Somatische Intelligenz

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Somatische Intelligenz
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Thomas Frankenbach

SOMATISCHE

INTELLIGENZ

Hören, was der Körper braucht


Wichtige Hinweise

Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden von Verfasser und Verlag sorgfältig erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Ebenso ist die Haftung des Verfassers bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.

Der leichteren Lesbarkeit zuliebe wurde meist auf die Doppelung männlicher und weiblicher Formen nach dem Muster »der … oder die …«, »er bzw. sie« usw. verzichtet. Selbstverständlich soll die übliche männliche Form den weiblichen Teil der Bevölkerung umfassen.

© 2014 KOHA-Verlag GmbH Burgrain

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Josef K. Pöllath

Layout: Birgit-Inga Weber

Gesamtherstellung: Karin Schnellbach

ISBN 978-3-86728-735-7

eBook-Herstellung und Auslieferung

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Gott sei Dank ist mein Körper manchmal vernünftiger als ich.

Anke Maggauer-Kirsche, deutsche Lyrikerin

Inhalt

1. Der Körper ist Wahrheit

2. Ist Naturkost wirklich ein uneingeschränktes Heilmittel?

3. Von der Naturkost zum Heilmittel – Geschichtliche Betrachtung

4. Somatische Intelligenz und Essen

5. Warum die Botschaft des Körpers oft überhört wird

6. Auf den Körper hören lernen

Übungsteil: In den Körper hineinspüren

7. Ein Ausblick – und ein Wort zum Schluss

1. DER KÖRPER IST WAHRHEIT

Seit sie schwanger ist, hat sich Beates Art zu essen stark verändert. Öfters ertappt sie sich dabei, Dinge zu essen, vor denen sie sich früher geekelt hätte. Jetzt isst sie sie mit Lust und Genuss. Und es bekommt ihr sogar.

Matthias hat den ganzen Tag noch nichts gegessen. Als er abends beim Sport schließlich in die Unterzuckerung rutscht, entwickelt er zuerst schlechte Laune und dann Heißhunger auf Süßes.

Markus hat sich gerade mit Schokolade überfressen. Würden wir jetzt messen, wäre sein Blutzucker deutlich erhöht. Binnen weniger Minuten stellen sich bei ihm Unlust auf Süßes, Sodbrennen und innere Unruhe ein.

Signale des Körpers

Alle drei Beispiele beschreiben die besondere Fähigkeit unseres Körpers, uns über Signale der Bekömmlichkeit, aber auch anhand von Lust oder Abneigung zu zeigen, was er gerade braucht, was nicht, und was vielleicht sogar schädlich sein könnte. Die Rede ist von Somatischer Intelligenz. Jeder Mensch hat sie. Nicht jeder nutzt sie gleich gut. Doch wir können trainieren, sie besser wahrzunehmen.

Sex, Aggression und Essen

Es sind vor allem diese drei Triebe, die große Teile unserer Lebensweise bestimmen. Nicht nur, weil sie uns zu Lust und Wohlbefinden verhelfen können, sondern auch, weil sie von Beginn an zur Arterhaltung der Spezies Mensch beigetragen haben.

Leicht entsteht der Eindruck, Sex und Aggression (die sich seltener in Gewalt, dafür umso mehr in unserem Drang ausdrückt, uns und die Welt zu bewegen; lat. aggredi, dt. heranschreiten, sich nähern) müssten die beiden dominierenderen Triebe des Menschen sein. Neben ihnen wird unser Nahrungstrieb gemeinhin erst einmal als unscheinbar und eher zweitrangig begriffen.

Betrachten wir allerdings die Evolution, zeigt sich, dass das Bestreben, Nahrung aufzunehmen, offenbar schon lang vor Sexualität, Paarung und geschlechtlicher Vermehrung das Zentralthema aller Lebewesen war.

Zuerst das Fressen, dann …

Einzeller waren die ersten Lebewesen auf der Erde. Kleinste Lebewesen, die aus nur einer einzigen Zelle bestanden. Sex hatten sie keinen, da sie sich durch Zellteilung vermehrten. Die Fähigkeit, sich aus eigenen Stücken zu bewegen, war bei ihnen nur sehr beschränkt vorhanden. Doch alle waren von Beginn an Experten darin, zu fressen, was sie konnten. Anders ausgedrückt: Der zentrale Trieb aller Lebewesen war weder aktive Fortbewegung noch Sex, sondern die Fähigkeit, Nahrung in Lebensenergie umzuwandeln. Denn ohne Nahrung keine Energie, weder zum Überleben noch für Evolution, Bewegung oder Sex.

Somatische Intelligenz: eine Urform von Intelligenz

Es gibt viele Formen von Intelligenz: rationale, kreative und räumliche Intelligenz. Weitaus älter ist jedoch die Somatische Intelligenz. Und obwohl sie so essenziell ist, ist sie in unserer Kultur doch eine der am wenigsten beachteten Formen von Intelligenz.

Stellen wir uns vor, wir befänden uns in unserer Entwicklung noch weit vor dem Stadium eines Wurms. Wir hätten weder ein Emotionszentrum noch ein zur Ratio fähiges Großhirn. Welche Fähigkeiten wären in diesem Fall essenziell, um zu überleben? Wir müssten zum einen auf Veränderungen in unserer Umwelt reagieren. Und zum anderen müssten wir anhand der Wirkung unserer Nahrung auf unseren Körper spüren können, ob diese Nahrung bekömmlich ist oder nicht. Und diese beiden Fähigkeiten müssten unbewusst ablaufen, da wir ja noch kein Bewusstsein haben.

Unser Nahrungstrieb – eine Naturgewalt

Wenn wir von einem Trieb sprechen, dann sprechen wir letztlich von einer Naturgewalt, die versucht, ihrem Besitzer sein Überleben und seinen Fortbestand zu sichern. Vermutlich ist das auch ein Grund, warum sich dieser Trieb auf Dauer nicht mit Diäten zügeln und einschränken lässt.

Gerade den Nahrungstrieb gab es schon vor dem Gehirn und dem Bewusstsein. Und auch Milliarden Jahre später, als bereits weit differenziertere Spezies auf der Erde lebten und lang bevor sich Ratio und Verstand entwickelten, verfügten Wirbeltiere schon über eine spezielle Form von Intelligenz, dank der sie sich auch ohne kognitives Ernährungswissen in einer oft bedrohlichen Natur voller Fallen und Giften so ernähren konnten, dass sie nicht nur überlebten, sondern sich sogar weiterentwickelten. Intelligente Nahrungsselektion war folglich bereits in Zeitaltern möglich, in denen es weder Ernährungsberatung noch Diätbücher oder -kurse gab. Getrieben von einer Instanz, die wir uns zwar bewusst machen können, die aber weit älter, archaischer ist als unser Bewusstsein. Zwar sind Menschen, verglichen mit Tieren, viel weniger instinktgetrieben. Dennoch gibt uns unser Körper noch immer Signale – die wir allerdings wieder wahrnehmen lernen müssen.

Somatische Intelligenz – noch immer vorhanden

Auf unserem heutigen Entwicklungsstand, ausgestattet mit Emotionen und Bewusstsein, hängt die Frage, was wir essen, von weit komplexeren Einflüssen ab als bei unseren Vorfahren. Ob wir etwas gern essen, ist heute vorwiegend kulturell geprägt: von unserer Bildung, vom Angebot und von unseren Moralvorstellungen. Doch wie vor Jahrmillionen steckt auch heute noch eine Urfähigkeit hinter unseren Abneigungen und Gelüsten und vor allem auch hinter der Frage, wie uns das bekommt, was wir essen. Wir nennen das die Somatische Intelligenz. Noch immer kann sie uns helfen, Nahrung auszusuchen, die den Anforderungen unserer Genetik, unserer Konstitution und unserer Lebenssituation entspricht. Und je mehr wir auf unsere Somatische Intelligenz achten, desto mehr erfahren wir durch sie. Denn unsere Essbedürfnisse sind verschieden, weil jeder Mensch anders ist. Was dem einen ein angenehmes Bauchgefühl beschert, muss dem anderen noch längst nicht gut bekommen. Was dem einen hilft, kann dem anderen sogar schaden.

Verständnis und Achtsamkeit entwickeln

In diesem Buch erfahren Sie, weshalb nicht jede Kost für jeden Menschen gut sein muss. Weder Natur- noch Fertigkost.

Wir werden uns den geschichtlichen Gründen zuwenden, die vor allem in Deutschland den Glauben an die Naturkost als Heilmittel überhaupt erst möglich gemacht haben, und der Frage, wie modernes Food-Design die Somatische Intelligenz beeinflusst.

Wir werden ergründen, wie es kommt, dass die Intelligenz des Körpers so oft überhört wird.

Und schließlich erfahren Sie im praktischen Teil dieses Buches, wie Sie lernen können, den Signalen Ihres Körpers mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Das dürfen Sie erwarten

Werden Sie ab- oder zunehmen, wenn Sie Ihrer Somatischen Intelligenz mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen?

Viele Menschen, mit denen ich in mittlerweile über 15 Jahren klinischer Praxis gearbeitet habe, konnten damit ihre Ernährungsgewohnheiten harmonisieren und ihr Körpergewicht normalisieren: ganz ohne Diätpläne, ohne Kalorienzählen und ohne den Zwang, Kostregeln einhalten zu müssen. Einfach, indem sie gelernt haben, den Signalen ihres Körpers mehr Beachtung zu schenken.

Allerdings könnte sich bei Ihnen noch etwas viel Wichtigeres weiterentwickeln: nämlich die Art, wie Sie mit sich selbst umgehen. Wie Sie Ihre Belange wahrnehmen und wie Sie für sich selbst Verantwortung übernehmen können. Ganz ohne Zwang und ohne Überwindung.

Denn das, was Sie essen, wenn Sie auf die Signale Ihres Körpers hören, wird Ihnen besser bekommen und somit den Bedürfnissen Ihres Körpers besser entsprechen. Und wenn Sie ein Gespür dafür entwickeln, worauf Ihr Körper in welcher Weise reagiert, verbessern Sie gleichzeitig das Bewusstsein für sich selbst und sorgen damit im wörtlichen Sinne für ein umfassendes Selbstbewusstsein.

 

Der Körper ist Wahrheit. Wenn wir lernen, auf ihn zu hören, verstehen wir, was er braucht.

Durch die Schwangerschaft hat sich Beates Stoffwechselsituation deutlich verändert und zugleich ihr Bedarf an Nährstoffen, um die optimale Entwicklung ihres Kindes sicherzustellen. Um nun also in Ernährungsdingen zu bekommen, was nötig ist, agieren die hierfür verantwortlichen Steuerinstanzen in Beates Organismus mit einer neuen Form von Appetitschema, das in direkter Folge zu einer Änderung ihres Essverhaltens führt.

Da Matthias heute zwar den ganzen Tag geistig und körperlich gearbeitet, vor lauter Stress dabei aber das Essen vergessen hat, hat er im Lauf des Tages seine Zuckerdepots in Muskeln und Leber weitestgehend aufgebraucht. Beim Sport gerät er dadurch in einen relativen Mangel an Blutzucker. Dadurch setzen bei ihm zwei natürliche Mechanismen ein, die nur ein Ziel verfolgen: das Überleben zu sichern.

Erstens beginnt sich so seine Laune zu verschlechtern. Stammesgeschichtlich begründet, könnte man sagen, dass Matthias’ Aggressivität und »Jagdbereitschaft« auf diese Weise eine Verstärkung erfährt und sich so die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass er etwas Essbares herbeischafft.

Zweitens versuchen die hierfür zuständigen Instanzen in Matthias’ Körper, ihm möglichst genau anzuzeigen, welche Nährstoffe zunächst am hilfreichsten wären, um seinen Blutzuckerspiegel wieder zu harmonisieren und seine Zuckerspeicher aufzufüllen. Und so entwickelt Matthias nun einen ausgeprägten Süßhunger, der die Aufnahme von zuckerhaltiger Nahrung fördern soll.

Im Falle von Markus können wir quasi die entgegengesetzte Situation beobachten. Die unangemessene, übermäßige Zuckerzufuhr stört durch die Erhöhung des Blutzuckerspiegels die Stoffwechsellage. Der Organismus versucht nun, durch Nervenreaktionen wie Abneigung gegenüber Süßem, Übelkeit und innere Unruhe eine weitere Zuckerzufuhr eindringlich zu verhindern.

In den beiden letzteren Fällen vernehmen unsere Hauptpersonen zwar deutlich die Signale ihres Körpers. Zuvor haben sie jedoch eben diese Signale erst einmal nicht beachtet: Matthias hat den Hungersignalen seines Körpers über den Tag hinweg keine Beachtung geschenkt, und Markus hat viel mehr Süßes gegessen, als sein Körper eigentlich verlangt hat. Nur deshalb konnte es zu den noch deutlicheren Symptomen kommen, die in den jeweiligen Beispielen beschrieben werden.

2. IST NATURKOST WIRKLICH EIN UNEINGESCHRÄNKTES HEILMITTEL?

Auch wenn es angesichts einer oft uneingeschränkten und undifferenzierten Anpreisung von Natur- und Vollwertkost in den vergangenen drei Jahrzehnten so manchem unglaublich erscheinen mag: Nicht für jeden ist Naturkost vorbehaltlos zu empfehlen.

Obgleich Vollwertkost und ein höherer Anteil an gering verarbeiteter Nahrung unzähligen Menschen geholfen hat, ihren Gesundheitszustand und ihr Wohlbefinden zu verbessern, lässt sich die Idee der Naturkost als Heilkost nicht auf alle Menschen in ein und derselben Weise übertragen. Denn je nach individueller Konstitution und Lebenssituation kann Naturkost gesundheitliche Probleme verursachen. Und diese müssen nicht einmal von Agrarpestiziden ausgehen. Auch ganz natürliche Inhaltsstoffe von Früchten können dafür verantwortlich sein.

Ließen sich solche negativen Wirkungen womöglich vermeiden, wenn wir über die allgegenwärtigen Ernährungsempfehlungen hinaus den Signalen des Körpers größere Beachtung beimessen würden, etwa durch eine gezielte Verbesserung unseres Körper- und Bauchgefühls?

Naturkost – nicht immer die beste Kost

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum bei uns Vollkorn als das gesündeste Brot gehandelt wird, während es in vielen anderen Ländern so gut wie keine Beachtung findet? Und weshalb gilt es bei uns als besonders gesund, sich vegetarisch zu ernähren, während der Vegetarismus in so vielen anderen Ländern und naturverbundeneren Kulturen, selbst zum Gebrauch als kurzfristige Heilnahrung, praktisch so gut wie keine Rolle spielt? Und warum wird immer wieder die pauschale Empfehlung gegeben, Äpfel aus Gesundheitsgründen mit Schale zu essen, obwohl sie manchen Menschen ohne Schale viel besser bekommen würden?

Nicht jeder braucht das Gleiche

Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit Ihrem Auto nach einer längeren Fahrt an eine Tankstelle. Die Zapfsäule bietet Diesel, Super, ein neues, für den Motor noch besseres Super und Erdgas. Welche Zapfpistole würden Sie, in der Absicht, das Bestmögliche für Ihr Auto zu tun, in die Hand nehmen? Mit Sicherheit würden Sie die Entscheidung davon abhängig machen, welchen Motor Ihr Auto hat.

Zwar sind alle an der Tankstelle angebotenen Kraftstoffe für Verbrennungsmotoren geeignet, doch gibt es je nach Beschaffenheit des Motors Unterschiede in seinen »Kraftstoffbedürfnissen«. Deshalb würden Sie vermutlich nicht auf die Idee kommen, die höchste, besonders motorverträgliche Qualitätsstufe Super zu tanken, obwohl Sie einen Diesel fahren, oder Erdgas, wenn Ihr Motor Benzin braucht. Selbstverständlich lassen sich weder die Prinzipien noch die Effekte der Verbrennung in einem Motor auf die ungleich komplexeren Vorgänge beim Menschen übertragen. Doch können wir auch bei Menschen davon ausgehen, dass nicht jeder Körper die gleichen Bedürfnisse hat. Menschen unterscheiden sich voneinander, jeder ist anders: anatomisch, immunologisch sowie hinsichtlich seiner Nahrungsbedürfnisse. Zwar brauchen wir alle letztlich Nahrung, jedoch nicht in der gleichen Zusammensetzung und Beschaffenheit.

Betrachten wir hingegen die gängigen Ernährungsempfehlungen, so scheint offenbar bereits seit Jahrzehnten die Frage nach der optimalen Nährstoffform für den Menschen einheitlich geklärt: Vollkorngetreide ist der Gesundheit zuträglicher als Weißmehl; Obst und Gemüse sind per se Gesundheitskost; und je höher der Grad der Naturbelassenheit der Nahrung, desto besser ist sie.

Anders als bei der richtigen Treibstoffart für den jeweiligen Motor spielt in der Frage nach der passenden Energieversorgung für den Menschen die Beschaffenheit des individuellen Organismus bislang keine große Rolle. Von Mensch zu Mensch kann es jedoch ganz beträchtliche Unterschiede in den Nahrungsbedürfnissen geben. Und oft lassen sich die individuellen Ernährungsbedürfnisse von der betreffenden Person, ist sie erst einmal dafür sensibilisiert, sogar erspüren.

»Ein Apfel am Tag« und die möglichen Folgen

Schon seit Ende der 1970er-Jahre pflegt Herr Meier einen Lebensstil, den wir landläufig als ›gesund‹ bezeichnen würden: Er trinkt keinen Alkohol, treibt regelmäßig Sport und nimmt keinerlei Medikamente. Als Student kam Herr Meier mit der damals sich bildenden Ökologie- und Friedensbewegung in Kontakt, die ihn nachhaltig beeindruckte und zu einer Lebensweise inspirierte, die er im Großen und Ganzen bis heute beibehalten hat. Auch in Sachen Ernährung: Wenn machbar, bezieht Herr Meier sein Essen aus ökologischer Landwirtschaft. Er legt Wert auf wenig Fleisch, auf Vollkornbrot und Rohkost. Morgens gibt es Frischkornbrei oder Müsli. Äpfel isst er mehrmals täglich ungeschält, weil sich direkt unter der Schale angeblich die meisten Schutzstoffe wie Vitamine, Mineralien und sekundäre Pflanzenstoffe befinden.

Wegen eines umgeknickten Knöchels stattet Herr Meier seinem Hausarzt einen Besuch ab. Der Arzt macht, da Herr Meier schon einmal da ist, ein Blutbild, das ihm erhöhte Leberwerte attestiert, obwohl er weder Alkohol trinkt noch Medikamente nimmt. Ein erster Tastbefund wie auch die direkt folgende Ultraschalluntersuchung ergeben eine Vergrößerung der Leber, sodass der Hausarzt den Patienten zu einer Gewebsentnahme in die Uniklinik überweist. Dort diagnostiziert man eine Fettleber.

Über die Ursache herrscht Unklarheit, bis sich herausstellt, dass es sich bei dem in der Leber abgelagerten Fett um natürliches Apfelwachs handelt, dem Fett also, das die Apfelschale bildet. Es hat die Funktion, den Apfel vor Austrocknung und Aufweichung zu schützen.

Herr Meier, nach der Diagnose auf seine Ernährungsgewohnheiten angesprochen, berichtet von seiner vollwertorientierten Form der Ernährung und von seinem seit Jahrzehnten reichhaltigen Apfelkonsum. Auf die Frage, wie ihm denn in all den Jahren die ungeschälten Äpfel bekommen seien, erwähnt Herr Meier, die Äpfel hätten nach dem Essen »oft noch den ganzen Tag mit ihm gesprochen«; sie seien ihm – obgleich doch so »gesund« – oft ausgesprochen schlecht bekommen.

An diesem Punkt kommt Herrn Meier und den Ärzten ein Verdacht: Ist es möglich, dass Herrn Meiers Körper durch das Gefühl des Unwohlseins jahrzehntelang zu signalisieren versuchte, dass er die Äpfel mit Schale nicht möchte? Wenn ja, dann hätte sich Herr Meier jahrzehntelang über diese Botschaft seines Körpers hinweggesetzt.

Könnte es sein, dass wir mehr auf die permanente mediale Expertendominanz zum Thema Ernährung hören als auf unser Bauchgefühl, unsere innere Stimme in Sachen Nahrungsauswahl? Dass wir die Signale unseres Körpers einfach ignorieren?

Lassen Sie uns, um eine Antwort zu finden, einen gedanklichen Sprung machen in die Jugendzeit unserer Groß- und Urgroßeltern, in eine Zeit, die zumindest auf dem Land noch nicht durchdrungen war von permanenter Ernährungsaufklärung und einem riesigen Markt für Gesundheitsprodukte und -ratgeber.

Damals, 1906, wurde in einem Dorf im Taunus mein Großvater August Frankenbach als eines von elf Geschwistern geboren. Sein Vater hatte ein Zimmereigeschäft. Verglichen mit heute, herrschte Armut. Und so erforderten die Verhältnisse, dass mein Großvater bereits mit zwölf Jahren fest im elterlichen Betrieb mitarbeiten musste. Eine seiner täglichen Aufgaben war es, den Arbeitern die Tender mit frischem Essen an die Plätze zu bringen, an denen Holz gemacht und gezimmert wurde. Fünf Kilometer über Wald- und Flurwege, allein hin und zurück, waren nichts Ungewöhnliches für den Jungen. Er brachte also mehrere Stunden am Tag ganz mit sich allein in Wald und Wiesen zu; ohne Smartphone, Internet und Kinderfernsehen, ohne Werbung und Videospiele. Sie können sich vermutlich ausmalen, welch günstige Auswirkungen dieses Freisein von Medienflut und Hochfrequenz auf das Körperbewusstsein der Menschen dieser Zeit hatte.

Neuzeitliche Reizdichte versus Körperintelligenz

Nachdem mein Großvater mit über 40 Jahren aus Krieg und Gefangenschaft heimgekehrt war, bepflanzte er das Familienanwesen mit Massen von Apfelbäumen. Ich kann mich gut erinnern, wie oft ich ihn mit einem Apfel in Hand, Mund oder Tasche antraf: Im Garten sitzend, im Hof beim Warten auf die nach Hause kommenden Arbeiter des Betriebs, den er mit meiner Großmutter und meinen Eltern zusammen führte, oder abends an der Seite meiner Oma und bei der Tagesschau: Regelmäßig hatte er Äpfel bei sich. Und immer ein Utensil, ohne dessen vorherigen Einsatz er so gut wie nie Äpfel aß: nämlich ein Taschenmesser. Damit schälte er jeden Apfel. Seit seiner Kindheit. Hätten Sie August Frankenbach gefragt, weshalb er seine Äpfel schält, hätte er Ihnen nicht geantwortet: »Wegen der Pestizide«, oder: »Wegen der Bakterien auf der Schale.« Er hätte gesagt: »Weil ich meine Äpfel so besser vertrage.«

Als 13-köpfige Landfamilie waren die Frankenbachs schlichtweg auf alles Essbare angewiesen, das sich ihnen bot. Wollte man die Kinder durchbekommen, konnte man auf die Äpfel als Sattmacher nicht verzichten. Vertrug ein Familienmitglied die Äpfel im Ganzen nicht, so war es angehalten, sie so zu bearbeiten und von unbekömmlichen Anteilen zu trennen, dass sie schließlich verträglich wurden. Ernährungsberatung im heutigen Sinne gab es keine. Stattdessen war man geübter, auf die Signale des Körpers zu achten und gegebenenfalls bestimmte Anteile von Früchten, die individuell nicht bekömmlich waren, zu meiden. Dazu bedurfte es allerdings einer ausgeprägten Fähigkeit, das eigene Bauchgefühl in Bezug auf die verwendete Nahrung zu erspüren. Eine Fähigkeit, die die Menschen damals leichter erlernten als wir.

Untersuchungen aus der Stressforschung belegen, dass mit zunehmender Reizdichte durch Außeneinflüsse – wie wachsende Anforderungen am Arbeitsplatz, Zeitökonomie, Telekommunikation, Internet, Fernsehen und Freizeitstress – die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, zum Erspüren der eigenen Bedürfnisse abnimmt. Ein Risiko, dem sich die Menschen auf dem Land vor 100 Jahren nicht stellen mussten. Und dadurch wussten sie nicht selten besser, sich gut zu ernähren, als heutige, vermeintlich gut informierte Bildungsbürger.

 

Jeder Mensch ist anders, und jeder isst anders

Jeder Mensch ist anders. Jeder verträgt etwas anderes. So gab es auch immer schon Menschen, die einen Apfel am liebsten mit Schale, manchmal sogar mit Stumpf und Stiel aufaßen. Und es ging bzw. geht ihnen gut dabei. Andere hingegen mögen ihn lieber geschält: manchmal intuitiv, unbewusst; manchmal, weil sie wissen, dass sie ihn anders nicht vertragen – und wie wir sehen konnten, aus gutem Grund . Denn nicht jeder Körper kommt mit den Inhaltsstoffen von jedem Essen gleich gut zurecht.

Vielleicht kennen auch Sie ältere Menschen, die es bei den Äpfeln so hielten oder so halten wie mein Opa. Vielleicht aus dem gleichen Grund: Sie haben es sich meist schon im Kindesalter angewöhnt, den Apfel zu schälen, weil sie ihn so besser vertragen oder weil sie zwar Lust auf einen Apfel haben, intuitiv aber nicht auf die Schale.

Besonders gut können wir solche Indizien für körperliche (oder: somatische) Intelligenz an Kindern beobachten. Kleinkinder sind noch zu jung, um zu erklären, was sie möchten, und um die allgegenwärtigen Ernährungsempfehlungen zu verstehen. Oft wissen sie dennoch intuitiv, was sie wollen und was nicht. Vielleicht kennen Sie selbst Kinder, die für ihr Leben gern Äpfel mit Schale genießen, und andere, die sie nur ohne deren reichhaltige Schutzhülle essen. Und das womöglich aus triftigem Grund.

Ernährungsaufklärung und Körpergefühl

Anstatt auf die individuelle Bekömmlichkeit dessen zu achten, was sie essen, vertrauen immer mehr Menschen den gängigen, oft verallgemeinernden Empfehlungen der Ernährungsaufklärung. Danach sind fünf Portionen Obst und Gemüse, Vollkorn statt Weißmehl und Äpfel mit Schale denen ohne vorzuziehen. Dabei mehren sich die Zeichen dafür, dass sich selbst bei gesunden Menschen die Ernährungsbedürfnisse individuell deutlich voneinander unterscheiden können.

Dass nicht jeder Mensch alles verträgt, kann unterschiedliche Ursachen haben und sich unterschiedlich äußern. Im Falle einer Nahrungsmittelunverträglichkeit oder -intoleranz etwa ist der betreffende Mensch nicht in der Lage, ganz bestimmte Nahrungsbestandteile zu verdauen oder über den Stoffwechsel zu verwerten, weil ihm zum Beispiel die hierzu erforderlichen Enzyme fehlen. In anderen Fällen wiederum können bestimmte Inhaltsstoffe einer Nahrung beim einen toxische Wirkungen hervorrufen, während einem anderen die gleiche Dosis keinerlei Probleme bereitet.

Nicht nur Wissen, auch Spüren ist wichtig

Waren in den 1970er-Jahren Naturköstler noch eine exotische Minderheit, so bilden – dank über drei Jahrzehnten Aufklärung – die Vollwertgrundlagen sogar mittlerweile die ideelle Grundlage für neun von zehn Frühstücken in deutschen Kindergärten.

Mit der stetigen Zunahme von Ernährungsinformationen durch die Medien wurde Essen und Trinken zunehmend ein Bereich des Wissens und immer weniger eine Angelegenheit des Spürens. War vor 100 Jahren Essen und die Frage nach einer gesunden Ernährung noch zu wesentlich größeren Anteilen eine Bauchfrage, so wurde sie durch die zunehmende Bedeutung der Massenmedien und die damit einhergehenden Informationskampagnen zur Ernährung mehr und mehr in den Kopf verlagert.

Sprechen wir weiterhin nur vom Apfel, so ist es nach 30-jähriger Ernährungsaufklärung mittlerweile etabliertes Standardwissen: Wenn Äpfel gewaschen und nicht übermäßig mit Pestiziden behandelt wurden, gilt es als gesund, sie mit Schale zu essen. Ein Trend, dem die Mehrheit auch Folge leistet, ohne dass dies zu gesundheitlichen Schäden führt. Manchen Menschen kann es jedoch schaden.

Ist der Apfel mit seiner schutzstoffreichen Schale nun gesund oder nicht? Dies lässt sich nicht einfach pauschal beantworten, sondern immer nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Menschen mit seiner individuellen Konstitution und seinen jeweiligen Lebensumständen.

Und das gilt sinngemäß für alle anderen Lebensmittel. So gibt es – wissenschaftlich belegt – eine Reihe Menschen, die mit der Umstellung auf eine naturgemäße Kostform ihren Gesundheitszustand deutlich verbessern konnten, während andere von einer solchen Umstellung ganz und gar nicht profitierten und sogar zum Teil mit einer Zustandsverschlechterung zu kämpfen hatten. Kurz-, mittel- oder zum Teil erst langfristig war in den meisten Fällen nur das der Gesundheit zuträglich, was wirklich gut vertragen wurde.

Pflanzen und ihre natürlichen Mechanismen zur Selbstverteidigung

Seit den späten 1970er-Jahren kam es über die Medien zunehmend zu Ernährungsratschlägen: Im Sinne der nun immer populärer werdenden Vollwertkampagne gehörte dazu auch das klassische Apfelmit-Schale-Essen. Dieser Sichtweise liegt eine (zum Teil romantisch verklärte) naturistische Weltsicht zugrunde, die davon ausgeht, dass die Inhaltsstoffe, die die Frucht vor aggressiven, bedrohlichen Umwelteinflüssen wie Wetter und Fraßfeinden schützen, auch dem Menschen guttun (aber: Sind wir nicht selbst für viele Früchte Fraßfeinde?). Im echten Leben ist diese Überlegung jedoch manchmal schlichtweg falsch. Nicht jedem bekommt die Kost, die aufgrund ihrer Naturbelassenheit in der oft undifferenzierten öffentlichen Ernährungsaufklärung als besonders gesund angepriesen wird. Und für manche Menschen sind diese Empfehlungen obendrein sogar gesundheitsschädigend.

Im Prinzip stellt so gut wie jede essbare Frucht Abwehrstoffe her, mit denen sie sich gegen bedrohliche Außeneinflüsse, wie Wetter, Mikroorganismen oder Fraßfeinde, zu schützen versucht. Da aber die Pflanze und ihre Frucht, anders als Tier und Mensch, nicht vor Bedrohungen flüchten oder mit Muskelaktivität dagegen ankämpfen können, ist die Existenz und die Wirksamkeit dieser Stoffe für die Pflanze hochgradig überlebenswichtig, und zwar als Gift zur Selbstverteidigung. Problematisch mitunter auch für Menschen: Mittlerweile sind uns in der landläufig als gesund bezeichneten Kost eine Reihe natürlich vorkommender Stoffgruppen bekannt, die nicht je dem Menschen bekommen und die manchmal sogar schwere Schäden hervorrufen können.

Kartoffeln und das Problem der Alkaloide

Auch in der Schale der Kartoffelknolle befindet sich eine besonders hohe Konzentration natürlicher Schutzstoffe. Neben verschiedenen Vitaminen, Mineralien und sekundären Pflanzenstoffen enthalten die Schale der Kartoffel sowie grüne Stellen und Triebe eine weitere, besonders effektive, giftige Waffe, um sich vor den besonders aggressiven Einflüssen unterirdischer Fraßfeinde und Schädlinge zu schützen: die Pflanzenalkaloide. Alkaloide sind mit dem Gift Strichnin verwandte Substanzen. Ihre Hauptvertreter in der Kartoffel sind das Solanin und das Chaconin, die auch beim Menschen höchst unangenehme und gesundheitsschädigende Wirkungen hervorrufen.

Noch vor 100 Jahren waren Solaninvergiftungen, medizinisch auch Solanismus genannt, mit Übelkeit und Benommenheit, Berührungsempfindlichkeit, Nierenversagen bis hin zu Todesfällen weit verbreitet. Zumindest bei moderneren Zuchtfrüchten sind inzwischen die Solaninkonzentrationen in der Kartoffel weit niedriger. Dennoch fühlen sich auch heute viele Menschen nach dem Genuss gekochter, jedoch ungeschälter Kartoffeln unwohl, oder sie haben von vornherein eine Abneigung gegen Kartoffelgerichte – außer die Kartoffeln wurden gebraten oder frittiert, wodurch das Solanin zu größeren Anteilen unwirksam gemacht wird. Die Möglichkeit, dass es sich in solchen Fällen bei den Betroffenen nicht um dekadente Verwöhnung, sondern um eine höchst vitale, somatische Intelligenzleistung handelt, muss dabei dringend bedacht werden.

Daher sollte die in der Naturkostszene weit verbreitete Auffassung, Kartoffeln gehörten mitsamt Schale gegessen, mit Vorsicht genossen werden. Gleiches gilt für den Tipp, das Kochwasser der Kartoffeln aufgrund seiner reichhaltigen, aus der Kartoffel übergegangenen Konzentration an Vitalstoffen nicht wegzuschütten, sondern für die Zubereitung anderer Speisen weiterzuverwenden. Schließlich sind während des Kochens auch Solaninanteile aus der Kartoffel in den Sud übergegangen.

Gehen wir beim Thema Solanin nochmals in die Zeit unserer Groß- und Urgroßeltern zurück, so zeigt sich uns folgendes Bild: Den meisten kinderreichen Familien sicherte damals die tägliche Kartoffel- und somit Kalorienration das Überleben. Auch bei meinen Großeltern kamen regelmäßig Brat- und Pellkartoffeln auf den Tisch. Aufgrund des Kinderreichtums der Familien und der dadurch notwendigen hohen Portionszahlen bei einer gleichzeitig hohen anderweitigen Arbeitsbelastung war die durchschnittliche Hausfrau zeitlich in aller Regel nicht in der Lage, täglich für 15 Personen Kartoffeln zu schälen. Dies hätte einfach zu viel Zeit gekostet. So wurden die Kartoffeln lediglich gewaschen, von besonders solaninreichen Trieben und grünen Stellen befreit, in den Kochtopf geworfen und gegart. Zum Mittag- oder Abendessen gab es dann Pellkartoffeln mit Butter. Die Familienmitglieder, denen die Schale mit den Alkaloiden keine Probleme bereitete und denen die Kartoffeln so schmeckten, verzehrten sie ganz, während jene, denen die Kartoffel ohne Schale besser bekam, sie vor dem Essen schälten. Ähnlich wie beim Apfelverzehr lernten also früher bereits die kleinen Kinder, ihr Essen nach dem Kriterium der Bekömmlichkeit bestmöglich vorzubehandeln, bevor sie es aßen.