Depression

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Theo R. Payk war u. a. Ordinarius für Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist jetzt als Supervisor, Gutachter und Ausbilder tätig.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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eISBN 978-3-8463-3372-3

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Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Einführung Hauptteil

1 - Krankheitsbilder 2 - Formen und Verläufe 3 - Untersuchungen 4 - Entstehung 5 - Therapieverfahren 6 - Rehabilitation und Prophylaxe

Anhang Glossar Literatur Sachregister

Einführung

Die seit Jahren zu beobachtende, stetige Zunahme seelischer Leiden einschließlich psychosomatischer Beschwerden, d. h. körperlicher Symptome, die wesentlich durch psychosoziale Stressoren mitbedingt werden, ist nicht nur Ausdruck individueller Befindlichkeitsprobleme, sondern auch Gegenstand gesundheits- und berufspolitischer Diskussionen. Die Statistiken der Krankenversicherungen verzeichnen einen kontinuierlichen Anstieg der Inanspruchnahme medizinisch-psychologischer Leistungen in den westlichen Industrieländern, der von den Kostenträgern mit Besorgnis beobachtet wird. Während der letzten 20 Jahre war in Deutschland ein Zuwachs von rund 30 % an Behandlungsfällen wegen psychischer Probleme zu beobachten, einhergehend mit einer Verdoppelung der Gesamtkosten innerhalb der letzten fünf Jahre, die derzeit um 1.6 Milliarden Euro jährlich liegen. Allein die Techniker-Krankenkasse, bei der ca. 2.7 Millionen Arbeitnehmer versichert sind, registrierte für 2008 eine Gesamtzeit an Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen von über vier (!) Millionen Arbeitstagen – gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme um 2,5 %. Auch Kinder und Jugendliche sind mit seelischen Problemen belastet; ca. ein Fünftel aller Heranwachsenden weist psychische bzw. Verhaltensstörungen auf.

Dieser unverkennbare Trend, der die Volkswirtschaft durch die ansteigenden Gesundheitskosten spürbar belastet, wird sicherlich mitbedingt durch den gesellschaftlichen Wandel, d. h. veränderte Lebensbedingungen und -gewohnheiten mit gestiegenen, bisweilen unrealistischen Ansprüchen an die eigene Lebensqualität und Fitness. Noch mehr allerdings dürften die wachsenden Anforderungen an Einsatz, Leistungsfähigkeit und Verfügbarkeit in der modernen Arbeitswelt die Ressourcen an Belastbarkeit und emotionaler Stabilität überfordern. In welchem Ausmaß die Vervielfachung der therapeutischen Angebote während der letzten zehn Jahre einerseits und ein Abbau der Hemmschwelle gegenüber solchen Einrichtungen andererseits inzwischen den Weg zur psychiatrischen und/ oder psychologischen Praxis erleichtern, mag dahingestellt bleiben. Wie auch immer: Jeder, der wegen seelischer Beeinträchtigungen professionelle Hilfe sucht, kommt in der Hoffnung auf eine Linderung seiner Beschwerden. Diese können von vorübergehenden Einschränkungen an Lebensfreude und Leistungsfähigkeit bis hin zu Verzweiflung und Lebensüberdruss reichen.

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Auf den vorderen Plätzen der Häufigkeitsverteilung psychischer Störungen rangieren Depressionen, gefolgt von Angstkrankheiten und somatoformen (psychosomatischen) Beschwerden, wobei sich die verschiedenen Störungsbilder oft überschneiden – fachlich spricht man hier von „Komorbidität“. In Deutschland leiden derzeit schätzungsweise vier Millionen Menschen (bei hoher Dunkelziffer) unter depressiven Symptomen verschiedenster Art. Sie werden oft spät erkannt, manchmal wegen ihrer Maskierung sogar verkannt oder falsch eingeschätzt – mit fatalen Folgen bis hin zum Suizid: Depressionen gehören zu den hauptsächlichen Risikofaktoren dafür, ein quälendes, unerträglich gewordenes Leben zu beenden. Glücklicherweise sind sie unter konsequenter, fachgerechter Behandlung beherrschbar und klingen meistens ohne bleibende Folgen wieder ab.

Dieses Buch soll über die unterschiedlichen Depressionsarten und -formen aufklären. Im Folgenden werden daher die typischen Krankheitsbilder unter Einbeziehung von zwei Falldarstellungen demonstriert und beschrieben, verbunden mit Hinweisen auf Anfangssymptome, Erläuterungen der fachlichen Untersuchungsmethoden, die zur Diagnose führen, und Angaben über den üblicherweise zu erwartenden, weiteren Verlauf. Im diesem Zusammenhang werden die gängigen, aktuellen Hypothesen zu den Entstehungsrisiken und -ursachen skizziert bzw. die mehrdimensionalen Krankheitsmodelle reflektiert. Deutlich wird, wie breit das Spektrum des im Volksmund treffend Gemütskrankheit genannten Leidens ist, das ebenso als vorübergehende, allenfalls wochenlange Episode in Erscheinung treten, wie als schier endlose Bürde das Leben beschweren kann. Schließlich wird das Repertoire der modernen, allgemein-medizinischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen bzw. psychologischen Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen erläutert und begründet. Auch die Besonderheiten der Depressionen im Kindes- und Jugendalter werden einbezogen.

Alles in allem sollen entsprechende Kenntnisse zu einem besseren Verständnis für das vielgestaltige Krankheitsbild Depression verhelfen, um zu einem angemessenen, vielleicht auch versöhnlicheren Umgang damit zu finden. Das Wissen um diese Krankheit soll Mut machen vor den hohen Anforderungen an Geduld und Leidensfähigkeit, die eine Depression an alle unmittelbar Betroffenen und mittelbar Beteiligten stellt, Mut, nicht zu kapitulieren, sondern die veränderte Lebenssituation so erträglich wie möglich zu gestalten.

Den Interessen angehender Ärzte und Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeiter dürften eher die fachbezogenen, zusammenfassenden 9Informationen gerecht werden. Da die Erforschung von Krankheiten immer neue Erkenntnisse zutage fördert, ist der aktuelle Wissensstand wichtig, um Fortschritte in der Erkennung und Behandlung nutzen zu können. Andererseits sind nicht alle Ratschläge, Empfehlungen und Tipps, die samt neuen „Wundermitteln“ auf den Markt gebracht werden, von Vorteil; hier gilt es, die Spreu vom Weizen zu trennen und sich nicht von leeren Versprechungen blenden zu lassen.

 

Merksatz

Der Begriff Depression entstammt dem lateinischen Wort „depressus“ und bedeutet „niedergedrückt“. Er kennzeichnet einen schwer beschreibbaren, quälenden Verlust an Lebensfreude, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden.

Die häufig verwendete Bezeichnung depressive Störung kann insofern zu Missverständnissen führen, als sie nahelegt, es handele sich dabei um einen abgrenzbaren „Störfall“, etwa vergleichbar mit einer Blinddarmentzündung oder einem Magengeschwür. Tatsächlich berührt eine Depression als Ausdruck von „Leere und Stillstand“ jedoch als Erkrankung der gesamten Person fundamentale Bereiche menschlicher Existenz. Sie erfasst wie eine psychische Lähmung den ganzen Menschen, der unter einem durchdringenden, unerklärlichen Gefühl von Antriebsmangel, innerer Leere, Freudlosigkeit, Angst, Selbstunsicherheit, Pessimismus und Hoffnungslosigkeit leidet. Zudem stellen sich meist auch vielfältige körperliche Beschwerden ein, die keiner bestimmten Organkrankheit zuzuordnen sind. Der holländische Psychiater Piet Cornelis Kuiper beschrieb seine eigene, sich unter Schwankungen über drei Jahre hinziehende, schwere Depression 1991 überaus treffend als „Seelenfinsternis“. In Kunst und Literatur finden sich zahlreiche ähnliche Selbstschilderungen Betroffener – weit entfernt von jeder Heroisierung.

Merksatz

Depressionen sind verbreitete Krankheiten. Sie sind keine isolierte Funktionsstörung, sondern betreffen den ganzen Menschen, indem sie sich auf alle geistig-seelischen und körperlichen Funktionen, Fähigkeiten und Leistungen auswirken.

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Historie

Depressionen, gleich welcher Art und Ausprägung, sind nicht nur sehr verbreitet, sondern auch seit langem bekannt. Anhaltende Zustände trauriger Verstimmungen – Lebensepisoden von Schwermut, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung – gibt es wahrscheinlich, seitdem der Mensch existiert. Wahrscheinlich hängt dies mit dessen Fähigkeit zusammen, über sich und die Beschwerlichkeiten seines Lebens nachdenken zu können – ein Ergebnis mehrhunderttausendjähriger Evolution. Seelische Belastungen in Form von Ängsten, Kränkungen, Verlusterlebnissen, Demütigungen und Misshandlungen können ebenso wie andauernde körperliche Schmerzen, an denen gewiss auch der Frühmensch gelitten hat, jeglichen Lebensmut rauben. Jedenfalls zieht sich das Thema Lebensüberdruss wie ein roter Faden durch die Kulturgeschichte der Menschheit. Erste diesbezügliche schriftliche Hinweise finden sich in den „Gesprächen eines Lebensmüden mit seiner Seele“, festgehalten im Papyrus Berlin Nr. 3024 aus der 12. altägyptischen Dynastie um 1900 v. Chr. In der Bibel ist die Rede von trübsinnigen Anwandlungen des ersten israelitischen Königs Saul aus dem 1. Jahrtausend v. Chr., den sein späterer Schwiegersohn David mit dem Harfenspiel aufheitern sollte (1. Samuel 9,1).

Aber auch höher entwickelte Tiere, vor allem unsere nächsten Verwandten, die Primaten, zeigen Lethargie, Ängstlichkeit oder Aggressivität nach einschneidenden Veränderungen ihres gewohnten Lebensraumes bzw. ihrer Sozialkontakte, was angesichts der gemeinsamen Herkunft mit genetisch verblüffend ähnlicher Grundausstattung ohne Weiteres plausibel ist. Forschungsergebnisse der Pharmaindustrie aus der medikamentösen Behandlung solcher künstlich herbeigeführter tierischer Verhaltensänderungen lassen sich allerdings nur begrenzt auf den Menschen übertragen, da das Verhalten allenfalls auf Veränderungen bestimmter Hirnaktivitäten hindeutet, aus ihm jedoch nicht das innere Erleben der Tiere erschlossen werden kann. Dennoch lassen die äußeren Ausdrucksmerkmale zweifellos auch Rückschlüsse auf deren Befindlichkeit zu.

Was stand unseren Ur-Urahnen an Mitteln zur Linderung und Bewältigung der ebenso unberechenbaren wie unerklärlichen Beeinträchtigungen von Gestimmtheit, Aktivität und Kraft, die eine Depression kennzeichnen, zur Verfügung? Soweit die Schamanen und Medizinmänner der Frühzeit nicht durch Beschwörungszeremonien und Opfergaben die vermeintlich strafenden Dämonen zu besänftigen suchten, waren sie wahrscheinlich 11im praktischen Alltag darum bemüht, ihren Klienten durch besondere Zuwendung, Ablenkung oder Zerstreuung beizustehen, vielleicht schon – erste Anfänge einer Erfahrungsmedizin – mit Hilfe von Körperkontakt, Wärme und Licht, Kräuterextrakten und Pflanzensäften.

Die Wirkung letzterer war vermutlich sehr früh bekannt. Überliefert ist jedenfalls, dass in den mesopotamischen und ägyptischen Hochkulturen im 4. bis 3. Jahrtausend v. Chr. die gleichermaßen besänftigende wie euphorisierende Wirkung des Schlafmohns genutzt wurde; die Sumerer nannten den Mohn „Pflanze der Freude“. Der Einsatz seines Wirkstoffs Opium als Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmittel ist in der Medizin seit langem gebräuchlich, und bis in die Neuzeit wurde er in Form einer Tinktur auch als Antidepressivum verwendet. Kaiser Karl der Große war jedoch der erste, der Opium wegen seiner berauschenden Wirkung als Genussmittel ausdrücklich verbot. Noch immer wird aus unreifen Mohnkapseln der milchige Saft gewonnen, der eingetrocknet den Rohstoff Opium ergibt; Bestandteile sind u. a. Morphin und Codein (Heroin, das in der Drogenszene beliebteste, aber auch teuerste Rauschmittel, ist ein synthetisch hergestelltes Morphinpräparat).

Stechapfel, Mandragora, Tollkirsche, Bilsenkraut und Engelstrompete enthalten u. a. das giftige Skopolamin (Hyoszyamin), das in kleinen Dosen beruhigend und vegetativ stabilisierend wirkt. Es ist ebenso wie das entspannende und stimmungsaufhellende Cannabis aus dem Harz der (indischen) Hanfpflanze im assyrischen Herbal erwähnt, einer Rezeptsammlung aus dem 3. Jahrtausend v. Chr., die 250 Pflanzenstoffe und andere Heilmittel enthält. In der altindischen und altchinesischen Medizin jener Zeit war der Hanf ebenfalls als Drogenpflanze gebräuchlich.

Der aufmunternde Effekt des Hypericumöls aus Johanniskraut, seit der Antike bekannt und fester Bestandteil der mittelalterlichen Klostermedizin, hat inzwischen seinen Platz im Arsenal antidepressiv wirkender Medikamente zurückgewonnen. Der Wander- und Wunderarzt Paracelsus (1493–1541) bezeichnete es als „Arnica der Nerven“.

Zu den ältesten Mitteln zur Auflockerung und Verbesserung der Stimmung gehört zweifellos der Alkohol. Im altägyptischen Papyrus Ebers (um 1600 v. Chr.) ist Palmwein wiederholt als Arzneibestandteil genannt, auch zum Einsatz gegen Schwermütigkeit. In den früheren Irrenanstalten war Alkohol ein gebräuchliches Medikament gegen Melancholie, Angstzustände und Schlafstörungen.

Der Hallenser Medizinprofessor Friedrich Hoffmann (1660–1742), dessen berühmte Hoffmannstropfen, ein Alkohol-Äther-Gemisch, als 12Mittel zur Entspannung jedermann bekannt waren, sprach dem Wein die Eigenschaft zu, Sorgen, Furcht und Traurigkeit zu verjagen und fröhlich, beherzt und kühn zu machen. Die beruhigend-entkrampfende Wirkung von Klosterfrau-Melissengeist, einer Mixtur aus Alkohol und Melissenöl, wird bis heute genutzt.

Mit Etablierung der medizinischen Heilkunde im antiken Griechenland traten an die Stelle religiös-vorwissenschaftlicher Auffassungen über die Ursachen von Krankheiten rationale Hypothesen. Auf den „Vater der Medizin“, Hippokrates von Kos (um 460–370 v. Chr.) bzw. seine Vorgänger im 5. Jahrhundert v. Chr., geht zum einen die These vom Gehirn als Sitz geistig-seelischer Fähigkeiten zurück, zum anderen die Vorstellung, dass ein schädliches Übermaß an schwarzer Galle (griechisch: melane cholos) – Schwarzgalligkeit – zu Depressionen führt. In den Hippokratischen Schriften (Aphorismen VI) werden als Kennzeichen eines melancholischen Zustands u. a. eine länger anhaltende Angst und Traurigkeit genannt. In seinem medizinischen Sammelwerk „Artes“ behandelte der herausragende römische ärztliche Schriftsteller Celsus (um 25 v. Chr. bis 50 n. Chr.) auch die Geistes- und Gemütsstörungen; der Melancholiker wurde als erschöpft und langsam, gereizt und schlaflos, aber auch als schreckhaft und geplagt von Angst charakterisiert.

Der kosmopolitische Grieche Galen von Pergamon (129–216), zeitweilig Leibarzt der römischen Kaiser, formte schließlich aus dem Hippokratischen Konzept im 1. Jahrhundert n. Chr. eine streng systematisierte Krankheitslehre, derzufolge alle Krankheiten auf einem Ungleichgewicht der vier Körperflüssigkeiten Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarzer Galle beruhten. Diese Viersäftelehre, Humoralpathologie genannt, hatte bis weit ins 18. Jahrhundert Gültigkeit. Erstmals während der Renaissance infrage gestellt, verschwand sie erst Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig aus der wissenschaftlichen Medizin.

Folgerichtig bestand die Behandlung im Prinzip aus einer Ableitung bzw. Regulierung der Körpersäfte durch Aderlass, Schröpfen und Abführmittel, außerdem durch eine Regelung der Lebensweise und Verabreichung von pflanzlichen Heilmitteln. Konstantin Africanus, berühmter Medizintheoretiker und Verfasser etlicher Lehrbücher an der damals führenden Medizinschule von Salerno, empfahl um 1080 n. Chr. als Rezept gegen Melancholie eine Mixtur aus Thymian, Safran, weißem und schwarzem Nieswurz (lat. Helleborus), Wasser, Zucker und Most. Insbesondere der giftige Nieswurz sollte über Jahrhunderte eines der gebräuchlichsten Mittel zu Melancholiebehandlung bleiben. Nieswurzextrakt verursacht Erbrechen und Durchfall mit schwarzem oder blutigem 13Stuhl, was den irrigen Glauben stützte, der Körper werde von einem krankmachenden Übermaß an schwarzer Galle gereinigt.

Die Idee von der Notwendigkeit einer Entgiftung, einer „Entschlackung“ des Körpers durch Fasten, Schwitzen oder Trinkkuren blieb bis heute lebendig, obgleich sie einer wissenschaftlich-physiologischen Überprüfung nicht standhält. Zeitweilig erreichte sie im 19. Jahrhundert aberwitzige, exzessive Höhepunkte: Aderlässe – manchmal mit tödlichem Ausgang –, alle möglichen Brech- und Abführmittel, Klistiere, Blutegel und Schröpfköpfe sollten auch die vermuteten Ursachen psychischer Leiden wie giftigen Schleim, Galle, Säuren und unverdaute Nahrungsstoffe aus dem Körper befördern.

Seit Jahrtausenden wird in Südamerika der stimulierende Effekt des Genusses von Blättern der Coca-Pflanze genutzt. Nach chemischer Entschlüsselung ihres stimulierenden Wirkstoffes Kokain Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich dieser aufgrund seiner euphorisierenden, anregenden Wirkung bald in Europa und avancierte zu einer gefragten Droge, obgleich deren Suchtpotenzial längst bekannt war. Sigmund Freud (1856–1939), Begründer der Psychoanalyse, schätzte Kokain als harmloses Heilmittel ein und empfahl es – auch aus eigener Erfahrung – zur Aufheiterung und Verbesserung des körperlichen wie psychischen Leistungsvermögens. Heute zählt Kokain zu den vor allem in der Schickeria-Szene beliebten, „harten Drogen“, deren Herstellung und Besitz wie bei Heroin und anderen Rauschmitteln strafbar sind.

Trotz großer Erfahrungen in der Kräutermedizin, deren Tradition in den Klöstern gepflegt wurde, verlor sich die mittelalterliche Heilkunde infolge des damaligen wissenschaftsfeindlichen Weltbildes nach und nach in einem Dunst von Magie, Mystizismus und Alchemie mit – aus heutiger Sicht kaum vorstellbaren – abwegig spekulativen Behandlungsmethoden. Melancholie wurde als Laster, als sündhafte Haltung aufgefasst, die mit Faulheit, Müßiggang, Unlust, Stumpfsinn, Herzensträgheit und Verstocktheit – „Acedia“ genannt – gegenüber der göttlichen Gnade einhergeht. Sie wurde als verwerfliche Verneinung der Schöpfung zu den sieben Todsünden gezählt, die wie Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Neid und Völlerei mit ewigen Höllenstrafen geahndet wurden.

Selbst der Reformator Martin Luther (1483–1546) schrieb seine eigenen Depressionen, die ihn von Jugend auf in Form von Trübsinnigkeit, Apathie, innerer Zerissenheit und Sündenangst bis hin zum Lebensüberdruss heimsuchten, Einflüssen des Teufels zu. Der englische Theologe Robert Burton (1577–1640) stellte die Melancholie als „Hölle auf Erden im Herzen des Menschen“ dar. Wurden an solcherart schwermütigen 14Personen ungewöhnliches Benehmen oder absonderliches Verhalten als Zeichen von Besessenheit gedeutet, fielen sie dem Exorzismus zum Opfer bzw. wurden als Hexen verfolgt. Ansonsten waren Gebete, Buße, Fasten, Exerzitien, Reliquienverehrung und Wallfahrten gebräuchliche Gnadenspender, um der Gemütsverfinsterung und dem pessimistischen Glaubenszweifel entgegenzuwirken.

 

Paracelsus empfahl – neben einem gottgefälligen, frommen Leben – gegen melancholische Anwandlungen Mixturen aus der schier unerschöpflichen alchemistischen Giftküche, in der außer pflanzlichen Mitteln tierische Exkremente und mineralische Präparate, sogar Leichenteile zusammengebraut wurden. Sie wurden von umherziehenden Quacksalbern und Heilkünstlern auf Jahrmärkten angeboten. Bestandteile des Theriaks, der universalen Wunderarznei zur Zeit des Spätmittelalters und der Renaissance, waren u.a. Opium, Kampfer, Baldrian, Zimt, Kardamon, Moschus, Bibergeil, spanische Fliege, Phosphor, Schwefel, Vitriol, Quecksilber, Weingeist und Salmiak. Aus der arabischen Medizin hatte die mittelalterliche europäische Heilkunde als Therapeutika gegen die verbreitete Melancholie neben Myrrhe, Kardamon, Wacholder, Passionsblume, Oleander und Gallbaum auch die Verabreichung von Gerstenschleim und Eselsmilch übernommen.

Große Beachtung fand seinerzeit die aufwendige „psychische Kur“ des Berliner Medizinprofesssors Johann Christian Reil (1759–1813) zur Behandlung geistiger und seelischer Störungen. Sie beruhte auf der Hypothese einer umstimmenden bzw. erzieherischen Wirkung nach dem Lohn-Strafe-Prinzip – erste methodische Umsetzungen einer drastisch aversiven Verhaltenstherapie. So wurden in den Irrenhäusern bei Melancholie als angenehme Stimulanzien etwa der Genuss von Wein oder Mohnsaft, Wärme, Streicheln, Gymnastik, Theaterspielen, Musizieren, Singen und Tanzen, heitere Erzählungen und zerstreuende Lektüre, leichtere Geistesarbeit und gärtnerische Betätigung vermittelt. Als schmerzhafte Sanktionen wurden demgegenüber bei unerwünschtem Verhalten z.B. Isolation, Nahrungsentzug, kalte Bäder, Rutenschläge oder Peitschen mit Brennesseln eingesetzt. Etwa zeitgleich kurierte in sehr gefragten Suggestivsitzungen der Modearzt Franz Anton Mesmer (1734–1815) in Wien und Paris u. a. Nervenschwäche und nervöse Erschöpfungszustände mit den vermeintlich heilenden Kräften des „animalischen Magnetismus“.

Charles Darwin (1809–1882), Begründer der modernen Evolutionslehre, legte die Grundlagen systematischer Untersuchungen zur Ausdruckskunde. Auch für die Geistes- und Gemütskranken wurden vermeintlich 15typische Merkmale der Physiognomie als Erkennungszeichen gesammelt und bildnerisch festgehalten, ab dem 19. Jahrhundert unterstützt und erweitert durch fotografische Dokumentationen. Außerdem widmete man sich der näheren Erforschung des Nervensystems. Obgleich – wie gesagt – bereits in der Antike das Gehirn als Sitz der Seele angesehen wurde, dauerte es mehr als 2000 Jahre, bis Mutmaßungen über die Beziehungen zwischen seelischen Funktionen und bestimmten Hirnregionen durch exakte wissenschaftliche Beobachtungen belegt werden konnten.

An den gewaltigen Fortschritten in den Naturwissenschaften der Neuzeit hatten Chemie und Medizin großen Anteil. So etablierte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Lehre von der Erkennung und Behandlung psychischer Krankheiten als eigenständige Wissenschaft. Damals wurden die Vorraussetzungen der bis heute gängigen Richtlinien zu deren Diagnostik und – inzwischen mehr oder weniger modifizierten – Einteilung und Zuordnung geschaffen. Auch die Melancholie wurde nun grundsätzlich als Erkrankung des Nervensystems betrachtet.

Mit der Entdeckung und industriellen Herstellung der ersten künstlichen Beruhigungs- und Schlafmittel Chloralhydrat (1869) und Barbiturat (1903), die noch heute in Gebrauch sind, begann die Ära der modernen, synthetischen Psychopharmaka. Nachdem in den 1950er Jahren mit dem Chlorpromazin das erste Pharmakon zur Behandlung psychotischer Symptome in die Psychiatrie eingeführt worden war, wurde es auch gegen Depressionen ausprobiert. Es erwies sich jedoch als wirkungslos, so dass nach anderen chemischen Wirkstoffen gesucht wurde, bis mit Imipramin 1956 das erste neuzeitliche Antidepressivum gefunden und zwei Jahre später in den Handel gebracht wurde. Von da an gab es einen weltweiten Siegeszug dieser Medikamentengruppe, bis auf den heutigen Tag gefolgt von weiteren Spielarten und Nachfolgegenerationen, die regulierend auf das vermutete Ungleichgewicht von Botenstoffen im Nervensystem Einfluss nehmen. Schrittweise wurden diese Substanzen verbessert, so dass heute eine breite Palette an antidepressiven wirksamen Mitteln zur Verfügung steht.

Erfahrungen aus der Psychoanalyse und die empirischen Erkenntnisse der Lernpsychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lieferten die Grundlagen zu zwei neuen, wirksamen Methoden der psychologischen Beeinflussung seelischer Störungen: tiefenpsychologische bzw. „aufdeckende“ Psychotherapie und Verhaltenstherapie. Beide Richtungen wurden in der Folgezeit ebenfalls hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Ökonomie überprüft und fortentwickelt. Zweifelsohne 16wird der Trend zu sowohl gezielter als auch verträglicher wirkenden Therapien – wie in anderen Bereichen der Heilkunde – sich fortsetzen und noch bessere Behandlungsinstrumente zur Verfügung stellen. Schwieriger wird es hingegen sein, auf die Lebensumstände und sozioökonomischen Verhältnisse einzuwirken, die einer Entstehung depressiver Zustände Vorschub leisten.

Angesichts des beschriebenen, starken Anstiegs depressiver Erkrankungen in den hochindustrialisierten westlichen Ländern, die zudem meist mit längeren Krankschreibungen einhergehen, wurde auf einer WHO-Konferenz 2005 in Helsinki ein europäischer Aktionsplan für psychische Gesundheit beschlossen. Im Jahr 2006 wurde auf Veranlassung der Gesundheitsministerkonferenz – nach den ersten fünf nationalen Gesundheitszielen unter den Stichwörtern Diabetes, Brustkrebs, Nikotinkonsum, Patientensouveränität und Frühprävention – als 6. Ziel das Erkennen und Behandeln von Depressionen deklariert.

Obiger WHO-Plan beinhaltet im Übrigen auch Maßnahmen zur Verhinderung von Suizidrisiken, von denen im Folgenden noch die Rede sein wird. In Deutschland wurden bereits 2001 erste Schritte zu einem „Bündnis gegen Depression“ unternommen, das inzwischen zahlreiche regionale Aktivitäten professioneller und interessierter Mitarbeiter zusammenfasst.

Merksatz

Etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten sich die wissenschaftlichen Grundlagen der neuzeitlichen neuropsychiatrischen und psychologisch-psychotherapeutischen Erkenntnisse zur Diagnostik und Therapie. Inzwischen haben sich daraus differenzierte Konzepte zur Behandlung psychischer Störungen entwickelt.

Literatur

Eckart, W. E., Jütte, R. (2007): Medizingeschichte. Böhlau, Köln / Weimar / Wien

Kuiper, P.C. (2007): Seelenfinsternis. 9. Aufl. Fischer, Frankfurt / Main

Payk, Th. R. (2000): Psychiater – Forscher im Labyrinth der Seele. Kohlhammer, Stuttgart

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