles ansieht. Trotz seiner Liebe zu Resedilla Pimero sucht er als Sühne für die Vergangenheit den Freitod. Aber bei May triumphiert die Liebe über die Tragik, auf die Gefahr hin komisch zu wirken. Der Schwarze Gerard wird zwar schwer verwundet, überlebt jedoch. Außerdem fehlt bei ihm die Bindung an eine Autoritätsperson, wie es Rudolf bei Schurimann war. Dafür fällt uns bei May eine anders gelagerte, aber ebenso geheimnisvolle Bindung auf: Das Verhältnis des Wurzelsepp zu seinem König, dem Herrn Ludwig. Gegen Ende der Abhandlung werden wir nochmals auf Sue zu sprechen kommen.
Gustav Brandt ist ein Ritter ohne Furcht und Tadel. Kein Makel haftet an ihm. Er ist das Idealbild des Helden, der durch eigenes Verschulden nicht von dem Denkmal herabstürzen kann, das man ihm bereits zu Lebzeiten baut. Einer separaten Abhandlung muss es Vorbehalten sein zu untersuchen, inwieweit Karl May den Helden der Kolportage noch vervollkommnet hat. Durch die Märchenerzählungen seiner Großmutter, die die ersten Ansätze von Mays Charakter formten und die verderbliche Auswirkung jener Wirtshausliteratur, die seinen reifenden Verstand vergiftete, seine Traumwelt der Märchen verfälschte und so dem phantasiebegabten Jungen ein falsches Weltbild aufzwang, ist der Autor zur Kolportage vorherbestimmt. Das meint jedenfalls Münchmeyer, der sich in der Vergangenheit seines Autors genau auskannte. Was macht nun May aus Gustav Brandt? Ist es nicht offensichtlich, dass der Schriftsteller nach Erkennen seiner eigenen Unzulänglichkeit danach drängte, seine Phantasie ein Idealbild ausarbeiten zu lassen in der Art, wie er sich selbst gern gesehen und seinen Mitmenschen dargestellt hätte! So fühlt Karl May und so ist gerade er besonders dazu bestimmt, Idealfiguren erstehen zu lassen, die von Werk zu Werk deutlicher herausgearbeitet werden. Hier ist es Gustav Brandt. „Es war die Photographie eines Jünglings mit schönen, hochinteressanten, geistreichen Zügen. Seine großen, dunklen Augen sprachen ebenso wohl von einer tief empfindenden Seele, wie von einer eigenartig ausgeprägten und hoch ausgebildeten Intelligenz“. (VS, S.8) „Sein Gesicht glich ganz der Photographie… Er war bereits jetzt höchst interessant und versprach, ein schöner Mann zu werden“. (VS, S. 18)
So stellt sich May den Jüngling mit neunzehn Jahren vor und beginnt, sein eigenes Schicksal aufzurollen. Wie ernst er es meint, zeigt ein Vergleich der Gesichtsbeschreibung Gustav Brandts und Mays, die bis zur vollständigen Identifikation reicht. Auch Karl May wurde nach seinem Tode anhand einer Photographie beschrieben: „Ich sehe da männliche Schönheit und einen glücklichen Ausgleich zwischen Geist und Gemüt, sehe um Augen und Mund einen Zug von Güte, mit Schalkheit gepaart, freilich auch einen etwas weichlichen, schmerzlichen, wehmütigen Zug, der viel stilles Seelenleid verrät“ (Ludwig Gurlitt, GW Bd. 34, S. 523,28. Aufl.). „Der Ausdruck der Augen… zeigt… große Herzensgute und Weichheit, Hilfsbereitschaft und Stimmungen gütiger Liebesfähigkeit…“ (L. Gurlitt, a.a.O., S. 525). Ein glücklicher Ausgleich zwischen Geist und Gemüt, schöne und geistreiche Züge, die Augen voll Herzensgüte und tiefer Empfindung. Dies ist der Eindruck, der uns hier von Karl May vermittelt wird. Die Reflexion geht jedoch noch einen Schritt weiter. Sie spricht von einer eigenartig ausgeprägten Intelligenz. Solche Ehrlichkeit ist verblüffend, aber leicht zu verstehen, hat May doch sein Selbstbildnis aus der Empfindung heraus geprägt, nicht vor dem Spiegel. Dies spricht für ihn. Denn wovon zeugen seine ganzen „Taten“ in Sachsen, seine Old Shatterhand-Streiche, als von einer eigenartig ausgebildeten Intelligenz, die nur unter Zuhilfenahme der Seele erfasst werden kann, da sie im Reich der Phantasie ihre Wohnung hat, der Phantasie des Tagträumers May. Nur so ist diese Stelle zu verstehen, an welcher er das Gleichheitszeichen setzt zwischen sich und Gustav Brandt, ein Hinweis, dass das folgend Geschilderte mit Aufmerksamkeit auf Selbsterlebtes hin geprüft werden muss.
Wie so oft sind es Liebe und Hass, die das Handeln der Menschen bestimmen. Manchmal sind sie gepaart mit Eifersucht. Das Stichwort ‚Bräutigam“ treibt Gustav hinauf nach dem Tannenstein, wobei er ungewollt zwei Pascher belauschen kann und so Wichtiges über den nächtlichen Coup erfährt. Als er Alma dann zu Gesicht bekommt, gerät er ins Schwärmen. Mit entzücktem Auge ruhte sein Blick auf der Gestalt des schönen Mädchens. Nur im Zusammenhang mit seinen Wunschträumen, der Sehnsucht nach dem Edlen, Makellosen, ist der Vergleich mit den Feen und Engelsgestalten der Märchen zu verstehen, die Vorzüge aller irdischen Frauen vereinen sich in dieser einen Person, Alma. Sie ist in ein weißes Gewand gekleidet, wie später Marah Durimeh, ihre Haare leuchten goldblond, die Augen azurblau. Er mag tatsächlich an einen Engel gedacht haben, obgleich die goldenen Haare, das weiße Kleid und die Augen eher an die Goldmarie aus dem Märchen „Frau Holle“ erinnern. Märchenhaft müssen diese Schilderungen auch bleiben, wenigstens für May. Denn er wird den Gedanken nicht los, dass er sich in seinem Lebensglück geirrt hat. Nach den ersten Enttäuschungen mit Emma drängt es ihn, diesen Namen nicht mehr hoffnungsvoll wiederzugeben, wie er es im „Waldröschen“ noch tat. Der Name wird entstellt in Ella, das fern summende „mm“ ist vom Vulgären verdrängt. Entsprechend negativ stellt sich der Charakter der Zofe dar, da der Schriftsteller es langsam leid wild, seine Frau für seine Arbeit zu begeistern. Im Band 65 GW wird ihr Name seltsamerweise sogar zu Nora verfälscht. Umso wohlklingender fällt der Name der Heldin aus, Alma, die Nahrungsspendende, wie die Übersetzung des lateinischen Wortes heißt. An welche Nahrung der Schriftsteller bei dieser Wahl gedacht haben mag, kann man nur verraten, vielleicht an die Nahrung der Liebe, die ihm nicht beschert war. Fast scheint es wahrscheinlich, wenn man die Beschreibung Almas liest und daran denkt, dass May mit einem Namen immer ganz bestimmte Vorstellungen verband.
Gustav Brandt will zu Alma hin, doch er, der edle Charakter, zaudert bei diesem hoheitsvollen Anblick. Da wird die Stille brutal unterbrochen. Franz von Helfenstein erscheint auf der Bildfläche und der Teufelskreis der Fluch bringenden Untat nimmt seinen Anfang. Die erste packende Szene ereignet sich. Franz will die liebe Almas mit Gewalt erzwingen und ruft den Retter auf den Plan. Der Hüter des Grals erscheint. „Mensch, wollen Sie fort – oder hier hinunter?“ Der Baron muss weichen, noch reicht die Schwere der Untat nicht aus, über das Gute zu triumphieren, aber er beschließt, sich zu rächen. Als Belohnung für seinen Mut und die Ehrenrettung erhält nun Gustav den ersehnten Kuss. In diesem Moment erscheint Almas Verlobter, der Hauptmann von Hellenbach. Er wird Zeuge des Kusses. Ein aufklärendes Wort würde die Situation bereinigen, der Doppelmord im Sinne Franzens wäre hinfällig, da ihm der „Aufhänger^* fehlen würde. Der tätliche Angriff des Hauptmanns verhindert das, er verhilft vielmehr Franz zu der Idee, wie an das Erbe heranzukommen sei. Warum wendet May diesen Kunstgriff gerade hier an? Diese Frage kann nicht hundertprozentig beantwortet werden. Vielleicht ist es der innere Zwang, als Vorstufe zum Mordverdacht gerade die für ihn typische Art des Unrechts entstehen zu lassen. Das Motiv unverdienter Zurechtweisung und Strafe kennen wir aus des Schriftstellers eigenem Leben. Im Alter von neunzehn Jahren wurde er wegen eines Uhrendiebstahls, der kein Diebstahl war, zu sechs Wochen Haft verurteilt. Darauf wurde ihm die Lehrerlaubnis entzogen. Alle Opfer seiner Eltern, die ganze Ausbildung, waren umsonst gewesen. Er war moralisch unmöglich gemacht. Im VS ringt er sich nun zu einer Rechtfertigung durch. An sich ist es keine Rechtfertigung, die hat er als Unschuldiger nicht nötig, sondern er zeigt den Fehler auf, den die Umwelt an ihm begangen hat. „Und Sie, Herr Brandt, sind ein Undankbarer, der nicht wert ist, dass man ihn anblickt…“, sagt Almas Vater zu Gustav. Er macht seine Äußerung im Affekt, nicht bedenkend, dass eine solche Entehrung seiner Tochter dem jungen Brandt gar nicht zuzutrauen ist. Eigentlich müsste er ihn, als sein zweiter Vater, ja gut genug kennen. Ebenso müssten dem Hauptmann klar sein, dass der Kuss nicht das von ihm vermutete Zeichen der Rivalität ist. Aber Gustav und Alma sind eben keine leiblichen Geschwister.