Verfolgt man die Entwicklung der „Indianergeschichten“ Karl Mays, so müssen auch die „Westmänner“ und die Hauptperson, der Erzähler, mitberücksichtigt werden. Wie bereits erwähnt, weiden auch diese Figuren noch ständig „geformt“.
In der ca. 1877 erschienenen Erzählung „Die ,Both Shatters’“ sind einige interessante Einzelheiten enthalten. Die beiden Westmänner, die hier als die „Two Sams“ auftreten, begegnen uns später als die beiden „Toasts“ wieder, Dick Hammerskull und Pit Holbers (vgl. z.B. Old Shurehand 2, S. 601 ff, Illustr. Ausgabe, Fehsenfeld). Interessant ist, dass einer der beiden eine Perücke trägt, weil er wie Sam Hawkens von den Indianern skalpiert wurde. Die Informationen über den Erzähler sind zwar auch hier noch spärlich, doch können wir folgendes festhalten: Der Erzähler reitet wieder sein Pferd „Swallow“, das uns schon aus der Erzählung „Old Firehand“ bekannt ist, durch den schnellen Ritt aus dem brennenden Tal. Zudem ist die Ich-Person ebenfalls mit einem fünfundzwanzigschüssigen Henrystutzen ausgerüstet, so, dass wir annehmen können, es handelt sich bei diesem „Westmann“ um die gleiche Person wie aus der Firehand-Erzählung. Der Stutzen wurde diesmal von Jake Hawkins in St. Louis gefertigt, der auch die beiden Revolver für den Erzähler baute. Über die Waffen in Karl Mays Romanen wird später eine ausführliche Abhandlung folgen, hier soll zunächst nur der Hinweis auf die Bewaffnung des Erzählers genügen. Als er von den beiden Sams kritisch gemustert wurde, stuften ihn die beiden Westmänner als zu „fein“ für den Westen ein, seine Waffen wurden von ihnen nicht für voll genommen. Ähnliches musste Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi oft erleben, wie sich der May-Leser erinnern wird. Erst die Qualität seines schnellfeuernden Henrystutzens überzeugt die Zweifler. Im Übrigen benimmt sich die Ich-Person noch ganz so, wie wir es aus zahlreichen Indianer-Erzählungen dieser Zeit überliefert bekommen haben, er schießt bedenkenlos seine Feinde nieder. Nachzulesen im Band 71 GW, S. 261: „Vier Schüsse krachten und vier Indianer überschlugen sich…“ Ein anderer wird mit dem Messer „niedergemacht“, zwei Entflohene sofort verfolgt und einer von ihnen mit einem Schuss aus dem Stutzen in den Kopf erschossen (S. 262). Winnetou, von dem der Leser in der Firehand-Erzählung Abschied genommen hatte, wird zumindest wieder als Freund des Erzählers erwähnt. Der Leser erfährt, dass der größte Feind des Apachenhäuptlings, „Schatunga, Häuptling der Yanktons“, einst die Schwester des Apachen tötete, „…weil sie nicht sein Weib, sondern das eines weißen Jägers wurde…“ Trotz des vorher gezeigten harten Auftretens des Erzählers zeigt er starkes Mitempfinden am Untergang der Roten Rasse, als er das Skalplager eines Trappers betritt: „Ich begann die Skalpe zu zählen; zehn – zwanzig – fünfundzwanzig – dreißig – ich hörte auf zu zählen und wandte mich ab.
Ich sah hier ein schlagendes Beispiel von der wilden Energie, mit der gegen eine dem Untergang geweihte und in den letzten Todeszuckungen liegende Menschenrasse der vernichtende Stoß geführt wird. Ich konnte vor Grauen nicht essen, trotz des Hungers, den ich gefühlt hatte“ (S. 269). Eine solche Anmerkung ist jedoch in diesen frühen Indianererzählungen Karl Mays, wie bereits erwähnt, sehr selten.
Erwähnenswert wäre noch die Gestalt eines Mannes, der der „Shatter“ genannt wurde, was mit „Zertrümmerer“ übersetzt wird. Dieser Westmann hatte seinen Namen von seiner Kampfweise erhalten. „Er schlug nicht mit der Schneide, sondern mit dem Kopf seiner fürchterlichen Waffe; (Anmerkung: Es handelt sich um ein Beil) jeder Hieb zerschmetterte den Schädel des Getroffenen unfehlbar in knirschende Stücke“ (S. 272). Es ist möglich, dass Karl May, als er an die „Formung“ seines Helden Old Shatterhand ging, dieses Vorbild wieder aufgegriffen und gemäß der inzwischen erfolgten Wandlung des Old Shatterhand auch seine Waffen änderte. Wie bekannt, schlug Shatterhand mit der bloßen Faust seine Gegner bewusstlos und erhielt auf diese Weise seinen Kriegsnamen. Diese Kampfweise passt auch besser zu dem späteren „Erzähler“, zu der Figur des Old Shatterhand, der eher zum Verzeihen denn zum Töten bereit ist. Im Ganzen betrachtet ist die Erzählung von den beiden „Both Shatters“ nur eine Abwandlung des Firehand-Themas. Man sollte vielleicht noch erwähnen, dass der Anführer dieser Westmänner mit „Cornel“ bezeichnet wird. Man erinnert sich an den „Cornel“ aus dem „Schatz im Silbersee“, der im Gegensatz zu diesem eine Verbrecherbande anführte, die Tramps.
Auch die im Band 71 enthaltene Erzählung „Ein Selfmademan“ spielt in Amerika, hat jedoch einen anderen Inhalt als die bisher erwähnten Geschichten. 1878 wurde sie in den „Frohen Stunden“ abgedruckt. Vom Stil her unterscheidet sie sich schon von den vorher erwähnten insofern, dass der Erzähler den Leser mit einbezieht, als würde er sich direkt mit ihm unterhalten. Das heißt, er spricht den Leser zwischendurch „an“. Erstmalig wird der Name des Erzählers erwähnt: Timm Summerland. Dieser Mann kann jedoch nicht mit den anderen Erzählerfiguren verglichen werden, er ist sozusagen eine „einmalige Schöpfung“ Karl Mays. Summerland trifft Abraham Lincoln und erlebt zwei Abenteuer mit ihm, wobei er sich besonders für seine frühere Freundin, einen Mischling, einsetzt. Von der Veröffentlichung dieser Geschichte bis zum dreiteiligen „Winnetou“ sollten noch rund 16 Jahre vergehen, in denen Karl May hin und wieder die alten Motive aufgriff und umarbeitete, so z.B. das Ölbrand-Thema im Jahre 1883, das Ölprinz-Thema (Der Ölprinz, 1877) für die Jugenderzählung „Der Ölprinz“ 1893. Auch die Erzählung „Der Scout“ (1888) greift einige der alten Themen wieder auf und wird schließlich von May selbst für die erste Hälfte des Bandes „Winnetou II“ umgearbeitet. Auch in dieser Erzählung standen sich der Erzähler und Winnetou anfangs feindlich gegenüber. Nach einem Kampf jedoch wurde daraus echte Freundschaft, und der hier geschilderte Winnetou kommt dem späteren „Edelmenschen“ schon sehr nahe. Zwar ist er auch noch hier ein „richtiger Indianer“, der kämpft und tötet. Der spätere Winnetou hätte Mittel gefunden, das Blutvergießen zu verhindern, doch so erscheint er dem Leser auch noch in der eingearbeiteten Fassung im „Winnetou II, S. 310. Die Wandlung Winnetous zum Christen vollzieht sich für den Leser kaum spürbar mehr im „Hintergrund“ und im Unterschwelligen der Erzählung „Winnetou III“. Für manchen Leser mag daher auch das Bekenntnis des sterbenden Apachen: „Winnetou ist ein Christ“ überraschend gekommen sein. Karl May hat die Wandlung des wilden Kriegers, also des Gewaltmenschen, wie er es später nannte, nicht mit aller Konsequenz durchgeführt. Umso mehr hat er versucht, dies in den späteren Erzählungen, in denen Winnetou wieder erscheint, nachzuholen. May schrieb in einem Brief an seinen Verleger Fehsenfeid (bei: Raddatz, Das abenteuerliche Leben Karl Mays) vom 15.10.1892: „Das, was bis jetzt über Winnetou erschienen ist, könnte später in irgendwelchem Gewand erscheinen; es ist wirklich nicht leicht, diese zusammenhanglosen Einzelerzählungen, die nur für den Mausschatz ‘ berechnet waren, so zusammenzufassen, dass sie als einziger Guss und Fluss erscheinen…“ Aus dem bisher dargestellten kann man schließen, dass May nach Beendigung des Winnetou Komplexes vorerst nicht an weitere Abenteuer mit dem edlen Häuptling gedacht hat, der Leser muss Abschied nehmen, wie schon früher bei den Einzelerzählungen. Dass er (nach der heutigen Ausgabe gemessen) noch in rund 15 Bänden wieder auftaucht (die Bände mit Einzelerzählungen wurden mitgezählt), hatte sich Karl May wohl zur Zeit der Bearbeitung des Romanstoffes (1892) trotz der zitierten Briefstelle nicht gedacht. Eine besonders ausführliche Beschreibung des Apachenhäuptlings finden wir in der Erzählung „Weihnacht“, Bd. 24 (Radebeul, 5970. Tsd.), S. 276 ff.
„Er trug, wie auch ich stets… einen aus Elkkeder gefertigten Jagdanzug von indianischem Schnitt, an den Füßen leichte Mokassins, welche mit Stachelschweinsborsten und seltengeformten Nuggets geschmückt waren… Sein reiches, dichtes, bläulich schwarzes Haar war auf dem Kopfe zu einem hohen, helmartigen Schopf geordnet und fiel von da aus, wenn er im Sattel saß, wie eine Mähne oder ein dichter Schleier fast bis auf den Rücken des Pferdes herab… Einen Bart trug er nicht; in dieser Beziehung war er ganz Indianer. Darum war der sanfte, liebreich milde und doch so energische Schwung seiner Lippen stets zu sehen, dieser halbvollen, ich möchte sagen, küßlichen Lippen…“
In der Erzählung „Am Jenseits“ (Bd. 25) schließlich wird Winnetou als Mensch mit übersinnlichen Veranlagungen dargestellt: „Winnetou, der nüchternste, der hell und scharf denkende rote Mann, war gewiss kein Phantast, aber zuweilen, wenn wir miteinander im nächtlichen Dunkel lagen, rings von Gefahren umgeben, da geschah es, dass er die Hand hob, um grüßend rundum zu winken, und als ich ihn einst fragte, warum er das tue, antwortete er: ‚Mein weißer Bruder frage nicht! Wir sind beschützt, das mag dir genügen!'„ (S. 340) Der Leser wird sich erinnern, wie schwermütig Winnetou vor der letzten Schlacht (W.III) angesichts düsterer Vorahnungen wurde.
Auch muss hier unbedingt Band 33 der Gesammelten Werke, „Winnetous Erben“ erwähnt werden, der früher unter der Bezeichnung „Winnetou IV“ herausgegeben wurde. In diesem Band schildert Karl May, wie er gemeinsam mit seiner zweiten Frau die „alten Stätten“ aufsucht, die „Old Shatterhand“ damals durchstreift hatte und auf das Denkmal stößt, das zu Ehren Winnetous errichtet wurde. Entsetzt musste er feststellen, dass das Denkmal den kriegerischen Winnetou darstellte, so, wie er den meisten Lesern aus den früheren Erzählungen bekannt war. Man hatte also nicht verstanden, was Karl May mit dieser Gestalt wollte! Zum einen sollte der heldenmütige Kampf der Roten Rasse dargestellt werden, die dem Untergang nicht entgehen konnte. Aber zum anderen sollte in den späteren Erzählungen gezeigt werden, wie der Gewaltmensch, der seinen Feind ohne Bedenken tötete, sich mit den blutigen Skalps schmückte, wie dieser Mensch sich zur „Liebe und Barmherzigkeit“ des Christentums bekannte und zum Edelmenschen reifte. Ein Thema, das Karl May besonders in seinem allegorischen Meisterwerk „Ardistan und Dschinnistan“ darstellte.
Karl May und George Catlin
Als ich durch einen Zufall George Catlins „Die Indianer und die während eines achtjährigen Aufenthaltes unter den wildesten ihrer Stämme erlebten Abenteuer und Schicksale“ in der Neuausgabe des Continent-Verlages von 1924 in die Hände bekam, las ich mich sogleich fest. Schon auf den ersten Seiten wurde ich lebhaft an Karl Mays Erzählungen erinnert, und manche vertraute Einzelheit aus dem Leben der Indianer fand sich wieder. Catlin beschreibt im fünften Kapitel einen Schwarzfuß-Häuptling folgendermaßen:
„Es gibt vielleicht, mit Ausnahme der Krähen-Indianer, keinen Stamm in Nordamerika, der sich bequemer und prächtiger kleidet, als die Schwarzfüße… die Näherei und die Verzierungen mit den Stacheln des Stachelschweines, die einen Hauptschmuck ihrer Staatskleider bilden, bei jedem Stamme verschieden… So bestand z.B. die Kleidung des erwähnten Häuptlings, den ich zeichnete, in einem Hemde oder einer Tunika aus zwei Hirschhäuten, mit dem Halsteile abwärts und so aneinander gefügt, daß die Hinterläufe zusammengenäht waren und die Nähte längs des Armes von den Schultern bis zu den Handknöcheln hinliefen. Jede Naht war mit einer zwei Zoll breiten, sehr schönen Stickerei von Stacheln des Stachelschweines bedeckt und von dem unteren Rande dersebeln, von der Schulter bis zur Hand, hingen Fransen von schwarzem Haar, das er den von ihm im Gefecht getöteten Feinden geraubt hatte. Die Beinkleider bestanden aus demselben Stoff und von der Hüfte bis zum Fuße hinab war ein Streifen von gleicher Breite, und auf gleiche Weise mit Stacheln und Haarlocken verziert, angebracht. Letztere werden von den Skalpen entnommen und als Siegeszeichen getragen.“
Spätestens bei der Erwähnung der Stachelschweinverzierungen ist der Karl-May-Leser aufmerksam geworden. Stachelschweinborsten zierten auch die Mokassins Winnetous, und mit Menschenhaar waren auch seine Leggins geschmückt. Noch mehr erinnerte mich jedoch die Beschreibung eines Mandanen-Häuptlings an Winnetou. Catlin schrieb, dass Häuptling Mahtotohpa (Die vier Bären) nicht nur ein sehr beliebter Häuptling war (obwohl nur zweiter Häuptling), sondern auch sehr gut aussah. Seine Beschreibung nimmt zwei ganze Seiten ein, wobei Catlin auch besonderen Wert auf die Ausrüstungsgegenstände des Häuptlings legte. Sehr häufig beschrieb er auch den herrlichen Haarwuchs der Indianerstämme, wobei die Krähenindianer besonders hervortraten. Wie man sich erinnert, trug Winnetou sein Haar „zu einem Schopfe gewunden“. Catlin erwähnte einen Häuptling der Krähen-Indianer, der „Langhaar“ genannt wurde. „Sublette und Cambell maßen es und fanden es zehn Fuß und sieben Zoll lang; auch überzeugten sie sich, dass es durchaus sein eigenes Haar sei Er umwindet es gewöhnlich vom Kopfe an mit einem breiten Lederriemen und wickelt es dann auf zu einem zehn bis zwölf Zoll langen und einige Pfund schweren Knäuel, das er beim Gehen unter dem Arm oder auf der Brust in den Falten des Kleides trägt“. (S. 33) Nun, wenn auch Karl May ein Indianerhäuptling mit einer solchen Last ein wenig ungewöhnlich vorgekommen sein mag, so hat ihm doch vielleicht die Haarmenge und das von Catlin als so wunderschön beschriebene Haar der Krieger gefallen. So wurde auch Winnetou mit dieser Pracht ausgestattet, wenngleich mit einem etwas kürzeren Haarwuchs: „Auch er trug den Kopf unbedeckt und hatte das Haar zu einem Schopfe aufgewunden, aber ohne es mit einer Feder zu schmücken. Es war so lang, dass es dann noch reich und schwer auf den Rücken niederfiel. Gewiss hätte ihn manche Dame um dieses herrliche, blau schimmernde schwarze Haar beneidet“. (Bd. 7, Fehsenfeid, S. 109/110). Nach Catlin trugen die meisten Indianer ihr Haar lang herunterhängend. Je nach Stammesritte wurde es mit rotem Lehm verziert, mit Bärenfett eingerieben oder nur der Scheitel bemalt. Er erwähnte auch eine ähnliche Sitte wie Karl May, nämlich das Haar zu einer Art Schopf aufgewunden zu tragen. Vom Sioux-Häuptling Hawandschitah (Das eine Horn) berichtete Catlin: „Sein Anzug von Elenhaut war sehr schön und mit vielen Stachelschweinstacheln und Skalplocken verziert; sein sehr langes und starkes Haar war in zwei Teile geteilt, auf dem Scheitel gekreuzt und mit einem einfachen Bande gebunden, so dass es das Ansehen eines Turbans hatte“. (S. 139) Weiter berichtete er über diesen Häuptling, dass verschiedene Horden, die jeweils ihren eigenen Häuptling hätten, unter seinem Oberbefehl standen: ,Ich erwähnte oben, dass die Sioux sich oft in großer Menge bei dem Fort Pierre versammeln, um mit der amerikanischen Pelzkompagnie Handel zu treiben und dass ich bei meiner Fahrt stromaufwärts 600 Familien daselbst fand, die in Zelten von Büffelhäuten wohnten und zwanzig oder mehr verschiedenen Horden angehörten, deren jede ihren Häuptling hatte, die sämtlich wieder unter einem Oberhaupte, namens Hawandschitah (das eine Horn) standen“. (S. 139) Wenn damit vielleicht auch nicht widerlegt wird, dass es keine Häuptlinge gab, die uneingeschränkt Herrscher über größere Stammesverbände oder gar ganze Stämme waren, so könnte doch diese Angabe Karl May veranlasst haben, in Winnetou und dessen Vater Häuptlinge darzustellen, deren Macht von zahlreichen Indianerstämmen bzw. Untergruppen anerkannt wurde. Im Verlauf dieser Abhandlung werde ich noch auf zahlreiche Einzelheiten hinweisen, die nach meiner Ansicht Karl May von George Catlin übernommen hat. Literarischen Diebstahl hat er mit Sicherheit nicht begangen, soviel sei vorweggesagt. Catlins Buch ist vielmehr Quelle, Nachschlagewerk gewesen, wie auch Browns „Reise durch das Apachenland“. Vermutlich hat May Catlins Werk mit großer Begeisterung gelesen, vieles in seinem Unterbewusstsein verankert, um es später noch einmal genau nachzuschlagen und dann in seine Romane zu übernehmen. Neben einem anderen Werk, das sich mit den Indianersprachen beschäftigte (Gatschet, Zwölf Sprachen aus dem Südwesten Nordamerikas, vgl. auch Sonderheft 1, Poppe, Marah Durimeh, S. 6ff), benutzte Karl May Catlins Werk vor allem zu Beginn der Erzählungen, die in Amerika spielen und die Lebensgewohnheiten der Indianer beschreiben. Das brachte seinen Werken ja erst den Ruf tatsächlich geschehener Reisebegebenheiten: Die genauen Landschaftsschilderungen und die Beschreibungen der Gebräuche und Gewohnheiten der Eingeborenen. Kaum jemand ahnte oder dachte daran, dass Karl May sich alles vorher erst angelesen hatte.
Zum Abschluss dieses Abschnittes gebe ich noch die Beschreibung Winnetous und Intschu-tschunas nach der Fehsenfeld-Ausgabe von „Winnetou I“, damals noch mit dem Untertitel „Der rote Gentleman“ versehen (23.30. Tsd., S. 109/110):
„Der Aeltere war von etwas mehr als mittler Gestalt… Sein Kopf war unbedeckt; das dunkle Haar hatte er in einen helmartigen Schopf aufgebunden, in welchem eine Adlerfeder, das Zeichen der Häuptlingswürde, steckte. Der Anzug bestand aus Mokassins, ausgefransten Leggins und einem ledernen Jagdrocke, dies alles sehr einfach und dauerhaft gefertigt… In der Hand hielt er ein doppelläufiges Gewehr, dessen Holzteile dicht mit silbernen Nägeln beschlagen waren… Der Jüngere war genau so gekleidet wie sein Vater, nur daß sein Anzug zierlicher gefertigt worden war. Seine Mokassins waren mit Stachelschweinsborsten und die Nähte seiner Leggins und des Jagdrockes mit feinen, roten Nähten geschmückt. … Auch er trug den Kopf unbedeckt und hatte das Haar zu einem Schopfe aufgewunden, ohne es aber mit einer Feder zu schmücken. Es war so lang, daß es dann noch reich und schwer auf den Rücken niederfiel… und dann glaubte ich zu bemerken, daß in seinem ernsten, dunklen Auge, welches einen sammetartigen Glanz besaß, für einen kurzen Augenblick ein freundliches Licht aufglänzte, wie ein Gruß, den die Sonne durch eine Wolkenöffnung auf die Erde sendet…“
Übrigens geniert sich Old Shatterhand nicht zuzugeben, dass er seine Kenntnisse über den „Wilden Westen“ und die Indianer aus Büchern hat. Als er Sam Hawkens etwas über die Bestattungsarten der Indianer erzählt, und dieser wissen will, woher das „Greenhorn“ seine Kenntnisse habe, antwortete Old Shatterhand: „Aus den Büchern, von denen Ihr nichts wissen wollt“. (Bd.7, S.163)
Auch etwas später geht es um Wissen, das aus Büchern gewonnen wurde. „Nicht übel gedacht. Steht so etwas auch in Euren Büchern zu lesen, Sir?“ „Wörtlich und genau auf diesen Fall passend nicht; aber es kommt darauf an, wer ein solches Buch liest und wie er es liest. Man kann wirklich viel daraus lernen und dann in der Wirklichkeit für andere, ähnliche Fälle anwenden.“ (S. 166) Sicherlich ließen sich noch mehr Beispiele für ähnliche Äußerungen Shatterhands finden. Es kommt also darauf an, wie man die Bücher liest – und wie man sie auswertet. Karl May hat es geradezu meisterhaft verstanden, das ihm vermittelte Wissen auszuwerten und geschickt in den Handlungsablauf einzustreuen. Kriegerische Auseinandersetzungen mit den Kiowas nutzte er, um ein paar Worte über die „Medizin“ des Indianers, sein größtes Heiligtum, einzuflechten: „Ein Indianer, welcher ohne Skalplocke und Medizin in die ewigen Jagdgründe gelangt, wird dort von den verstorbenen Helden mit Verachtung empfangen und hat, während sie in allen indianischen Genüssen schwelgen, sich vor den Augen dieser Glücklichen zu verbergen. Das ist der Glaube der Roten“. (S. 203) Wenig später nutzt er eine erneute Gelegenheit, ausführlich über diese sonderbare „Medizin“ zu schreiben. Old Shatterhand hatte heimlich Winnetou und Intschu-tschuna losgeschnitten, sie konnten entfliehen. Tangua ist außer sich vor Wut über diesen Verlust.
„Jeder erwachsene Mann, jeder Krieger hat eine Medizin. Der Jüngling, welcher unter die Männer, die Krieger aufgenommen werden will, verschwindet plötzlich und sucht die Einsamkeit auf. Dort fastet und hungert er und versagt sich sogar den Genuß des Wassers. Er denkt über seine Hoffnungen, Wünsche und Pläne nach… Hat er dieses Stadium erreicht, so wartet er auf den ersten Gegenstand, der ihm vom Traume oder sonstwie vorgegaukelt wird, und dieser ist ihm dann fürs ganze Leben heilig, ist seine ‚Medizin‘…“
George Catlin schrieb über die ‚Medizin‘ sehr ausführlich, und führte u.a. aus: „Der Medizinbeutel ist daher der ‚Geheimnisbeutel‘ und man muß seine Bedeutung und Wichtigkeit kennen, da er gewissermaßen der Schlüssel zu dem Leben und dem Charakter der Indianer ist. Diese Beutel werden aus Häuten von Säugetieren, Vögeln oder Amphibien gemacht, und nach dem Geschmack oder der Laune des Verfertigers auf die mannigfaltigste Art verziert oder aufbewahrt. Sie werden gewöhnlich in einem Teile der Kleidung des Indianers befestigt oder in der Hand getragen und sind oft so verziert, daß sie seiner Person zum Schmuck dienen… Längs der Grenze, wo die weißen Männer über diesen albernen und nutzlosen Gebrauch lachen, ist er größtenteils abgeschafft; aber in den Gegenden am oberen Missouri besteht er noch in voller Kraft…“
Quellenverzeichnis:
Karl-May-Jahrbuch 1921, Kandolf; Der werdende Winnetou; Klauber, Die Wörter der Apachensprache im Reiseroman Winnetou. KMJB 1922, Stütz, Die Bedeutung des Wortes Winnetou, u.v.a.m.
Meine Biographie „Karl May Leben und Werk“, S. 77ff und V. Böhm, Karl May und das Geheimnis seines Erfolges, S. 199 ff.
„Vergnügen am Ungewöhnlichen“, von Werner G. Schmidtke in „Blätter für Volksliteratur, 1/1975
KMJB 1923, Dr. E. A. Schmid, Henrystutzen und Silberbüchse; B. Wandolleck, Die Feuerwaffen des Romans Winnetou. KMJB 1927, G. Urban, Nochmals der Henrystutzen. KMJB 1930, Cassela, Kunstschützentum bei Karl May; Wandolleck, Karl May und die Waffen. KMJB 1932, J. Fanta, Die Waffen in den Romanen Karl Mays,
G. Catlin, Die Indianer und die während eines achtjährigen Aufenthaltes unter den wildesten ihrer Stämme erlebten Abenteuer und Schicksale.