Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen

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Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen
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Apl. Prof. Dr. phil. habil. Thomas Müller lehrt am Lehrstuhl Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Universität Würzburg.

Außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:

Müller, Thomas (2018): Kinder mit auffälligem Verhalten unterrichten. (ISBN 978-3-497-02804-7)

Müller, Thomas, Temper, Annette (2018): Pädagogisch arbeiten mit Bilderbüchern (ISBN 978-3-497-02759-0)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-8252-5578-7 (Print)

ISBN 978-3-8385-5578-2 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-8463-5578-7 (EPUB)

© 2021 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Cover: Agenturfoto. © iStock.com / AlexSava

Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

1 Einleitung

2 Herkunft und Zukunft

2.1 Gesinnung und Verantwortung

2.2 Exklusion und Vernichtung

2.3 Separation und Institutionen

2.4 Integration und Inklusion

3 Begriffe und Ordnungen

3.1 Werte, Normen und Normalität

3.2 Definitionen

3.3 Perspektiven

3.3.1 Resilienz und Vulnerabilität

3.3.2 Psychosoziale Belastungen und soziale Benachteiligung

3.4 Klassifikationen und Epidemiologie

3.4.1 Klassifikationen

3.4.2 Epidemiologie

4 Verhalten erklären – Erleben verstehen

4.1 Psychologische Erklärungsansätze

4.1.1 Lernpsychologische Perspektive

4.1.2 Perspektive der Selbst- und Handlungsregulation

4.1.3 Perspektive der Selbstkonzepttheorie

4.1.4 Interaktionistische Perspektive

4.2 Psychologische Verstehensansätze

4.2.1 Psychoanalytische Perspektive

4.2.2 Individualpsychologische Perspektive

4.2.3 Bindungstheoretische Perspektive

4.3 Soziologische Erklärungsansätze

4.3.1 Perspektive der Theorien der Subkultur und des Kulturkonflikts

4.3.2 Perspektive der Anomietheorien

4.3.3 Perspektive der Theorien des differentiellen Lernens

4.3.4 Perspektive des Labeling Approach

5 Bildung und Erziehung

5.1 Bildsamkeit und Bildung

5.2 Erziehung als sonderpädagogische Aufgabe

5.2.1 Ziele und Erwartungen

5.2.2 Legitimation

5.2.3 Mittel

5.2.4 Überschneidungen und Grenzen

6 Lehren und Lernen

6.1 Didaktische Modelle

6.1.1 Bildungstheoretische Didaktik

6.1.2 Lerntheoretische Didaktik

6.1.3 Kritisch-kommunikative Didaktik

6.1.4 Integratives didaktisches Modell

6.2 Didaktische Konzepte

6.2.1 Strukturfokussierte Konzepte

6.2.2 Schülerfokussierte Konzepte

6.2.3 Strukturiert-schülerzentrierter Unterricht

6.2.4 Psychodynamisch orientierte Konzepte

6.2.5 Zusammenfassung

6.3 Unterrichtsprinzipien

6.3.1 Allgemeine Unterrichtsprinzipien

6.3.2 Spezifische Unterrichtsprinzipien

7 Diagnostik und Förderung

7.1 Diagnostik als sonderpädagogische Aufgabe

7.2 Emotionale und soziale Kompetenzen

7.3 Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen

8 Prävention und Intervention

8.1 Formen der Prävention

8.1.1 Außerschulische Prävention

8.1.2 Schulische Prävention

8.2 Formen der Intervention

 

8.2.1 Beratung als sonderpädagogische Aufgabe

8.2.2 Classroom-Management

8.2.3 Trainings und Programme

8.3 Pädagogische Persönlichkeit und Haltung

8.3.1 Aufgaben und Rollen

8.3.2 Pädagogische Haltung

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Folgende Icons werden im Buch verwendet:


Zusammenfassung
Definition
Lernfragen
Online-Material
Literatur- und Websiteempfehlungen

In den einzelnen Kapiteln gibt es Verständnis- und Vertiefungsfragen. Musterlösungen finden Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages und der UTB GmbH bei der Darstellung dieses Titels:

www.reinhardt-verlag.de, www.utb.de. Das Passwort befindet sich hinten im Buch.

1 Einleitung

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf steigt in Förderschulen, Regelschulen, aber auch den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe stetig an. Mehr denn je sehen sich pädagogische Fachkräfte gefordert, sich intensiv mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen auseinanderzusetzen.

Das Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen will daher dazu beitragen, einen Überblick über fachlich relevante Aspekte für die Arbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Es nimmt eine pädagogische Perspektive ein, ohne Aspekte wichtiger Bezugsdisziplinen zu vernachlässigen. Bewusst verzichtet es auf die Darstellung verschiedener Störungsbilder, wie z. B. ADHS, Angststörungen oder dissoziale Verhaltensweisen. Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass nicht ohne Weiteres beantwortet werden kann, für welche Kinder und Jugendlichen mit welchen spezifischen Störungsbildern die Pädagogik bei Verhaltensstörungen zuständig ist und wo diese Zuständigkeit endet. Eine Darstellung einzelner Störungsbilder, z. B. der am meisten verbreiteten, würde vielen Kindern und Jugendlichen gerecht, aber lange nicht allen. Zum anderen sind psychische Erkrankungen bei weitem nicht das einzige, was zu Verhaltensstörungen führen kann. Fragen der familiären und (außer-)schulischen Erziehung, der Unterrichtsgestaltung, der pädagogischen Haltung, der Prävention und Intervention kommen dabei ebenso wichtige Rollen zu. Eine Darstellung verschiedener Störungsbilder lenkte den Blick zudem zu einseitig auf die Kinder und Jugendlichen selbst, und liefe Gefahr, sie als Symptomträger einseitig zu den Verantwortlichen von Verhaltensstörungen zu erklären. Das Basiswissen folgt in seiner terminologischen Anlage einer interaktionistischen Sicht von Verhaltensstörungen und vermeidet einseitig den Kindern und Jugendlichen Ursachen zuschreibende Formulierungen (4.1.4). Als Basiswissen kann es jedoch ausführliche Grundlegungen (z. B. Stein 2019; Myschker / Stein 2018; Ahrbeck / Willmann 2009; Hillenbrand 2008a; Gasteiger-Klicpera et al. 2008) nicht ersetzen. Um dem Anspruch eines Basiswissens gerecht zu werden, folgt das Buch einem didaktischen Aufbau:

● Zusammenfassungen zu Beginn der Hauptkapitel schaffen einen Kurzüberblick, an den sich grundlegende Erläuterungen zur Thematik anschließen.

● Darauf folgen Fragen, mit denen das eigene Textverständnis überprüft werden kann.

● Hinweise auf Grundlagenliteratur bieten die Möglichkeit, das Themenfeld eigenständig zu vertiefen.

● Thematische Skizzen zeigen auf, wie Inhaltsaspekte miteinander verknüpft werden könnten. Diese Skizzen haben einen vereinfachenden Entwurfscharakter und in ihnen sind zudem Begriffe angesprochen, die sich im Randbereich des jeweiligen Themenfeldes bewegen und die im Text nicht explizit erläutert werden. Dies soll dazu anregen, Inhalte zu verknüpfen und Wissen eigenständig zu erweitern.

● Um Transfers und Vernetzungen zu ermöglichen, schließen sich Fragen zur Vertiefung und Erweiterung an. Die dazugehörigen Antworthorizonte sind als Online-Material verfügbar und verstehen sich nicht als abschließende Lösung, sondern als Anregungen und erster Zugang zu möglichen Antworten. Zudem findet sich am Ende eines Kapitels jeweils ein Literaturhinweis zur weiteren Vertiefung.

2 Herkunft und Zukunft


Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen ist eine „junge“ Disziplin. Ihre Entstehung ist auf verschiedene Strömungen und zeitgeschichtliche Umstände zurückzuführen. Ihr heutiges „Gesicht“ ist nur unter Betrachtung ihres Herkommens erkennbar. Aus dieser Sicht lassen sich die Gegenwart verstehen und aktuelle sowie möglicherweise zukunftsweisende Entwicklungen aufzeigen.

2.1 Gesinnung und Verantwortung

Ausgangspunkt der Befassung mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen ist ein ab dem 17. Jahrhundert gesinnungsethisch geprägtes Handeln, das im 19. Jahrhundert durch eine verantwortungsethische Praxis abgelöst wird (s. thematische Skizze 1).


Thematische Skizze 1: Ideengeschichtliche Aspekte zur Herkunft der Pädagogik bei Verhaltensstörungen

Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen als universitäre Disziplin hat ihren Ursprung erst in den 1960er Jahren. Kinder und Jugendliche, die man heute als verhaltensauffällig, erziehungsschwierig oder emotional und sozial förderbedürftig bezeichnet, gibt es jedoch weitaus länger – stets abhängig von zeitgeschichtlichen Sichtweisen. Wo und wann genau die Beschäftigung mit diesen Kindern und Jugendlichen ihren Ausgangspunkt nimmt, lässt sich nicht sagen. Allerdings stechen über Epochen hinweg einzelne Personen besonders hervor. August Hermann Francke gründete ab 1695 die Halleschen Anstalten. Geprägt ist diese Gründung von pietistischen Motiven und einer gesinnungsethischen Haltung, in der die eigenen Werte und Moralvorstellungen in ein Handeln einfließen, das darauf ausgerichtet ist, eben jene Werte zu realisieren, ohne auf die Folgen des Handelns für die Betroffenen zu achten. Für Francke hieß das nicht nur eine Versorgung und Beschulung von sogenannten sittlich verwilderten Kindern und Jugendlichen, sondern auch ein Verbot des seiner Meinung nach unnützen Spiels und den Einsatz der Prügelstrafe. Francke steht stellvertretend für andere religiös motivierte Pädagogen und Anstaltsgründungen im 17. Jahrhundert, die gesinnungsethisch geprägt waren. Erst mit einem stärker medizinischen Interesse im 19. Jahrhundert und beflügelt vom Geist der Aufklärung sowie der Überzeugung, dass der Mensch unabhängig von Behinderung bildbar sei (Herbart 1835), wendet sich das Blatt und Kinder und Jugendlichen werden

„nun nicht mehr in moralischen Kategorien als ‚böse‘ und ‚sittlich verwildert‘ betrachtet […], sondern als ‚krank‘ und ‚schlecht erzogen‘ […]. Die im 19. Jahrhundert verbreitete Zuversicht, die Medizin könne jede Form von ‚Idiotie‘ und ‚Geisteskrankheit‘ heilen, wird im 20. Jahrhundert zunehmend abgelöst durch einen pädagogischen Optimismus, der sich auf der Idee gründete, kein Kind zurückzulassen, sondern alle Kinder ungeachtet ihrer persönlichen Befähigung optimal fördern zu können, sodass sie eine höhere Stufe der Entwicklung erreichen könnten“ (Willmann 2018, 51).

Gesinnungsethisches Denken wandelte sich nach und nach in eine verantwortungsethische Praxis, die auf die Resultate des Handelns und ihre Verantwortbarkeit zielt. Für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen können beispielhaft Johannes Trüper und die 1890 gegründete Sophienhöhe bei Jena oder Johann Hinrich Wichern und das 1833 gegründete „Rauhe Haus“ in Hamburg genannt werden.

Mit Aufkommen der Psychoanalyse im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und dem gesteigerten Interesse am inneren Erleben des Menschen entsteht die Einsicht, dass sich hinter dem offensichtlichen Verhalten von Menschen innere Notwendigkeiten, ein subjektiver Sinn verbergen kann. Diese Anerkennung eröffnete, geprägt durch August Aichhorn, pädagogisch einen anderen Blick auf kindliches Verhalten und Erleben, eine neue Dimension der pädagogischen Handlungsmöglichkeiten. Bedeutsame Gründungen, die von diesem Geist geprägt sind, gehen auf Fritz Redl (Pioneer House) sowie auf Bruno Bettelheim (Orthogenic School) zurück.


Fragen zum Verständnis:

Was ist mit Gesinnungsethik gemeint?

Was trug dazu bei, dass gesinnungsethisches Handeln durch eine verantwortungsethische Praxis ersetzt werden konnte?

Welche Bedeutung hat die Entwicklung der psychoanalytischen Pädagogik für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen?


Fragen zum erweiterten Verständnis und zur Vertiefung:

Comenius forderte bereits im 17. Jahrhundert für die Schule, „alle alles zu lehren“. Was bedeutet dies mit Blick auf die Diskussion um Inklusion; und was lässt sich daraus lernen, dass dieser Gedanke über die Jahrhunderte immer wieder verloren ging?

Wodurch lässt sich der für die Sonderpädagogik so wesentliche pädagogische Optimismus angesichts bisweilen aussichtslos erscheinender Situationen mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen rechtfertigen?

Bruno Bettelheim prägte als psychoanalytischer Pädagoge den Ausspruch „Liebe allein genügt nicht!“. Was ist damit gemeint?

Antworthorizonte als Online-Material verfügbar.

Grundlagenliteratur:

Göppel, R. (1989): „Der Friederich, der Friederich …“. Das Bild des erziehungsschwierigen Kindes im 19. und 20. Jahrhundert. Edition Bentheim, Würzburg

2.2Exklusion und Vernichtung

Der gesellschaftliche, aber auch der „pädagogische“ Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen war in der Vergangenheit immer wieder von Ablehnung, Ausschluss und Vernichtung geprägt. „Die Geschichte der gesellschaftlichen Konstruktion des ‚Anders-Seins‘ führt von der Dämonologisierung und Moralisierung in der Frühzeit und im Mittelalter bis zur Biologisierung und Pathologisierung in der Neuzeit […]“ (Willmann 2018, 51).

In der jüngeren deutschen Geschichte sind insbesondere der Umgang der Nationalsozialisten, aber auch der des DDR-Regimes mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen eindrückliche Negativbeispiele (s. thematische Skizze 2).

 

Die Nationalsozialisten bestimmten den Wert von Menschen mit Behinderung bezogen auf Rasse und gesellschaftlichen Nutzen, wobei vor allem die Arbeitsfähigkeit zählte. Der aus diesen Kriterien bestimmte „volkswirtschaftliche Wert“ (Ellger-Rüttgardt 2019, 245) entschied über Leben und Tod. Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche bezeichnete man als Asoziale, als arbeitsscheu, schmarotzerisch und aufrührerisch. Sie galten als pädagogisch nicht beeinflussbar und hatten einen besonders geringen Status in der Gesellschaft des Dritten Reichs (Müller 2014). Man sagte ihnen nach, einen schlechten Charakter zu besitzen und äußerst raffiniert vorzugehen (Ellger-Rüttgardt 2019), unterstellte ihnen also Vorsatz. In den Schulen war kein Platz für solche Kinder und Jugendliche, wozu auch diejenigen zählten, die gegen den Nationalsozialismus aufbegehrten, sich der Hitlerjugend entzogen oder als eigensinnig galten. Nur dem Arbeitsdienst wurde eine positive Wirkung auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche zugeschrieben (Müller 2014). Gleichzeitig sah das NS-Regime in diesen Kindern und Jugendlichen besonderes Potenzial, sie für den Führerkult zu begeistern. Der gesamte Propagandaapparat war auf die Formung und Gestaltung des „Volkskörpers“ ausgerichtet – „die unbedingte Unterordnung des Individuums unter den absoluten Vorrang der Volksgemeinschaft“ (Ellger-Rüttgardt 2019, 243). Mit dem „richtigen rassischen Wert“ und potenziellen Nutzen für das Volk, wurde die Hitlerjugend als Besserungsanreiz in Aussicht gestellt. Dort konnten verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche ihren volkswirtschaftlichen Wert unter Beweis stellen, ihre Behinderung auszugleichen versuchen und dem Vaterland dienen.


Thematische Skizze 2: Sicht auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus und in der DDR

„Jugendliche, die als sozial auffällig und sittlich verwahrlost galten, wurden ab 1940 […] Jugendschutzlagern […] zugeführt und zur Zwangsarbeit verpflichtet. In den 1970er Jahren wurden diese Lager in Westdeutschland als Konzentrationslager anerkannt“ (Müller 2014, 224).

Letztendlich sah die NS-Sozialpolitik in verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen keinen Nutzen. Vielmehr galten sie als Gefahr für die „arische Rasse“ und wurden als „Minderwertige“, als „Parasiten am deutschen Volkskörper“ diskreditiert (Baringhorst / Böhnke 2017). Weder begegnete man ihnen mit Verständnis, noch wurde ihnen Unterstützung zuteil, dafür jedoch Verachtung, Demütigung und Hass. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ging der Wiederaufbau des Sonderschulwesens nur schleppend voran. Die wenigen verbliebenen Hilfsschulen waren aufgrund der negativen Bewertung behinderter Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus in katastrophalem Zustand.

Erziehung und Bildung wurden in der DDR maßgeblich durch den Einfluss des ukrainischen Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko geprägt. Dieser galt als der einflussreichste Pädagoge der Sowjetunion. Das Leitziel seiner Bemühungen war, „den neuen Menschen zu schaffen“ (Zimmermann 2004, 52). Anfang der 1920er Jahre leitete Makarenko Arbeitskolonien, in denen „verwahrloste“ Kinder Disziplin lernen und resozialisiert werden sollten. Ein Verständnis von Erziehung als wechselseitigem Prozess und gegenseitiger Abhängigkeit fehlte bei Makarenkos Überlegungen. Auch Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnisse der zu Erziehenden wurden nicht berücksichtigt. Vielmehr sollte ein klares Machtgefälle zwischen Erzieher und Zögling vorherrschen.

Die DDR übernahm Makarenkos pädagogische Lehren, verfälschte sie aber auch. Die Erziehung so genannter verhaltensabweichender Kinder und Jugendlicher fand in der DDR in Form von „Umerziehung“ statt. Oberstes Ziel war das Schaffen von sozialistischen Persönlichkeiten, die sich dem Kollektiv unterordnen. Paradigma war die „Machbarkeit von Erziehung“: Damit war zum einen die Realisierbarkeit von Erziehung gemeint, zum anderen die Manipulierbarkeit von Kindern und Jugendlichen. Sozialpädagogische Fragen hatten lange Zeit keinen großen Stellenwert, obwohl diese bei genauerer Betrachtung wichtig für die Umsetzung des sozialistischen Grundgedankens gewesen wären. Erziehung und Bildung sollten universal vermittelt werden, um die Kosten möglichst niedrig zu halten und das Einheitsgefühl der Gesellschaft zu stärken. Sozial- und Rehabilitationspädagogik mussten sich der Volksbildung unterordnen. Ab 1965 entstand eine Verhaltensgestörtenpädagogik in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Erklärungen für Verhaltensstörungen wurden nicht anerkannt (Müller 2014, 224). Vielmehr führte man auffälliges Verhalten auf intra- und interpersonelle Gründe zurück, was einer reinen Schuldzuweisung an die betroffenen Kinder und Jugendlichen und deren Familien gleichkam. Man war zudem bestrebt, das Wissen in der Bevölkerung über die Existenz von Förderschulen möglichst gering zu halten, denn sie wurden als ein Eingeständnis für das Versagen des Schulsystems angesehen. Dennoch gab es „Sonderschulen mit Ausgleichsklassen für Verhaltensgeschädigte“, jedoch durfte diese Schulform nur von der zweiten bis zur vierten Klasse besucht werden. Wer auffällig wurde und sein Verhalten nicht unter Kontrolle bekam, war schnell ein Fall für Fremdunterbringung. Es gab ein hierarchisch aufgebautes System unterschiedlicher Institutionen, das sich nach der Schwere der Auffälligkeiten richtete. „Verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche wurden per Zwangseinweisung aus ihrem „erziehungsunfähigen“ Umfeld genommen und sollten in Abgeschiedenheit diszipliniert werden. Deshalb waren alle Einrichtungen örtlich von Regelschulen getrennt und lagen teilweise an entlegenen Orten, um den Einfluss auf Regelschüler und die Aufmerksamkeit innerhalb der Gesellschaft zu minimieren. Von Einrichtung zu Einrichtung verschärften sich die Maßnahmen. Arbeitsmaßnahmen wurden härter, Freizeit weniger und Besuchszeiten seltener. Kinder und Jugendliche „wanderten“ von Aufnahmeheimen über Spezialheime zu Jugendwerkhöfen. Als ultima ratio galt der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Bereits in Aufnahme- und Spezialheimen herrschte extreme Strenge. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau zeichnete sich zudem durch besondere Härte aus. Militärischer Drill war an der Tagesordnung, der Alltag war reglementiert, penibel getaktet und permanent überwacht. Gegen Regelverstöße wurde drastisch vorgegangen: Durch Kollektivstrafen sollte dem Einzelnen vor Augen geführt werden, was sein Fehlverhalten angerichtet habe. Arrest und Züchtigung wurden für geringste Vergehen verhängt. Der Strafe selbst, unter Nutzung des Kollektivs, wurde eine erzieherische Wirkung zugeschrieben (Beyer / Strobl / Müller 2016). Die Willkür der Erziehenden fällt dabei besonders ins Auge: Bei vielen Maßnahmen ging es nicht um Erziehung, sondern darum, den Willen zu brechen und die Individualität der Insassen zu unterdrücken. Gerade die praktizierten Strafen wie Nachtisolierung, Zwangssport und Essensentzug verdeutlichen die Verletzung von Menschenrechten. „Verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche passten nicht ins sozialistische Weltbild. Ihre besonderen Bedürfnisse standen im Konflikt mit der angestrebten Kollektiverziehung. Deshalb wählte man den Weg der Umerziehung, welcher sich vor allem durch Exklusion, harte Arbeit und überzogene Strafen definierte.

Fragen zum Verständnis:


Wie versuchte man im Dritten Reich, die Euthanasie an verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen zu rechtfertigen?

In der DDR war „Fremdunterbringung“ die Universallösung für „verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche. Welches Verständnis von Verhaltensstörungen liegt diesem Vorgehen zu Grunde?


Fragen zum erweiterten Verständnis und zur

Vertiefung:

Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche wurden in der NS-Zeit als „Asoziale“ bezeichnet und galten als „erbkrank“. Welche Rolle spielen soziale Einbindung und Vererbung jenseits von Ideologien für das Entstehen von Verhaltensauffälligkeiten?

Warum bemühte man sich in der DDR nicht um alternative Bildungswege für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche?

Antworthorizonte als Online-Material verfügbar..

Grundlagenliteratur:

Beyer, C., Strobl, C., Müller, T. (2016): „Hier kommste nicht raus“. Geschlossener Jugendwerkhof Torgau: Endpunkt erzieherischer Willkür der SED gegenüber verhaltensabweichenden Jugendlichen. Schneider, Hohengehren

2.3 Separation und Institutionen

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt der Ausbau eines vielgliedrigen Sonderschulwesens da an, wo er zuvor ins Stocken oder zum Erliegen gekommen war (s. thematische Skizze 3). Daher verbreiten sich auch Schulen für Erziehungshilfe in Deutschland mehr und mehr. Ausgangspunkt dieser Schulart waren Sonderklassen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Zürich und in Berlin als „Erziehungsklassen (E=Klassen) für schwererziehbare Kinder der Volksschule“ (Fuchs 1930) entstanden. Auch wenn unter anderer Terminologie („kriegsgeschädigt“), wurden dort vermutlich „traumatisierte“ Kinder und Jugendliche beschult, die nach einer Phase intensiver pädagogischer Begleitung in einem pädagogischen Schonraum wieder dem Regelschulunterricht folgen sollten. Die Idee des Durchgangs ist von Anfang an ein Prinzip der Schule für Erziehungshilfe. Alsbald entwickelten sich diese Klassen zum „Sammelbecken“ für alle möglichen Kinder und Jugendlichen, die durch ihr Verhalten aus dem Rahmen fielen und an den Regelschulen als unbeschulbar galten.


Thematische Skizze 3: Separation und Institutionen

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Bremen, Hamburg und Berlin Kleinklassen für kriegsgeschädigte Kinder gegründet (Klink 1962, 92). Bald wurden sie zu Institutionen für leicht erregbare, leistungsverweigernde und anderweitig schwierige Schülerinnen und Schüler. Mitte der 1950er Jahre wurden bundesweit Sonderschulen für Erziehungshilfe gegründet, die unter uneinheitlichen Bezeichnungen bestanden. Zudem wurden aus einigen Heim- bzw. Heimvolksschulen Schulen für Erziehungshilfe (Mau 1981). Dem Gutachten des Deutschen Bildungsrates, stärker integrativ statt weiter separierend zu beschulen, folgte die Kultusministerkonferenz nicht – stattdessen wurde 1972 die Bezeichnung „Schule für Verhaltensgestörte“ eingeführt und zudem entstanden sonderpädagogische Ambulanzen.

Trotz Diskussion um die Schule für Erziehungshilfe (Myschker / Stein 2018, 356 f.) kam es nach der Wiedervereinigung zu einem Ausbau in Ostdeutschland. Sowohl in den „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland“ (KMK 1994) als auch in den „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“ (KMK 2000, 24 f.) wird dies dargelegt. Ging es der Schule für Erziehungshilfe vormals eher darum, Fehlentwicklungen zu verhindern, stehen aktuell der emotional-soziale Förderbedarf und besondere Erziehungsbedürfnisse im Mittelpunkt: Kinder und Jugendliche sollen die Möglichkeit erhalten, sich mit ihren Verhaltens- und Erlebensweisen auseinanderzusetzen, lernen und sich bilden zu können. Mit Blick auf die Schulqualitätsforschung halten Opp / Wenzel (2003) fest:

„Die Begegnung mit gefühls- und verhaltensgestörten Kindern erfordert neben erweitertem theoretischen Wissen und methodischem Repertoire auch die kontinuierliche Reflexion der eigenen Arbeit. […] Es geht darum, dass sich die Professionellen selbst und in kollegialen Zusammenhängen mit den Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen, Zielen und Problemstellungen der eigenen Arbeit konfrontieren“ (Opp / Wenzel 2003, 34).

Da die Schule für Erziehungshilfe von Beginn an als Durchgangsschule verstanden wird, werden Kinder und Jugendliche in einigen Bundesländern nur bis zur 6. Klasse oder aber erst ab einer bestimmten Jahrgangsstufe beschult, was aber bisweilen zu Anschlussschwierigkeiten führt.

Schulen für Erziehungshilfe sollen Regelschulen von als störend empfundenem und auffällig erlebtem Verhalten entlasten. Damit geraten sie jedoch in die Gefahr der Negativfunktion einer Bedarfserfüllung, welcher an anderer Stelle nicht abgedeckt wird. Umgekehrt entlastet sie Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten mit großen Klassenverbänden und dem Leistungsanspruch der Regelschulen haben – also solche, die aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen bereits ein oder zwei andere Kinder oder Jugendliche neben sich nicht aushalten. Aber auch der nicht auffällige Teil der Schülerschaft kann durch die Schule für Erziehungshilfe indirekt entlastet werden, wenn die Schülerinnen und Schüler ungestörter lernen können. Meist wird nach Regelschullehrplänen oder Adaptionen unterrichtet, um die Anschlussfähigkeit zu wahren. Darüber hinaus soll die Beschulungsfähigkeit bei Leistungs- und Schulverweigerung angebahnt bzw. wiederhergestellt werden. Emotional-soziale Ziele sind die Entwicklung von Ich-Stärke, Selbstwirksamkeitserleben, die angemessene Selbsteinschätzung eigener Potentiale, die Bewältigung subjektiv schwieriger Situationen, die Stärkung des Empathieempfindens, der Motivation und der Leistungsbereitschaft. Der Großteil der Schulen für Erziehungshilfe existiert als Halbtagsschule mit Klassen um die zwölf Schülerinnen und Schüler. Manche Bundesländer führen Spezial- oder Kleinklassen an Regelschulen. Zudem existieren noch einige wenige Heimschulen. Die Schulen haben ihre mobilen und beraterischen Hilfen ausgebaut. Formen integrativer und kooperativer Beschulung werden bisweilen erprobt. Zudem gibt es Schulen für Erziehungshilfe ohne Schülerschaft, deren Lehrkräfte „nur“ ambulant an Regelschulen arbeiten. Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche werden nicht nur in diesen speziellen Schulen beschult, sondern auch in Regelschulen, in anderen Förderschularten, an (einigen wenigen) Berufsschulen speziell für verhaltensauffällige junge Erwachsene, in Schulen an Kinder- und Jugendpsychiatrien (Schulen für Kranke) und in Einrichtungen des Strafvollzugs.

Seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahr 1990 spielen die in diesem Rahmen eingerichteten Hilfen zur Erziehung auch für sonderpädagogische sowie für schulische Kontexte eine bedeutsame Rolle. Nahezu alle Kinder und Jugendlichen, die eine Schule für Erziehungshilfe besuchen, erhalten zusätzlich Hilfen zur Erziehung, um eine ganztägige und nachhaltige Versorgung zu gewährleisten. Neben der Stärkung des Elternwillens ist es Ziel des Gesetzes, ein gestaffeltes System von Maßnahmeangeboten zur außerschulischen Erziehungshilfe mit stark präventiven Anteilen vorzuhalten. Die Hilfen zur Erziehung sind in Form familienunterstützender, -ergänzender sowie -ersetzender Maßnahmen gestaffelt. Im Rahmen dieser drei Gruppen sind spezifische Maßnahmen vorgesehen, wobei sich Art und Umfang der Hilfe konkret am Einzelfall orientieren. Die Ausrichtung dieser Maßnahmen ist familien-, gruppen- oder auch einzelorientiert: Erziehungsberatung, Soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistand und Betreuungshelfer, Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehung in einer Tagesgruppe, Vollzeitpflege, Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen sowie intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung.