Den Schatten umarmen

Text
Autor:
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Den Schatten umarmen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Teal Swan
Den Schatten umarmen

Verletzungen der Seele heilen


Wichtiger Hinweis

Die im Buch veröffentlichten Empfehlungen wurden von Verfasserin und Verlag sorgfältig erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Ebenso ist die Haftung der Verfasserin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.

Aus dem Englischen von Maria Müller-de Haën

Titel der Originalausgabe:

The Completion Process.

Copyright © 2016 by Teal Swan

English language publikation 2016 by Hay House Inc. USA

Deutsche Ausgabe:

© 2016 KOHA-Verlag GmbH Burgrain

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Guter Punkt, München

Lektorat: Nayoma de Haën

Gesamtherstellung: Karin Schnellbach

ebook

ISBN 978-3-86728-755-5

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I

1. Auf der Suche nach der großen Versöhnung

2. Verschüttetes ausgraben

3.Verdrängtes ins Bewusstsein holen

4. Wie Körper, Emotionen und Zeit zusammenhängen

Teil II

5. Vorbereitung auf den Completion Process

6. Schritte 1–6: Sicherer Hafen und Zugang zur Erinnerung

7. Schritte 7–13: Anerkennung und Befreiung

8. Schritte 14–18: Ganzwerdung und Abschluss

Teil III

9. Wie der Completion Process Ihr Leben verändern kann

Nachwort

Anhang A

Anhang B

Danksagung


Einleitung

Es war im Jahr 2001. Ich saß in einem Erdloch, meine Hand- und Fußgelenke waren zusammengebunden. Ich hatte eigentlich keine Angst, denn die vielen Jahre des Missbrauchs hatten mich gegenüber Gefahren unempfindlich gemacht. Vielmehr hatte ich mein Leben aufgegeben. Ich sah keinen Sinn mehr darin. In der von mir akzeptierten Realität war mein Leben eine Folterkammer, aus der ich niemals lebendig entkommen würde.

Als ich in die Grundschule ging, geriet ich ins Visier eines Bekannten meiner Familie; er war ein Psychopath, was meine Eltern nicht wussten. Nach außen präsentierte er sich als geachtetes, führendes Mitglied der Gemeinde und als Gesundheitsexperte, aber er hatte eine viel dunklere Seite. Er nahm an Sektenritualen teil, was nur wenige Leute wussten. Er wurde zu meinem Mentor und hatte freien Zugang zu mir. Meine Eltern vertrauten ihm und hatten keine Ahnung, dass er mich quälte. Sie sahen zwar die roten Warnflaggen, aber sie missverstanden sie. Mein Peiniger drohte damit, meine Familie umzubringen, wenn ich es jemals wagen sollte, jemandem zu erzählen, was er mit mir machte, und ich wusste, er war zu einem Mord fähig. Dieser rituelle Missbrauch dauerte dreizehn Jahre lang an.

Ich verbrachte viel Zeit in diesem Loch im Boden sitzend, genannt »der Raum des Geistes«; es war gerade einmal groß genug für eine sitzende Person. Das Loch wurde von einem zusammengenagelten, verwitterten Holzgitter verdeckt. Im Sommer war der Boden von Brennnesseln überzogen; das war seine Vorstellung eines »geistigen Trainings« für mich. Bevor ich in dieses Loch gebracht wurde, wurde ich meistens nackt ausgezogen und mir wurden Hand- und Fußgelenke zusammengebunden. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er mich da drinsitzen lassen wollte, und wusste auch nie, ob er womöglich beschlossen hatte, mich auf immer in diesem Loch einzusperren, mich umzubringen oder mich später am Abend zu meinen Eltern zurückzubringen.

Ich war so oft in diesem Höllenloch eingesperrt gewesen, dass es sich trotz der schmerzlichen Ungewissheit wie normal anfühlte. Ich hatte mich an das Leiden gewöhnt – bis auf eine Sache: Wenn ich in den »Raum des Geistes« gebracht wurde, war ich mit mir allein, und das konnte ich nicht ertragen. Ich spürte nichts als innere Leere, und noch schlimmer, es war ein vollkommen leerer Raum, dessen Ränder von Leid und Kummer gefärbt waren.

Jahrelang tat ich alles, um dieses Leid zu vermeiden und mich von dieser Leere fernzuhalten. Und eines Tages geschah es: Ich saß im »Raum des Geistes« und verspürte die bereits vertraute Verzweiflung. Doch dieses Mal war etwas anders. Ich erkannte: Wenn mein Gefühl der Verzweiflung in Bewegung war, dann war ich auf dem Weg zu einer neuen Emotion. Je mehr ich über die Verzweiflung nachdachte, desto klarer wurde mir, dass Bewegung auf etwas hin eine Bewegung hin zu etwas Gewünschtem und weg von etwas Nichterwünschtem ist.

Also fragte ich mich: »Was von dem, was in mir ist, will ich nicht?« Oder vielmehr: »Von was in meinem Innern bewege ich mich weg?« Und siehe da: Wie ich herausfand, hielt mich ein Gefühl der »Verzweiflung« von dem Gefühl vollkommener Hoffnungslosigkeit ab. Die Hoffnung zu verlieren ist das stärkste Gefühl der Ohnmacht in der Bandbreite menschlicher Emotionen. Ein Teil von mir war davon überzeugt, Hoffnungslosigkeit wäre gleichbedeutend mit Tod, und dieser Teil von mir hatte dieser Hoffnungslosigkeit widerstanden, um überleben zu können.

Ich könnte nun behaupten, an diesem Tag hätte ich mich dafür entschieden, mutig zu sein, doch in Wirklichkeit gab ich einfach die Hoffnung auf. Ich stand am Rand eines Abgrunds. Ich war emotional von fast dreizehn Jahren des Martyriums erschöpft. Die Hoffnungslosigkeit verfolgte mich wie ein Tornado überall hin, egal wohin ich rannte, und ich hatte es satt, davonzurennen. Ich wollte tot sein.

Und so machte ich genau das Gegenteil von dem, was ich sonst immer gemacht hatte: Ich drehte mich um und rannte geradewegs auf den Tornado zu. Ich beging emotionalen Selbstmord. Ich wusste nicht, was passieren würde, aber ich tat es trotzdem. Und mir stand eine Überraschung bevor.

Einen Augenblick lang versank ich in tiefem Elend und ärgsten Ängsten. Ich hatte das Gefühl, zermalmt, zerquetscht und zerbrochen zu werden. Ich holte tief Luft, und anstatt mich abzuwenden, ging ich tiefer, gab dem Gefühl die Erlaubnis, mich voll und ganz einzunehmen, als ob es einen guten Grund für seine Anwesenheit gäbe. Und schon bald fühlte ich eine große Leichtigkeit, eine Erleichterung, wie wenn Sonnenstrahlen in die Tiefen des Meeres dringen. Durch meine Entscheidung, in das Gefühl einzutauchen, löste sich die Angst vor dem eigentlichen Gefühl in Luft auf.

Ich sonnte mich eine Weile in diesem Gefühl der Erleichterung. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich nicht im Stich gelassen. An diesem Punkt hatte ich keine Ahnung, warum das, was ich da gemacht hatte, tatsächlich funktioniert hatte. Ich wusste nur, es hatte funktioniert. Und so probierte ich es immer wieder, fast immer, wenn ich mit einem unangenehmen Gefühl konfrontiert war, vor dem ich am liebsten davongelaufen wäre.

Schließlich schaffte ich es, dem Mann, der mir meine Kindheit gestohlen hatte, zu entkommen; danach versuchte ich jahrelang, mich zu heilen, versuchte zu verstehen, warum diese Technik, über die ich da gestolpert war, funktioniert hatte. Als mir klar war, wie ich mich geheilt hatte, erkannte ich: Das war ein Durchbruch, der die Welt verändern konnte.

Der Zeitpunkt hätte gar nicht besser sein können. So viele Seelen auf dieser Welt bedürfen der Heilung, und wie ich entdeckt hatte, beginnt alles damit, unsere Emotionen wirklich zu fühlen. Im Mutterleib haben wir Menschen Empfindungen aus der Welt da draußen wahrgenommen, noch bevor wir sie erblickten. Wenn wir als winzige Babys in dieses Leben treten, erfahren wir die Welt ausschließlich über unsere Wahrnehmung. Wir gehen durchs Leben und tragen den emotionalen »Ton«, die Klangfarbe unserer Kindheit mit in unser Leben als Erwachsene; das ist eine angelernte Schwingung, auf die wir aufbauen und die wir weiter ausbauen.

Wir lernen, mit anderen Menschen im Wesentlichen über diesen emotionalen Ton in Verbindung zu treten, was durchaus positiv ist, wenn der emotionale Ton unserer Kindheit ein positiver ist. Ist er jedoch negativ und schmerzvoll, dient diese negative und schmerzliche emotionale Verfassung als Filter, durch den wir die Welt als Erwachsene wahrnehmen. Sie ist das emotionale Grundtrauma, über das wir anscheinend nie hinwegkommen. Unser ganzes Leben lang versuchen wir, unsere »Störungen« zu beheben, aber leider mit nur wenig oder gar keinem Erfolg.

In meinem Fall machte ich fünf Jahre lang eine Traumatherapie mit verschiedenen Therapeuten, die auf rituelle Traumata spezialisiert waren. Ich unterzog mich den allerneuesten Therapien und den üblichen Vorgehensweisen und fand heraus, was funktionierte und was nicht.

 

Durch die traditionelle Traumatherapie lernte ich auch die Arbeit mit dem inneren Kind kennen, und das war für mich eine Offenbarung. Die dahinterstehende Theorie und Heilmethode beruht auf der Überzeugung, dass alle Menschen auf der Erde die Essenz des Kindes, das sie einst waren, in sich tragen. Im Laufe unseres Reifeprozesses wird ein Teil von uns erwachsen, der andere Teil dagegen bleibt ein Kind. Dieses innere Kind symbolisiert unser emotionales Selbst. Egal, ob wir in der Kindheit nun gute oder schlechte Erfahrungen gemacht haben – unser erwachsener Anteil wächst heran, obwohl er als Kind nicht alles bekommen hat, was er brauchte. Deshalb hält der erwachsene Anteil den Schlüssel zur Heilung in der Hand.

Während meiner eigenen Traumatherapie fühlte ich mich durch die Art und Weise der Arbeit mit dem inneren Kind nie ganz. Erst als ich schon als international erfolgreiche spirituelle Lehrerin tätig war, verstand ich voll und ganz, warum die Technik, die ich im »Raum des Geistes« entdeckt hatte, wirklich funktionierte und warum die Arbeit mit dem inneren Kind wirkte. Und noch wichtiger – und das ist der Knackpunkt – wie beides zusammenpasste.

Mir wurde klar: Ich hatte den heiligen Gral gefunden. Ich entwickelte einen Prozess, mit dessen Hilfe auch äußerst verletzte, zerbrochene Menschen wieder heil und ganz werden können. Zunächst probierte ich ihn an mir selbst aus, um ihn zu vervollkommnen, dann an meinen Klienten.

Ich wünsche meinen Lesern, dass sie das freudvolle Leben erfahren, welches nur denjenigen offensteht, die bereit sind, sich voller Mut auf die Reise nach innen zu begeben, ganz tief hinein, und diejenigen Aspekte ihrer selbst wieder zum Leben zu erwecken, die verloren gegangen sind. Wenn dieser Prozess jemanden heilen kann, der rituellen Missbrauch in vielerlei Form überlebt hat, kann er jeden Menschen heilen. Ich nenne diesen Ansatz den Completion Process.

Teil I

1. Auf der Suche nach der großen Versöhnung

Der Completion Process ist das Tor zur Befreiung, eine Möglichkeit, sich selbst wieder »zusammenzusetzen«, also ganz zu machen und dadurch die Blockaden der Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft zu überwinden. Dieser Prozess ist für alle Menschen gleichermaßen geeignet, denn wir alle tragen Wunden aus der Vergangenheit mit uns herum, die geheilt werden müssen, und oft sehen wir nicht einmal, dass Symptome, die in unserem gegenwärtigen Leben auftreten, etwas mit diesen vergangenen Verletzungen zu tun haben. Aber genauso ist es. Auch wenn wir den Zusammenhang nicht erkennen.

Fast alle Menschen wünschen sich eine Welt voller Harmonie und Freude. Doch die Wirklichkeit sieht meist anders aus: Auf der Erde gibt es zwar sehr wohl Harmonie und Freude, aber auch Konflikte und Leiden. Tag für Tag kehren traumatisierte Soldaten aus dem Krieg zurück. Menschen, die in Kriegsgebieten leben, versuchen verzweifelt, die Scherben ihres Lebens aufzuklauben und weiterzumachen. Kinder werden missbraucht, Frauen vergewaltigt, Naturkatastrophen lassen Menschen ohne alles zurück. Notfallteams, beispielsweise Ärzte in der Notaufnahme, Rettungsmannschaften und Feuerwehrkräfte, leisten anderen Menschen Beistand in fürchterlichen Situationen und schaffen es oft nicht, den damit zusammenhängenden eigenen Stress zu verarbeiten. Andere verfallen einer Sucht, um den Schmerz der Leere zu betäuben. Und alle schwierigen Umstände, mit denen wir zu kämpfen haben, haben eines gemeinsam: Trauma.

Ein Trauma kann sich in vielfältigen Symptomen manifestieren, zum Beispiel Rückblenden, Albträumen, Schlaflosigkeit, lähmender Angst, Süchten, Ängsten oder Depressionen, aber auch durch unablässiges Denken an ein bestimmtes vergangenes Geschehen oder auch eine ganze Reihe von Ereignissen. Manche Leute haben mit einem mangelnden Selbstwertgefühl zu kämpfen, andere fügen sich selbst Schaden zu, leiden unter chronischen Schmerzen, einer psychischen Störung oder einfach nur unter einem insgesamt unbefriedigenden und schmerzerfüllten Leben. Oft ist den Betroffenen die Ursache ihrer Symptome nicht klar; sie haben keine Ahnung, dass sie mit einer ungelösten vergangenen Erfahrung zu tun haben. Die meisten dieser schmerzlichen Erfahrungen haben ihren Ursprung in Kindheits-Traumata, welche unter Umständen nicht einmal bewusst sind, auch wenn sie im derzeitigen Leben der jeweiligen Person ernsthaftes Leid verursachen. Moderne psychologische Ansätze erkennen diese Zusammenhänge inzwischen an, und die Behandlungsmethoden ändern sich langsam, aber sicher, weg vom »Was stimmt mit dir nicht?« hin zu »Was ist mit dir passiert?«.

Niemand ist gegen ein Trauma immun. Ich habe den Completion Process bei Menschen aus aller Welt und allen möglichen Kulturen angewandt, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen, die sich in unterschiedlichsten Lebensphasen und beruflichen Umfeldern befanden. In meiner Praxis habe ich damit Menschen geholfen, ihren Kummer, psychische Störungen, Süchte, Gewichtsprobleme, chronische bzw. tödliche Krankheiten, aber auch sexuellen Missbrauch in der Kindheit aufzulösen und zu integrieren. Manche Klienten sind scheinbar nicht in der Lage, gut funktionierende Beziehungen zu führen, oder ihnen geht eine gewisse Zielstrebigkeit ab. Auch bei Menschen, die unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung infolge eines durch Krieg, einen Unfall, eine Katastrophe oder durch eine persönliche Tragödie ausgelösten Traumas leiden, hat sich der Completion Process als sehr effektiv erwiesen.

Dieses Buch soll den Lesern diesen Prozess nahebringen, damit sie ihn verstehen und erfahren können und ihr eigenes und, wenn sie darum gebeten werden, auch das Leben anderer transformieren können.

Wie Sie dieses Buch nutzen und einsetzen können

Teil I nennt sich Einstimmung; die vier nachfolgenden Kapitel erklären das dahinterstehende Prinzip, insbesondere wie der menschliche Geist Erinnerungen, Emotionen und Traumata verarbeitet. Diese Zusammenhänge zu verstehen ist wichtig, damit die eigentlichen Schritte des Completion Process einen Sinn ergeben. In diesem Teil I führe ich Beispiele aus meinem eigenen Leben und dem Leben von Klienten an, um Ihnen diese universellen Wahrheiten noch besser verständlich zu machen.

Der Completion Process besteht aus 18 Schritten; sie werden im Einzelnen in Teil II – Der Completion Process – Ganzwerdung –vorgestellt und näher erläutert. Bei jedem Schritt wird angegeben und erklärt, warum und wie er auszuführen ist und was Sie tun können, wenn bestimmte Emotionen oder Reaktionen hochkommen. So können Sie den Completion Process entweder alleine, mit dem Beistand eines liebevollen Freundes bzw. einer Freundin oder auch mit einem ausgebildeten Completion Process Certified Practitioner (CPCP) durchlaufen.

Der Completion Process ist fließend aufgebaut; vom Anfang bis zum Ende führt ein Schritt ganz natürlich zum nächsten, von Schritt 1 bis Schritt 18. Für ein besseres Verständnis habe ich meine Erklärungen aber in drei Kapitel unterteilt.

Kapitel 6 behandelt die Schritte 1 bis 6 und hat mit dem Teil des Prozesses zu tun, in dem wir eine Erinnerung, die in unserem derzeitigen Leben schmerzhaft ist, noch einmal erleben.

Kapitel 7 geht auf die Schritte 7 bis 13 ein; in diesem Teil geht es darum, die eigentliche Erinnerung abzuändern, um Heilung zu bewirken.

Kapitel 8 erläutert die Schritte 14 bis 18; hier gilt es, sich von der Erinnerung zu befreien und uns auf unsere Gegenwart auszurichten.

In Teil III – Versöhnung – habe ich die Ehre, eine Reihe dramatischer Erfahrungsberichte über den Completion Process vorstellen zu dürfen, mit den Worten von Menschen aus aller Welt, die diesen Prozess durchlaufen oder ihn unterstützend begleitet haben. Hinzu kommen Anmerkungen von meiner Seite über die vielen Vorteile und Wohltaten, die der Completion Process denjenigen schenkt, die ihn angewandt haben und die ihn weiterhin in ihrem Alltag einsetzen.

Was soll »ganz« werden?

Das Leben ist unvorhersehbar und unberechenbar. In manchen Phasen haben wir vielleicht das Gefühl, wir hätten endlich alles in Ordnung gebracht, und dann wird wieder alles auf den Kopf gestellt. Manchmal kommen wir uns vor wie ein entgleister Zug oder als versuchten wir, ohne Paddel flussaufwärts zu fahren. Haben Sie auch den Eindruck, auf eine Karambolage zuzusteuern oder völlig chaotisch durchs Leben zu treiben? Dann könnte Reintegration für Sie hilfreich sein. Solche Erfahrungen sind wertvoll und notwendig. Sie sind Teil unserer Entwicklung, weshalb es faszinierend, nützlich und heilsam sein kann, etwas darüber zu lernen.

Wenn Sie lernen, auf die Trigger bzw. Auslöser von Erinnerungen zu achten, und sich Zeit für die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen zentralen Thema nehmen, können Sie endlich Heilung finden.

Der Auslöser ist ein wichtiges Konzept, deshalb möchte ich es an dieser Stelle kurz erklären. Ein Auslöser ist alles, wodurch eine traumatische Erinnerung aus der Vergangenheit ins Gedächtnis bzw. an die Oberfläche steigt. Das kann ein Wort, der Tonfall einer Stimme, ein Geruch, eine Empfindung, ein Gesicht, ein Ort oder jede andere beliebige Situation oder Sache sein, die in Ihnen ein Gefühl der Beunruhigung oder Angst hervorruft. Womöglich ist Ihnen nicht einmal bewusst, wodurch plötzlich ein Gefühl des Unwohlseins, der Verletzung, der Angst oder der Unruhe hervorgerufen wird, aber Ihr Unterbewusstsein weiß es sehr wohl.

Ein Auslöser ruft also die Erinnerung an eine frühere Verletzung hervor und signalisiert Ihnen, dieses Thema bzw. Problem anzugehen. Auslöser sind in diesem Kontext nichts Negatives oder Unerwünschtes, sondern vielmehr eine Einladung, abgespaltene Aspekte Ihres Selbst wieder zu integrieren. Der Completion Process ist im Wesentlichen eine praktische und sehr wirksame Möglichkeit, anhand von Auslösern unsere abgespaltenen Aspekte zu reintegrieren und wieder ganz zu werden.

Lesen Sie einfach weiter, dann wird dieser Ansatz immer mehr Sinn für Sie ergeben. Jetzt am Anfang können Sie sich einfach vorstellen, Sie seien ein Fluss, und die Teile Ihrer Kindheit, welche aufgrund traumatischer Ereignisse abgespalten wurden, seien wie Wasserläufe, die vom Fluss abzweigen.

In der Natur ist es ja so: Je mehr Bäche sich wieder in den Fluss integrieren, also sich wieder damit verbinden, desto mehr Wasser hat der Fluss. Unser Bewusstsein ist ein riesengroßer Fluss von Energie, und jedes Mal, wenn wir einen verlorenen Teil unserer selbst reintegrieren, steht uns mehr Energie zur Verfügung und unser Bewusstsein gelangt auf eine höhere Ebene. Wenn Sie die Tatsache annehmen können, dass Sie ein Meisterwerk sind, an dem immer weiter gearbeitet wird, lernen Sie, im Laufe dieser beständigen Weiterentwicklung Frieden und Freude zu finden. Sie können sicher sein: Je besser es wird, desto besser wird es.

Doch das ist ein kontinuierlicher Prozess, deshalb bitte »Ganzwerdung« nicht mit »Abschluss« verwechseln! Sobald Sie eine Ebene der Erleuchtung erreichen, winkt am Horizont eine weitere. Es gibt keinen erleuchteten »Ruhestand«. Wir sind nie »fertig«, und das ist die große Schönheit unseres Lebens.

Unser wahres Selbst zutage zu fördern ist ein kontinuierlicher Prozess, der nie zu Ende ist. Lassen Sie sich davon nicht entmutigen. Sobald Sie sich selbst entdecken, erkennen Sie, dass Ihnen die Freiheit, die Integrität, die Freude und die Liebe angeboren sind. Sie wurden nur darauf konditioniert, all diese Geschenke zu vergessen.

Weitere Bücher von diesem Autor