Auf dem Weg in ein neues Leben

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Auf dem Weg in ein neues Leben
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Thomas Löffler

AUF DEM WEG IN EIN NEUES LEBEN

Als blinder Mann in der DDR

Engelsdorfer Verlag

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Örtlichkeiten und Personennamen wurde verfremdet. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen wären also rein zufällig und unbeabsichtigt.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

ISBN 9783957444851

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Erster Teil – Auf der Suche nach sich selbst

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Zweiter Teil – Der Gejagte

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Dritter Teil – Der Weg zum Ziel

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Lesen Sie außerdem

Vorwort

Der vorliegende Roman ist die Fortsetzung von „Heimatlos – doch von Liebe getragen“, die Erzählung eines blinden Jungen aus der DDR, ein Roman mit autobiografischen Zügen.

Meike und Uwe, zwei Jugendfreunde aus einem Blindeninternat, die aufgrund der politischen Verhältnisse und der Flucht Meikes in den Westen getrennt wurden, durchleben, jeder für sich, eine Zeit voller Widersprüchlichkeiten und Anfechtungen. Die Hoffnung, eines Tages wieder vereint zu sein, wird zu einem ungeduldigen Warten, bis sich endlich eine Möglichkeit auftut, zu einem gemeinsamen Leben aufzubrechen, in dem Staatsgrenzen keine Rolle mehr spielen.

Erster Teil – Auf der Suche nach sich selbst
Kapitel 1

Nebelschwaden zogen durch die Dorfstraßen. Uwe saß auf einem Fenstersims an der Bushaltestelle. Neben ihm auf dem Gehweg stand der schwere Werkzeugkoffer. Er hasste dieses graue Wetter. Überhaupt sollte man bei dieser Witterung im Bett bleiben und den Tag verschlafen. Das Geschäft lief schlecht, und so war ihm jeder noch so kleine Auftrag wichtig. Sicher, er hatte gelernt, wie man Klaviere stimmte und Reparaturen an ihnen ausführte. Wie man für sich warb und sich verkaufte, hatte ihm jedoch niemand beigebracht. Hausmusik war in dieser Gegend nicht zu Hause.

Die Haltestelle füllte sich mit Menschen. Früh am Morgen waren die Busse meist viel zu voll. Viele Fahrgäste fuhren zum Schichtbeginn in die umliegenden Betriebe. An diesem Morgen warteten sie vergebens auf ihren Bus, was bei den meist veralteten Fahrzeugen kein Wunder war. Motor-sowie Reifenschäden waren häufig der Grund für Verspätungen oder gar Ausfälle.

Uwe rutschte vom Sims, griff nach seinem Werkzeugkoffer und löste sich aus der Menschenmenge. Langsam überquerte er die Straße und blieb unschlüssig auf dem gegenüberliegenden Fußweg stehen. Er brauchte den Auftrag. Wenn ihm dieser durch die Lappen ging, verlor der frischgebackene Klavierstimmer vielleicht über Jahre einen Kunden.

In der Nähe der Bushaltestelle stand eine Telefonzelle. Ein Versuch war es wert. Uwe öffnete seinen Werkzeugkoffer und zog die Karteikarte des heutigen Kunden heraus. Auf ihr waren, neben anderen Daten, auch die Telefonnummer und die Adresse vermerkt. Bei der Zelle angekommen, musste er feststellen, dass andere auf den Bus Wartende den gleichen Gedanken gehabt hatten. Klar, für jeden Schichtleiter war es ärgerlich, wenn seine Mitarbeiter nicht rechtzeitig zur Arbeit erschienen. Ob wegen eines defekten Verkehrsmittels oder weil jemand verschlief.

Nach einer Weile war Uwe dran. Er betrat die Telefonzelle und wählte die Nummer.

Nach einigen Rufzeichen meldete sich eine schläfrige Frauenstimme. „Ja, bitte?“

„Jäger. Guten Morgen.“

„Guten Morgen“, kam es verschlafen zurück.

„Ich bin Ihr Klavierstimmer und heute um 8:30 Uhr bei Ihnen angemeldet.“

Zunächst war es still in der Leitung. Dann hörte Uwe ein Kratzen, gefolgt von Zischen und Pfeifen. Die Deutsche Post sollte dieser Dame ein neues Telefon verpassen, dachte er.

„Es tut mir leid“, kam es endlich aus dem Hörer, „ich habe Sie ganz vergessen.“

Uwe atmete auf. Wieder mal Schwein gehabt! Trotzdem, Auftrag war Auftrag. „Wir hatten ausgemacht, dass Sie mich an der Bushaltestelle abholen würden.“

Wieder war es ruhig. Langsam wurde der Klavierstimmer ungeduldig. Es war immer dasselbe mit den Kunden.

„Sicher hole ich Sie ab“, versprach die Dame, die jetzt spürbar munter wurde.

„Ich kann allerdings nicht zur vereinbarten Zeit bei Ihnen sein“, erklärte Uwe. „Der Bus ist ausgefallen. Der nächste wäre etwa ...“ Schnell wälzte er im Kopf alle Bus- und Zugverbindungen. „Gegen 9:00 Uhr kommt der nächste Bus bei Ihnen an.“

„Das ist mir sehr lieb. Ich habe unsere Verabredung ehrlich gesagt verschlafen.“

Uwe dachte sich seinen Teil. Eine Stunde auf den nächsten Bus zu warten, war auch nicht gerade prickelnd. Vielleicht hatte die Dame ja auch morgen Zeit.

Prompt fragte sie: „Passt es Ihnen auch an einem anderen Tag?“

„Bestimmt.“ Bingo! Schnell überschlug Uwe seine Termine. „Wie wäre es mit morgen? Dieselbe Zeit wie heute?“

Wieder war es still.

Das dritte Markstück wanderte in den Schlitz. Die Kosten für das Telefonat würde er der Kundin in Rechnung stellen.

„Frau ...“ Wie hieß sie noch? Hektisch las Uwe den Namen von der Karte ab. „Frau Janek, ich stehe in einer Telefonzelle. Draußen warten einige andere, die auch telefonieren müssen.“ Wie zur Bestätigung klopfte jemand an die Glastür.

„Morgen könnte es gehen“, bestätigte Frau Janek endlich. „Ich hole Sie am Bus ab.“

„Sehr schön. Wir treffen uns also morgen.“ Der Klavierstimmer hängte den Hörer in die Gabel und verließ erleichtert die Telefonzelle.

Langsam lichtete sich der Nebel und die ersten Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg durch die Bäume. Im Grunde war Uwe der Aufschub recht. In der Werkstatt wartete eine Mechanik auf ihre Reparatur. Diese Seite seines Handwerks fiel ihm leichter. Zu Hause angekommen legte er die Kundenkarte in den Karteikasten zurück und ging in die Werkstatt. Als Werkbank diente ihm ein alter Ladentisch aus einer Verkaufsstelle. Daneben bildeten ein alter Küchenschrank für die Lagerung von Werkzeugen und andere Schränke für Materialien verschiedener Art das Mobiliar. Die Klaviermechanik, für Laien ein Wirrwarr beweglicher Teile, thronte, von Schraubzwingen gehalten, auf der Werkbank. Es war nicht viel an ihr zu tun. Uwe würde sie bald repariert haben.

 

Während der Leimkocher heiß wurde, saß Uwe nachdenklich auf einem wackligen Stuhl. In dieser Umgebung, die geprägt war von dem Geruch aus Heißleim und Holz, fühlte er sich heimisch. Oft dachte er, wenn er hier seine Arbeitszeit verbrachte, an die Zeit während der Berufsausbildung zurück.

Und schon waren seine Gedanken bei Meike. Sie war seine Freundin. Seit der achten Klasse waren sie miteinander gegangen, bis Meike zum Ende der Ausbildung wegen ihrer Teilnahme an der Friedensbewegung vor der Staatssicherheit in die Bundesrepublik flüchten musste. Lächelnd erinnerte sich der jetzt Zwanzigjährige an die konspirativen Treffen und Gespräche in einem Ausstellungsraum für den Biologieunterricht, in dem sie von ausgestopften Tieren umgeben gewesen waren. Und er erinnerte sich an die Trauer, die ihn nach Meikes Flucht nicht losgelassen hatte. Auch heute noch war er allein. Meikes Versprechen, dass sie auf ihn, ihren Jugendfreund, warten würde, war für ihn Verpflichtung und nährte die ständige Hoffnung auf ein Wiedersehen. Über verschlungene Kanäle hielt der junge Mann die Verbindung zu Meike aufrecht. Sie wohnte, so hatte er vor Kurzem erfahren, in einer kleinen Wohnung in Westberlin. Lange Zeit war sie arbeitslos gewesen, bis eine Firma sie als Schreibtechnikerin einstellte. Das junge Paar sann geduldig auf eine Möglichkeit, sich wiederzusehen.

Das Geräusch des siedenden Wassers im Leimtopf holte Uwe in die Wirklichkeit zurück. Es galt, drei zerbrochene Hammerstiele durch neue zu ersetzen. Für diese Arbeit war Feingefühl oberstes Gebot. Gerade wollte er das Ende eines Holzstabes mittels eines Pinsels mit Leim bestreichen, als das Wandtelefon klingelte. Fluchend legte Uwe den Pinsel beiseite und verringerte die Wärmezufuhr des Leimtopfes.

„Jäger“, meldete er sich missgestimmt.

„Hallo Uwe. Hier ist Dieter. Störe ich gerade?“

„Ehrlich gesagt ja. Der Leimkocher ist heiß. Wenn ich nicht aufpasse, brennt mir der Leim an.“

„Es dauert nicht lange“, beschwichtigte Dieter seinen Freund.

Uwe schaltete den Kocher ab und setzte sich auf die Kante seiner Werkbank. „Na, dann schieß los.“ In seinem Inneren wusste er, dass es ein längeres Gespräch werden konnte.

„Kannst du heute Abend mit zur Bandprobe kommen?“, eröffnete Dieter das Gespräch.

„Braucht ihr die Technik?“

„Heute findet die Generalprobe für Sonntag statt. Du solltest als Techniker schon dabei sein.“

„Das ist selbstverständlich. Wann fangt ihr an?“

„Um 19:00 Uhr.“

Uwe überlegte. Er musste in zwei Stunden bei einem Kunden im Nachbardorf sein. Diese Arbeit durfte er nicht aufschieben. „Ich versuche, zur rechten Zeit bei euch zu sein. Ich habe vorher noch einen äußerst wichtigen Auftrag. Den Kunden darf ich auf keinen Fall vertagen.“

„Versuche bitte pünktlich zu sein. Wir brauchen dich.“

Uwe grinste. „Ihr braucht doch wohl eher die Technik als mich! Ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Die Mechanik soll so bald wie möglich fertig sein.“

„Alles klar“, antwortete Dieter. „Ich habe auch noch etwas zu tun.“

Aufatmend legte Uwe den Hörer auf die Gabel und wandte sich seiner Arbeit zu. Ärgerlich registrierte er, dass der Heißleim wieder hart und der Stiel unbrauchbar war. Uwe legte die Utensilien beiseite und verließ die Werkstatt.

Kapitel 2

In seiner Wohnung setzte sich der Klavierstimmer an den Schreibtisch und nahm sich einige Kundenkarten der nächsten Tage vor. Murrend registrierte er, dass bei dem Klavier von Frau Hegemann neben der eigentlichen Stimmung zwei Saiten aufgesetzt werden mussten. Eine Basssaite hatte er in der letzten Woche bei der Spinnerei bestellt. Uwe griff nach seinem Telefonbuch und suchte die Nummer der Klavierfabrik heraus. Denen wollte er Dampf machen. Nach einigen Rufzeichen meldete sich die Telefonzentrale der Fabrik.

„Bitte verbinden Sie mich mit der Spinnerei“, bat Uwe die Telefonistin.

„Lehmann“, meldete sich nach langem Warten eine tiefe Stimme.

„Hier ist Jäger in Niederschönach. Ich habe bei Ihnen vor drei Wochen eine Basssaite bestellt. Als Muster habe ich Ihnen die gerissene Saite geschickt. Können Sie mir sagen, wann ich mit der Lieferung rechnen kann?“

„Der Auftrag liegt noch in der Spinnerei“, antwortete der Kollege.

„Seit drei Wochen?“

„Sie sind nicht unser einziger Kunde.“

Seinen Unmut zurückhaltend fragte Uwe: „Was sage ich meiner Kundin, wenn ich ohne ihre Basssaite aufkreuze?“

„Das ist Ihr Problem. Wir schicken die Ware morgen raus.“

Ohne ein weiteres Wort legte Uwe den Hörer auf, spannte die Karteikarte von Frau Hegemann in seine Blindenschriftmaschine und schrieb eine Notiz. Zur Not muss ich der Kundin einen neuen Termin geben, dachte er. Aber das hat noch Zeit. Der Termin ist erst übermorgen. Heute habe ich nur eine normale Stimmung zu machen.

In Uwes Gedanken hinein klingelte das Telefon.

„Jäger.“

„Hier ist Wolfgang.“

„Hallo Wolfgang. Was gibt es? Ich habe zu tun.“

„Es geht um die Freizeit.“

„Welche Freizeit meinst du? Ich nehme an mehreren teil.“

Der Gesprächspartner überging die Frage und sagte: „Darf ich dich in den nächsten Tagen einmal besuchen?“

„Kommt auf den Zeitpunkt an.“

„So schnell wie möglich.“

Uwe zog den Terminkalender zu sich heran und blätterte die nächsten Termine durch. „Morgen Nachmittag hätte ich Zeit. Dann erst wieder am Wochenende.“

„Mir wäre es lieb, wenn wir uns morgen treffen“, antwortete Wolfgang.

„Um 17:00 Uhr“, schlug Uwe vor.

„In Ordnung. Ich bin pünktlich bei dir.“ Wolfgang unterbrach die Verbindung.

Nachdenklich hielt Uwe den Hörer in der Hand. Welche Freizeit hatte Wolfgang gemeint? Der Jugendwart lud Uwe oft zu Wochenendfreizeiten ein. Es gab aber auch zwei größere Freizeiten – eine in Berlin, und die andere ... Uwe lief ein Schauer über den Rücken. Sollte es um die Berliner Freizeit gehen? Bei dieser handelte es sich um ein Ost-West-Treffen.

Kapitel 3

Hastig zog Uwe eine Schublade seines Schreibtisches auf und entnahm ihr ein Bündel Briefe. Alle trugen eine Potsdamer Adresse als Absender. Nur ein Brief – der zuunterst liegende – trug weder Absende-noch Empfängeradresse. Uwe hatte ihn in der Vergangenheit immer und immer wieder gelesen. Dieser Brief gab ihm Hoffnung. Auch jetzt legte er das Blatt Papier vor sich auf die Schreibtischplatte. Durch das viele Lesen waren die Punkte stark abgegriffen.

Liebster Uwe, wenn du diesen Brief in deinen Händen hältst, ist meine Flucht gelungen und ich bin in Sicherheit. Bitte habe Vertrauen zu mir und lasse dich nicht zu Impulsivhandungen hinreißen. Beende in Ruhe deine Ausbildung, damit du, wo auch immer, einen guten Start hast. Bitte vertraue mir. Ich warte auf dich, und wenn es Jahre dauert. Sei bis dahin behütet und getröstet.

Deine Meike.

Uwe stützte das Kinn auf seine Hände und verfiel in Erinnerungen. Vor seinem inneren Auge erschien eine Bank, umgeben von Büschen und Kastanienbäumen. Dies war sein Rückzugsort gewesen, wenn er die Einsamkeit gesucht hatte. Nur seine Freundin Meike kannte diesen Platz und hatte ihn oft mit ihrem Jugendfreund geteilt. Die Szene wechselte. Uwe sah sich in einem Raum, gefüllt mit ausgestopften Tieren für den Biologieunterricht. Herr Steinert, Uwes ehemaliger Klassenlehrer, gab ihm einen Brief von Meike – den ersten von vielen. Langsam kehrten die Gedanken des jungen Mannes in die Gegenwart zurück. Vorsichtig steckte er den Brief zurück ins Bündel und zog wahllos einen anderen heraus. Seit Uwe und Meike im Briefwechsel standen, verwendete seine Freundin vorsichtshalber eine andere Anrede. So hieß Uwe in den Briefen Peter, und Meike nannte sich Karin. Für den Schriftwechsel benutzten beide eine Deckadresse in Potsdam.

Lieber Peter, ich habe es geschafft. Vorige Woche bekam ich vom Arbeitsamt die Nachricht, dass in einem kleinen Betrieb eine Stelle für eine Schreibkraft frei wird. Ich bewarb mich sofort und wurde angenommen. Nun werde ich auch bald genug Geld haben, um mir eine bessere Wohnung leisten zu können. Meine Kollegen sind sehr nett zu mir.

Lieben Gruß

Karin

Uwes Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es höchste Zeit war, sich auf seinen nächsten Kunden vorzubereiten. Schnell schob er den Brief ins Bündel zurück und zog den Karteikasten zu sich heran. Die Eintragungen für die heutige Kundschaft betrafen nur eine einfache Stimmung. Dafür reichte das Grundwerkzeug. Uwe brauchte sich daher nicht erst mit dem Zusammensuchen von Material und Spezialwerkzeug aufzuhalten. Bis zur Bandprobe würde er es trotzdem kaum schaffen. Der Klavierstimmer schob die Karteikarte des Kunden in die Außenseite des Werkzeugkoffers. Pfeifend verließ er die kleine Wohnung und lenkte seine Schritte Richtung Bahnhof. Die Eisenbahn war, außer in den Wintermonaten, zuverlässiger als Busse. Kurz darauf durchschritt Uwe die Bahnhofshalle und stand schließlich auf dem Bahnsteig.

„Hallo Uwe.“

Der Angesprochene drehte sich zur Seite. Er erkannte die Stimme von Rico, dem Leiter der jungen Gemeinde.

„Hast du in den nächsten Tagen etwas Zeit?“

Uwe überlegte. Am nächsten Vormittag hatte er den Termin mit Frau Janek, die eigentlich heute dran gewesen wäre. Nachmittags wollte er die Mechanik fertig machen. Dann kam auch noch Wolfgang. Schließlich entschied er: „Morgen Abend ab 18:00 Uhr ist es möglich.“

Rico zog seinen Terminkalender zu Rate. „Da kann ich auch.“

Uwe hörte das Signal einer sich in Bahnhofsnähe schließenden Schranke. „Um was geht es denn?“

„Wir müssen über Berlin nachdenken.“

Uwe fiel das Telefonat mit Wolfgang ein und er erzählte Rico davon. „Eigentlich passt mir der Termin mit Wolfgang gar nicht“, schimpfte er. „Wenn morgen die Reparatur nicht fertig wird, steigt mir mein Kunde aufs Dach.“

„Du kannst doch das Gespräch auf 18:00 Uhr verschieben“, schlug Rico vor. „Dann kann ich gleich dabei sein. Ich weiß zwar nicht, um was es bei Wolfgang geht, kann mir aber vorstellen, dass er ein ähnliches Anliegen hat wie ich.“

Von ferne hörte Uwe den Zug, der sich dem Bahnhof näherte. Er hob seinen Werkzeugkoffer auf. „Das ist keine schlechte Idee. Ich rufe ihn nachher von zu Hause aus an.“

„Soll ich dir beim Einsteigen helfen?“

Uwes Antwort ging im Quietschen des haltenden Zuges unter. Er brauchte nur eine Station zu fahren und blieb, nachdem er eingestiegen war, gleich am Ausstieg stehen.

Rico verabschiedete sich und verschwand im Abteil.

Kapitel 4

Eine halbe Stunde später stand der Klavierstimmer am Hauseingang und suchte das Klingelbrett. Er hasste diese Eingänge. Bei den neu gebauten Häusern fiel alles aus dem Rahmen. Selbst die Lage der Klingelknöpfe war nicht genormt. Zum Glück wusste Uwe die Etage, in der sein Kunde wohnte.

„Ja, bitte!“, ertönte, nachdem er endlich die richtige Klingel gefunden hatte, eine heisere Stimme aus einem verzerrt klingenden Lautsprecher.

„Der Klavierstimmer ist da.“

„Wer?“

„Ich bin Uwe Jäger und möchte Ihr Klavier stimmen. Wir hatten uns für heute verabredet.“

„Sind Sie wirklich der Klavierstimmer? Sie könnten auch ein Einbrecher sein.“

Uwe fluchte leise. Herr Weinreiter gehörte zu den anstrengenden Kunden. „Ja, ich bin es“, sagte er schließlich.

Ein Kollege hatte Uwe von Weinreiters Klavier erzählt. Demnach war es kein Instrument, sondern eine Krankheit. Es stand an einer kalten und nassen Außenwand, was dazu führte, dass die Stimmung nie lange hielt. Außerdem waren Stimmstock und Resonanzboden gerissen. Alles in allem ein Albtraum von einem Klavier. Ein Etwas aus Holz, Metallfedern und Stahlsaiten, dem man nach getaner Arbeit gern den Rücken kehrte.

 

Der elektrische Türöffner ertönte und die Glastür sprang auf. In der vierten Etage traf Uwe auf einen schmächtigen Mann, der die Mitte des Lebens schon weit überschritten hatte.

Uwe fragte: „Sie sind Herr Weinreiter?“

Die Frage überhörend, entgegnete der andere: „Sie sind Herr Jäger?“

„So ist es. Ich bin der, der Ihrem Klavier die richtigen Töne beibringen möchte.“

Wie ein Fels in der Brandung stand das alte Männlein im Türrahmen. Uwe dachte: Habe ich heute nur solche ausgebrannten Typen? Die eine verschläft den Termin und der andere lässt mich nicht an meinen Arbeitsplatz. Der Mann passt in diese Gegend wie ein Elefant auf den Nordpol.

Endlich trat Herr Weinreiter zur Seite und bedeutete Uwe, in die Wohnung zu kommen.

Dieser setzte einen Schritt über die Schwelle und stieß sich schmerzhaft an einem Schrank, der schräg in den Eingang ragte. Uwe rieb sich seine linke Seite.

„Oh, haben Sie sich wehgetan?“

„Nicht der Rede wert. Wenn Sie mir nun Ihr Klavier zeigen würden.“

„Es steht im Wohnzimmer. Ach ja, Sie sind ja blind. Ich führe Sie.“

Jetzt hat er es begriffen, dachte Uwe. Im Zimmer angekommen, geleitete Herr Weinreiter seinen Gast zu einem mit Kratzern übersäten Piano. Der Deckel hatte einen längs verlaufenden Riss und die linke Seite war durch die von der Wand kommenden Feuchtigkeit gequollen. Die linke vordere Rolle fehlte. Stattdessen hatte jemand ein Stück Holz unter das Instrument geschoben. Uwe stellte seinen Werkzeugkoffer ab, klappte den Deckel nach hinten und hob die Frontplatte aus dem Holzrahmen. „Auf diesem Klavier hat wohl schon Karl der Große gespielt?“ Uwe musste sich ein Grinsen verkneifen.

Der Besitzer verstand den Witz nicht. „Oh ja“, antwortete er stattdessen. „Mein Vater Karl spielte sehr gern darauf.“

„Soso, der Herr Papa also“, knurrte Uwe in sich hinein. Ist es also doch neuer, als ich dachte. Uwe zog sich den altersschwachen Klavierhocker heran und begann mit seiner Arbeit. Die Wirbel drehten sich viel zu leicht und jeder Ton wurde von einem Klirren begleitet, das von dem gerissenen Resonanzboden herzurühren schien.

Herr Weinreiter beobachtete jeden von Uwes Handgriffen interessiert. Als Uwe aufatmend den Stimmschlüssel vom letzten Wirbel zog, fragte der alte Mann: „Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“

„Nein danke. Ich muss noch zu einem anderen Kunden“, sagte Uwe. Diese Ausrede kam nicht zum ersten Mal über seine Lippen. Nur weg hier, dachte er.

„Für eine Tasse Kaffee ist immer Zeit“, entgegnete der Hausherr und führte Uwe zu einer Sitzecke. „Wissen Sie, ich spiele nicht auf diesem Klavier. Meine Frau war die Musikbegeisterte in der Familie.“

„War?“

„Sie ist vor einem halben Jahr gestorben.“

Uwe kannte das. Anderthalb bis zwei Stunden Klavier stimmen und anschließend mindestens zwei Stunden bei Kaffee und Kuchen Seelentröster sein. Er setzte sich in einen stark abgewetzten Sessel. „Das tut mir leid.“

Nach langem Schweigen fuhr Herr Weinreiter fort: „Sie wollte immer, dass ihr Klavier gut gestimmt ist. Sie spielte den ganzen Tag. Manchmal nervte mich das. Jetzt vermisse ich ihr Spiel.“

Uwe war nicht zum Seelentröster geboren. Und auf Probleme der Kunden, die niemanden zum Reden hatten, war er in der Ausbildung nicht vorbereitet worden. „War Ihre Frau Pianistin?“, fragte er.

„Nein. Das Klavierspielen war ihr Hobby. Sie möchte bestimmt, dass ihr Lieblingsinstrument auch heute noch gut gestimmt ist.“

Ein Glück, dachte der Klavierstimmer, habe ich nichts über die Sinnlosigkeit der Arbeit an diesem Kasten gesagt. Das Instrument ist Teil der Erinnerungen an seine Frau. Uwe dachte über den alten Mann nach. So abweisend, wie dieser ihn empfangen hatte, konnte er sich nicht vorstellen, was in ihm vorging. Sicher vermisste er seine Frau sehr. „Ich bin davon überzeugt, dass es Ihrer Frau gefallen würde, wenn sie jetzt vor einem gestimmten Klavier sitzen würde.“

Herr Weinreiter sah seinem Gast in die Augen. „Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?“

Uwe war diese Frage unangenehm. Dennoch antwortete er. „Ja, ich glaube daran.“

Eine Weile war es wieder still im Raum. Der Gastgeber stand auf, ging zum Klavier, schlug einen Ton an und flüsterte: „Ich glaube nicht nur an ein Leben nach dem Tod. Ich weiß, dass es eines gibt. Und ...“ Er unterbrach sich selbst, ging langsam zur Sitzecke zurück, legte seine schwielige Hand auf Uwes Schulter und sagte, jedes Wort betonend: „Ich bin fest davon überzeugt, dass meine Frau uns jetzt sieht.“

Uwe mochte dem alten Mann nicht sagen, dass niemand so etwas wissen konnte. Schließlich war noch kein Verstorbener zurückgekommen. Stattdessen entgegnete er: „Ganz bestimmt tut sie das.“

Der alte Mann nahm seine Hand von Uwes Schulter und setzte sich auf ein knarrendes Sofa. „Sie wollen jetzt bestimmt weiter. Ich möchte Sie nicht aufhalten.“ Lange war es still im Raum. Nur das Ticken einer großen Standuhr war zu vernehmen. „Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann. Nur ein Bild.“ Wieder stand er auf. Von einem Beistelltisch nahm er ein gerahmtes Foto und legte es Uwe in die Hand. „Schauen Sie ...“ Mitten im Satz hielt er inne. „Entschuldigen Sie! Sie können es ja gar nicht sehen. Das ist unser Hochzeitsbild. – Von der goldenen Hochzeit“, setzte er ergänzend hinzu und nahm Uwe das Bild wieder ab. Behutsam, als wäre es zerbrechlich, stellte Herr Weinreiter es auf den Tisch zurück und nahm stattdessen die dicke Kerze in die Hand, die ihren Platz neben dem Bild hatte. Dann setzte er sich wieder Uwe gegenüber.

„Auch mit Bildern kann man sich unterhalten“, sagte Uwe vorsichtig.

Versonnen erwiderte der Alte: „Ja. Und wenn man ganz still ist, hört man sogar eine Antwort.“

„Sind es Antworten, die Sie sich wünschen?“

Uwes Gegenüber lachte laut auf. „Nicht immer. Manchmal streiten wir uns auch.“ Er legte Uwe die Kerze in die Hand.

Dieser befühlte sie von allen Seiten und erkannte reliefartige Verzierungen.

Mit Stolz in der Stimme sagte Herr Weinreiter: „Meine Frau hat diese Kerze selbst beklebt.“

Uwe lächelte. „Ich muss jetzt wirklich aufbrechen“, erklärte er und gab seinem Kunden die Kerze zurück. „Rufen Sie mich an, wenn ich Ihr Klavier wieder stimmen soll. Ich komme gern.“

„Was bekommen Sie für Ihre Arbeit?“

Uwe winkte ab. Er konnte von diesem Mann kein Geld verlangen! „Wir regeln das beim nächsten Mal“, entgegnete er.

Später, im Zug, dachte er noch lange über den alten Herrn nach. Wie verbittert musste dieser sein, dass er am Anfang so ablehnend gegenüber Uwe gewesen war. Rührte vielleicht daher seine Einsamkeit?