Highcliffe Moon - Seelenflüsterer

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Highcliffe Moon - Seelenflüsterer
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Susanne Stelzner

HIGHCLIFFE MOON

SEELENFLÜSTERER

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Magische Anziehung

Wechselbad der Gefühle

Quälende Erinnerungen

Unerklärliche Phänomene

Bizarre Wahrnehmungen

Aliens und Poltergeister

Unheimliche Begegnung

Verwirrendes Geständnis

Im Club der Heuchler

Nichts zu bereuen

Barbies und der Urknall

Schwerelos

Freunde und Feinde

Ein Funken Gutes

Nächtliche Besucher

Argwohn

Der Neue

Herzklopfen

Überrumpelt

Entführung

Verborgene Welten

Elektrische Aufladung

Kontrollverlust

Aufgeflogen

Sehnsüchte

Ein Stückchen Freiheit

Prolog

Der Schlag kam unerwartet und traf ihn mit voller Härte. Er ließ keinen Gedanken mehr zu, kein Entsetzen, keinen Schock. Er hebelte alle Mechanismen in einer Mikrosekunde aus.

Das Dröhnen in seinem Kopf steigerte sich zu einem Orkan. Lichtblitze in wildem Zickzackkurs hinter den Augäpfeln befeuerten sich gegenseitig. Unaufhaltsam stürzte er. Und schlug auf dem Boden auf wie ein gefällter Baum. Dann wurde es still.

Zeit und Raum waren nur noch eine Illusion. Gravitation existierte nicht mehr. Er driftete durch sein vertrautes Universum wie ein Erloschener. Nur einmal spürte er noch mal so etwas wie Schmerz, als eine Feuerlanze aus dem Nichts auf ihn herabschoss und sich in seinen Rücken bohrte. Es brannte zwischen seinen Schulterblättern. Doch auch dieses Gefühl verflüchtigte sich.

Dann sah er sie. Ein Lichtblick in der trostlosen Leere. Seine Augen saugten sich an ihr fest und ließen nicht mehr los.

Magische Anziehung

Zu meinem siebzehnten Geburtstag hatte mir mein Vater dieses großartige Geschenk gemacht – drei Tage New York – und mir damit einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Jahrelang hatte ich sehnsüchtig ein Big Apple Poster an meiner Zimmerwand angesehen und nun fuhr ich mit Charlotte, meiner besten Freundin, im Yellow Cab, wie sie die Taxis hier nennen, über die Brooklyn Bridge in Richtung Manhattan. Der Himmel war lichtblau, ein wenig diesig noch, und die wenigen Wolken hatten sich während der Fahrt vom Flughafen schon weitgehend aufgelöst. Die Finger in das graue Leder des Fahrersitzes vor mir gekrallt, saß ich auf der Kante der Rückbank und blickte erwartungsvoll zwischen den Kopfstützen hindurch.

Dann sah ich sie endlich wahrhaftig vor mir. Die Skyline Manhattans. Mein Herz machte kleine Luftsprünge. Sie war noch atemberaubender, als ich sie mir vorgestellt hatte. Die schräg stehende Morgensonne spiegelte sich in Hunderten von Fenstern und ließ die Fassaden wie ein Mosaik aus viereckigen Goldplättchen erscheinen. Es waren der perfekte Tag und der perfekte Weg, um in dieser Stadt anzukommen.

»Na, Val, ist es nicht einmalig?« Charlotte räkelte sich aus ihrer lässigen Sitzposition und setzte sich ohne Eile aufrecht hin.

Ich konnte kaum fassen, dass sie so ruhig blieb, obwohl ich natürlich wusste, wie gut sie den Anblick kannte. Ihr Vater hatte sie und ihre Mutter häufig auf Geschäftsreisen mitgenommen, um im Anschluss seine Schwester zu besuchen, die, nordöstlich von New York, auf Long Island lebte. Charlottes Leben war wesentlich spannender verlaufen als meines, obwohl sie in demselben winzigen Nest in Südengland zu Hause war. Sie mochte New York sehr, daher hatte ich sie nicht großartig überreden müssen, mich in der Funktion eines Babysitters zu begleiten, um meine skeptische Mutter umzustimmen. Seit ihr Freund Tobey in Boston studierte, ließ sie ohnehin keine Gelegenheit aus, über den Ozean zu fliegen. Geld spielte dabei keine Rolle. Ihr geliebter Vater hatte ihr, nach seinem plötzlichen Tod im letzten Jahr, reichlich davon hinterlassen. Der Babysitter war natürlich nur fürs Alibi. Meine zwei Jahre ältere Freundin wirkte auf Eltern ziemlich reif und souverän, was hauptsächlich mit ihrer kultivierten Erziehung zusammenhing, und ich hatte mehr Spielraum, wenn sie mit von der Partie war. Trotzdem gab es immer wieder Situationen, in denen ich mich als die Ältere fühlte.

Ich suchte noch nach dem richtigen Wort für meine Begeisterung, als sie ihre große, schwarze Designerbrille in das blonde Haar hochschob und dann begann, ihren Unterarm, wie ein Fliegenfischer, in alle Richtungen zu feuern. »Da ganz hinten, siehst du? Die Liberty! Und da drüben, das Empire State! Das da ist die Manhattan Bridge, und guck da, das Chrysler Building!« Die Reiseleiterin in ihr war erwacht.

Ihrem Arm folgend warf ich meinen Kopf hin und her, bis mir fast schwindelig wurde. »Wow, Charlie, es ist der Hammer«, bestätigte ich, benommen von den Eindrücken und den Fliehkräften, die auf mein Gehirn einwirkten.

Ich löste meine schon weiß gewordenen Finger aus ihrem Klammergriff von der Sitzlehne, öffnete das Fenster zur Hälfte, strich energisch eine lange, vor meinen Augen flatternde Haarsträhne hinter das Ohr und hob den Fotoapparat in Position. Leider tanzte das Bild unruhig im Sucher und die in rhythmischer Regelmäßigkeit vorbeifliegenden Streben der Brücke verhinderten zudem einen freien Blick.

»Das bringt nichts«, winkte Charlie ab. »Aber wenn du Lust hast, gehen wir morgen mal zu Fuß über die Brücke, dann kannst du jede Menge scharfe Fotos machen.« Sie grinste breit, während sie ihre Augenbrauen tanzen ließ.

Natürlich wollte ich. »Das wäre super.«

Am Ende der Brücke warf ich einen letzten Blick auf die Piers am Wasser, wo gerade ein riesiger weißer Hubschrauber zur Landung ansetzte. Dann verschluckten uns die Straßenschluchten der Metropole und Charlie kicherte die ganze Zeit, während sie mich dabei beobachtete, wie ich ganz nah an der Scheibe klebte und mich auf meinem Sitz verdrehte, um die Höhe der Gebäude zu erfassen.

»Ganz schön hoch, oder?«, meinte sie amüsiert.

»Der Wahnsinn«, stöhnte ich.

Das Hotel lag im Stadtteil Soho. Unser hagerer Fahrer, mit einem Mund ohne Lippen, presste seinen dürren Finger auf den Taxameter und nannte uns eine, wie ich fand, beträchtliche Summe, die Charlie, ohne mit der Wimper zu zucken, großzügig aufrundete. Mit leisem Ächzen stemmte sie ihre Schultern gegen die Rückbank, zog, mit den Hüften über der Sitzfläche schwebend, ihren engen grauen Rock in die Länge und schwang dann die gebräunten Beine aus dem Auto. Es war warm. Ich krempelte die Ärmel meines weißen T-Shirts bis zu den Ellenbogen hoch, schulterte meinen Rucksack und folgte ihr zur gläsernen Eingangstür des Hotels. Bevor ich eintrat, riskierte ich noch einen Blick nach oben. Es war bei Weitem nicht eines der höchsten Gebäude, aber es reichte, um mir fast den Hals auszurenken.

Unser Zimmer, im vierzehnten Stock, hatte einen unspektakulären Ausblick über einige niedrigere Nachbargebäude hinweg, mit zum Teil sehr schönen Dachgärten. Dahinter, in einiger Entfernung, ragten die richtig hohen Gebäude auf und ich bekam eine Vorstellung, wie groß allein die Insel Manhattan war.

 

»Das Zimmer ist okay, oder?« Charlie, die das Hotel vorgeschlagen hatte, sah mich nun gespannt an, als ich mich mit einem eingebrannten Lächeln im Gesicht umdrehte.

Ich schmiss meine Klamotten auf das riesige Bett mit der grau und beige gestreiften Tagesdecke und ließ meine Augen kurz prüfend durch den Raum wandern, bis ich mich im Spiegel über dem modernen, kantigen Schreibtisch erblickte. Instinktiv strich ich meine Haare glatt.

»Es ist toll«, versicherte ich. Mir wäre selbst eine Jugendherberge recht gewesen, aber wie immer, wenn es meinem Vater möglich war, versuchte er sehr großzügig, meine Wünsche zu erfüllen. Ich vermutete, es hing damit zusammen, dass er nicht bei meiner Mutter und mir lebte. Er war Musiker, ständig auf Reisen. Trotz der immer noch fühlbaren Zuneigung zwischen ihnen, hatte es keine gemeinsame Basis für eine Ehe gegeben.

Ich stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Danke, Dad, stimmte ich einen innerlichen Singsang an, während ich zum anderen Endes des Zimmers tänzelte, um eine Steckdose für mein Telefonladekabel in Beschlag zu nehmen. Als ich ratlos vor der Stromquelle stand, kramte Charlie in ihrer Tasche, um mir kurz darauf grinsend einen Adapter zuzuwerfen. »Hier!«

»Oh toll, danke«, sagte ich erleichtert. Sie war, wie immer, bestens organisiert.

Wie ich es versprochen hatte, schickte ich jeweils eine kurze SMS an meine Eltern. Dann inspizierte ich das hell geflieste Badezimmer und registrierte anerkennend, dass die Glastüren der überdimensionalen Dusche gänzlich kalktropfenfrei waren, ebenso wie der große Spiegel über dem glänzenden Waschtisch, auf dem ich meinen kleinen roten Kosmetikbeutel platzierte. »Ich mach mich kurz frisch, okay?«, rief ich, während ich schon begann, meine Haare zu einem Knoten zu zwirbeln.

»Ja, mach nur.« Charlie überließ mir selbstlos das Bad, denn als routinierte Vielfliegerin hatte sie sich kurz vor der Landung, mit ihren Waschutensilien bewaffnet, während einer Warteschlange verursachenden Viertelstunde in dem engen Toilettenraum des Airbus in Form gebracht. Sie sah viel frischer aus als ich und ihre honigblonden Haare saßen tadellos. Am Fußende des Bettes sitzend, war sie topfit damit beschäftigt, diverse mitgebrachte Magazinseiten mit aktuellen Tipps zu sortieren.

Ich betrachtete mein Spiegelbild. Hier war ich nun also. Ich war wirklich in New York. Ein glückliches Grinsen huschte über meine Mundwinkel und ließ mein müdes Gesicht ein bisschen aufleben. Die leichte Bräune, die ich mir über den Sommer zugelegt hatte, war nicht wirklich zu sehen. Ich wirkte etwas blass, was kein Wunder war, da wir seit vielen Stunden auf den Beinen waren. Dazu kam die Zeitverschiebung. Aber die innere Uhr musste nun schweigen.

Nach einer zeitsparenden Katzenwäsche trocknete ich mich mit dem flauschigen, weißen Hotelhandtuch ab, säuberte meine Unterlider mit einem Wattestäbchen und tuschte die Wimpern etwas nach. Zum Schluss bürstete ich meine langen braunen Haare einmal gegen den Strich und warf sie nach hinten, um sie erneut zu ordnen.

Mit dem letzten Bürstenstrich hörte ich mein Telefon brummen und ging zurück ins Zimmer. Mom, die vermutlich ihr Telefon nicht eine Sekunde aus der Hand gelegt hatte – und ich hatte keine Ahnung, wie spät es zu Hause gerade war –, hatte als Erste geantwortet. Pass gut auf dich auf, Schatz. Doch Dads Antwort war auch schon da. Lass es krachen. Ich musste lachen. Es charakterisierte meine Eltern hundertprozentig. Mom sagte oft, mein Dad sei nie richtig erwachsen geworden. Vielleicht verstand ich mich gerade deshalb so gut mit ihm. Es gefiel mir jedenfalls sehr, dass er mich nicht wie ein Kleinkind behandelte. Vor einigen Wochen hatte er gesagt: »Val, ich weiß, dass du alles schaffen kannst, was du dir vornimmst, und ich weiß, dass tief in dir schon eine gewisse Weisheit wohnt. Um dich brauche ich mir nie Sorgen zu machen.« Das hatte mich umgehauen und ich war ziemlich stolz, dass er mich so sah.

Charlie kritzelte, auf den Lippen kauend, irgendwelche Notizen auf den Rand des Stadtplans. Ihre Mutter wartete nicht auf ein Lebenszeichen. Wahrscheinlich hatte sie sogar vergessen, wo Charlie sich gerade aufhielt. Ihre Welt drehte sich nur noch um sich selbst, Shopping und Reisen.

»Also, bist du jetzt durch mit deinen Morsezeichen an die Familie?«, fragte sie übertrieben heiter, als sie merkte, dass ich sie beobachtete.

Auch wenn sie das Thema jedes Mal abwiegelte, gerade jetzt hatte ich wieder das Gefühl, dass das Desinteresse ihrer Mutter sie mehr verletzte, als sie zugab. Vielleicht steckte aber auch Thema Nummer eins hinter den melancholischen Augen, die einfach nicht zu ihrem Lächeln passten. Daher sagte ich lauernd: »Ja, alles erledigt. Willst du Tobey nicht anrufen?«

Damit sie auch auf ihre Kosten kam, hatte ich angeboten, am nächsten Tag, wenn er zu uns stoßen würde, zeitweise ein Soloprogramm zu absolvieren.

»Nee, er ist heute den ganzen Tag mit seiner Arbeitsgruppe beschäftigt, da will ich nicht stören. Er kann sich ja melden, wenn es passt.«

In ihrer Stimme hörte ich wieder die latente Bockigkeit, wie so oft, wenn es um Tobey ging. Den Stand ihrer zweieinhalbjährigen On-Off-Beziehung analysierten wir regelmäßig, doch es kam mir so vor, als kenne sie ihn manchmal selbst nicht genau. Das Problem war, dass sie ihn ständig drängte, nach England zurückzukehren, er sich aber in Cambridge bei Boston wohlfühlte und sein Studium sehr ernst nahm. Außerdem lebten dort zwei Cousins, mit denen er sich bestens verstand, und auch seine Tante. Tobeys Mutter stammte aus Boston. Und Charlie besuchte seit einem Jahr die Uni Cambridge in England, in erster Linie, weil ihr Vater sich gewünscht hatte, dass sie, wie er, dort eine erfolgreiche Wirtschaftsjuristenlaufbahn einschlug. Obwohl ich ihr zutraute, dass sie es schaffen würde, befürchtete ich aber, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr Studium schmiss und in die USA übersiedelte, da sie mit der Fernbeziehung einfach nicht klarkam. Ein Gedanke, der mich schon länger beunruhigte.

Ich setzte mich neben sie auf die Bettkante. »Es ist doch alles gut bei euch?«, fragte ich misstrauisch.

»Ja, schon. Das Übliche halt. Er textet mal wieder rum.«

»Er kommt noch nicht zurück, oder?«

»Natürlich nicht«, antwortete Charlie erwartungsgemäß und biss sich schwer atmend auf die Unterlippe. »Ich hab ihn so oft gebeten. Er weiß genau, wie sehr ich ihn vermisse.«

Ich hatte mir meine eigenen Gedanken dazu gemacht. »Vielleicht engt genau das ihn so ein und lässt ihn manchmal Dinge sagen oder abziehen, die dich auf die Palme bringen.«

Charlie zog die Stirn in Falten und sah mich skeptisch unter ihren sorgfältig gezupften Augenbrauen an.

»Na, denk mal an den angedrohten Männerurlaub auf Ibiza, nur um deine Reaktion zu prüfen«, erinnerte ich sie an seine schockauslösende Ankündigung im vergangenen Mai. Charlies Blick verfinsterte sich noch mehr. »Letztendlich tut er es ja nicht, wie die Erfahrung gezeigt hat. Aber für mich sieht das aus wie eine reine Provokation, eine Art Befreiungsschlag, wenn du ihn wieder mal zu sehr in die Enge getrieben hast«, vervollständigte ich meinen Eindruck. Mir fielen diverse Situationen ein, die meine Theorie untermauerten. »Ihr dürft euch nicht zerfleischen. Ich denke, du musst ihm Raum lassen, sich zu entfalten, sonst wird er dir ewig vorhalten, dass du seine Karriere behindert oder sogar verhindert hast, und dann ist eure Beziehung sowieso im Arsch. Es ist wahrscheinlich keine so gute Idee, zu sehr zu klammern«, versuchte ich, sie behutsam zu überzeugen.

Sie musterte mich verwundert und ihr Mund zuckte leicht belustigt. »Meine Therapeutin! Woher weißt du nur so viel über Jungs und Beziehungen, obwohl du doch noch nie so richtig einen Freund hattest?«

Ich blies die Wangen auf und ließ die Luft stoßartig entweichen. Meine Erfahrungen mit Jungs beschränkten sich tatsächlich meist auf fragwürdige Neckereien, die diese als adäquate Maßnahme für eine Kontaktaufnahme sahen. Nachdem sie irgendwann aufgehört hatten, mit irgendetwas auf mich zu werfen oder mir Kaugummi auf den Stuhl zu kleben, hatten sie, die Pubertät erreichend, versucht, mir auf Partys, zu fortgeschrittener Stunde, unter das Shirt zu fassen. Bis auf eher verstörende Fummeleien mit dem von mir im vergangenen Sommer favorisierten, gut aussehenden Billy Lasseter, dessen ungeschickte Hände mir aber eher wehgetan hatten, konnte ich keine romantischen Erfahrungen vorweisen.

»Keine Ahnung. Ich beobachte einfach nur und nehme vieles aus meinem Umfeld auf«, sagte ich schulterzuckend.

»In der Theorie ist es mir auch vollständig klar«, jaulte Charlie, »es stimmt alles, was du sagst. Aber praktisch gelingt es mir nicht, das umzusetzen. Ich liebe ihn einfach so sehr, weißt du?«

»Ja, das weiß ich.«

Wir kamen an diesem Punkt nicht weiter. Die Gespräche um Tobey liefen immer sehr ähnlich ab, doch letztendlich drehten wir uns im Kreis. Natürlich würde sie weiter klammern. Sie konnte einfach nicht anders. Seit ihr Vater tot war, hatte sie den Druck auf Tobey sogar noch verstärkt, indem sie allen verkündet hatte, sich schon sehr früh eine eigene Familie vorstellen zu können. Doch mit der Brechstange würde sich ihr Traummann Tobey, so gut glaubte ich, ihn zu kennen, nicht an sie binden lassen.

»Was ist eigentlich mit Ben?«, wechselte Charlie abrupt das Thema.

»Was soll mit ihm sein?«, fragte ich verwundert.

Charlie sah mich mit schief gelegtem Kopf forschend an. »Dir ist doch nicht entgangen, dass er eine echte Schnitte geworden ist?«

»Charlie …«, mahnte ich sie knurrend.

»Was?«

»Wir sind nur Freunde«, stellte ich mit entrüstetem Unterton klar.

»Meinst du nicht, er sieht das mittlerweile etwas anders?«

»Quatsch.«

»Oder trifft er sich auch mit irgendwelchen anderen Mädels?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Na bitte.« Sie sah mich triumphierend an.

»Du spinnst. Du verstehst das nicht. Er ist wie ein Bruder für mich.«

»Aber du würdest es mir sagen, wenn da was geht, oder?«

»Da geht nichts. Du hättest es sonst als Erste erfahren.« Kopfschüttelnd nahm ich meine leichte blaue Jacke aus dem Rucksack und kickte ganz beiläufig den Ball zurück in ihr Feld. »Du findest also, dass er eine Schnitte geworden ist. Ich dachte, er sei in deinen Augen noch ein Kind?« Jetzt blitzte ich sie herausfordernd an.

»Stimmt«, bestätigte Charlie hastig und sprang vom Bett hoch. »Wollen wir dann jetzt los?«

»Packen wir nicht aus?«

Sie stopfte den zerfledderten, vollgekritzelten Straßenplan in ihre Umhängetasche. »Kostet nur Zeit. Komm jetzt.« Sie riss die Hoteltür auf, um mir mit einer einladenden Geste den Weg nach draußen anzubieten. »Kann’s losgehen?«

»Unbedingt!« Ich konnte es kaum erwarten, ein temporärer Teil dieser Stadt zu werden.

Vertrauensvoll trottete ich neben Charlie her, die zielstrebig die Straßen durchpflügte. Ich staunte wie ein Hinterwäldler über imposante Eingangshallen, folgte mit meinem Blick den in den Himmel ragenden Fassaden, bis ich fast das Gleichgewicht verlor, und knipste alles, was mir lohnenswert erschien. Charlie zupfte mich mehrere Male am Arm, um mich zum Weitergehen zu animieren. »Bei deiner investigativen Gründlichkeit brauchen wir sechs Wochen für Manhattan«, meinte sie mit entschuldigendem Lächeln, weil sie mich immer wieder antrieb.

Sie bot mir das volle Programm: Chrysler Building, das ich für den schönsten Bau der Stadt befand; Grand Central Station, wo wir uns ein Megasandwich und eine Cola in der Fressmeile im Untergeschoss gönnten; Rockefeller Center, zu dessen Füßen Charlie schon Schlittschuh gelaufen war, wie sie mir vorschwärmte; Time Square mit seinen riesigen LED-Anzeigentafeln. Hier war die Touristendichte am meisten zu spüren. Ich hatte noch nie so viele Leute umherlaufen sehen. Fasziniert beobachtete ich, wie die Menschenmassen einander reibungslos und unfallfrei in alle Richtungen durchdrangen, begleitet vom Hupkonzert der vorwiegend gelb lackierten Blechmasse auf den Straßen. Angesichts dieser Betriebsamkeit hatte ich keinen Zweifel, dass diese Stadt tatsächlich niemals schlief. Meine aufmerksame Reiseleiterin schnappte mindestens zweimal reaktionsschnell nach meinem Arm, um zu verhindern, dass ich, abgelenkt von so viel Input, von dem unaufhörlich rollenden Verkehr erfasst wurde. Ich hatte irgendwann einen steifen Hals und fühlte meine Füße nicht mehr richtig, aber ich war glücklich.

 

Es war schon später Nachmittag, als wir noch einen Abstecher in den Central Park machten. Graue Wolken zogen plötzlich am Himmel auf und so begann es, verfrüht dunkel zu werden. Der Park leerte sich merklich. An einer Biegung stutzte ich.

»Sieh mal!« Erfreut deutete ich auf das tunnelartige Gewölbe unter einer Steinbrücke. »Das sieht original aus wie in dem Film, den ich vor Kurzem gesehen habe. Vielleicht haben sie den ja hier gedreht. Lass uns mal durchgehen.«

Das erste Mal an diesem Tag übernahm ich die Führung und lief neugierig den asphaltierten Weg hinunter in Richtung Tunneleingang. Je abschüssiger es hinabging, desto steiler ansteigend wurden die mit dichtem Buschwerk bewachsenen, seitlichen Böschungen. Es wurde zunehmend schummeriger.

»Welcher Film war das denn?« Charlies Stimme hallte leicht, als wir den Tunnel betraten.

»Weiß nicht mehr, wie der hieß, aber er handelte von einem Psycho, der Mädchen verschleppte und lebendig begrub«, antwortete ich mit gedämpfter Stimme, denn ich hatte etwas entdeckt.

»Oh«, sagte Charlie ohne größeres Interesse. Dann sah sie ihn auch.

Am Ende der Unterführung, an der Rundung der Wand, lehnte in leicht gebückter Haltung ein jüngerer Mann und lugte unter seiner Kapuze verstohlen zu uns herüber. Er nestelte nervös, sich immer wieder in alle Richtungen umschauend, an den Bändern seines Kapuzenpullis herum. Es schien fast so, als würde er auf uns warten. Unsere Schritte wurden gleichzeitig langsamer und nach einem kurzen Blickwechsel war deutlich, dass wir dasselbe dachten. Auch Charlie war der Typ unheimlich. Ich überlegte, wie viel Geld ich bei mir hatte, falls er ein Junkie war, der schon mit zwanzig freiwillig herausgerückten Dollars das Weite suchen würde.

Unsicher schauten wir wieder zu ihm hinüber, doch die Entscheidung, umzukehren, war fühlbar. Charlie streckte ihren Arm kurz etwas vor meinem Körper aus, was einer angedeuteten Barriere gleichkam.

In unveränderter Haltung stand der Typ da. Fast regungslos sah er uns entgegen. Er wirkte nicht besonders kräftig. Ob er wagen würde, es mit uns zweien gleichzeitig aufzunehmen? Vielleicht war er aber auch total harmlos und nur irgendein Nerd, der schon kalte Schweißausbrüche bekam, wenn weibliche Wesen seinen Weg mit weniger als fünf Schritten Abstand zu kreuzen drohten, versuchte ich, mich zu beruhigen. Möglicherweise würde er aber auch, was einem Albtraum gleichkäme, ein Messer aus der Tasche ziehen. Der Gedanke löste kurzfristig Panik in mir aus und die Turbulenzen in meinem Kopf nahmen zu. Niemand sonst war zu sehen. Es würde uns also im schlimmsten Fall niemand helfen, selbst wenn wir laut schrien. Zu allem Überfluss musste ich jetzt an den vorhin erwähnten Psycho aus dem Film denken und mir wurde heiß und kalt zugleich.

Ein vernünftiger Impuls riet mir zur Flucht. Warum etwas riskieren? Ohne ihn aus den Augen zu lassen, drehte ich meinen Oberkörper, um den Rückzug anzutreten, als ein Windstoß durch die Unterführung fegte und ein paar Blätter aufwirbeln ließ. Eigenartig war nur, dass es sich nicht wirklich wie Wind anfühlte, sondern eher wie die verwirbelte Luft, wenn jemand sehr schnell und dicht an einem vorbeiläuft. Auch ein blumiger Geruch war plötzlich um mich herum. Irritiert sah ich zu Charlie, doch ihr war offenbar nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Sie behielt weiterhin den mysteriösen Mann im Auge.

Der wandte schlagartig den Blick von uns ab und starrte auf die gegenüberliegende Wand. Er schien uns gar nicht mehr wahrzunehmen. Irgendetwas anderes fesselte jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. Ich spähte angestrengt in die Richtung, in die er sah, konnte aber nichts erkennen. Er hob die Hände an die Schläfen und jammerte leise vor sich hin. Dann senkte er den Kopf und verbarg sein Gesicht ganz unter der Kapuze.

Der ist einfach nur durchgeknallt, dachte ich und warf Charlie einen fragenden Blick zu. Sie presste die Lippen zusammen, zog die Mundwinkel nach unten und zuckte fast unmerklich mit den Schultern.

Nun ließ der Mann die Arme sinken und sie baumelten kraftlos neben seinem Körper. Ein dumpfes Gemurmel drang herüber. Auf einmal kam jedoch Spannung in seinen Körper. Mit einem Ruck richtete er sich auf und rannte davon. Es war alles sehr merkwürdig.

Charlie nahm ihren Arm herunter und raunte: »Wow.«

»Was war das denn gerade?«, zischte ich, meinen aufgestauten Druck entladend. Das Adrenalin schoss immer noch durch meine Adern.

Charlies Gesichtszüge entkrampften und sie atmete erleichtert einmal sehr tief durch, um die Luft mit einem langen Pffffhh wieder auszustoßen. Dann hakte sie sich, zu meiner oder vielleicht auch zu ihrer Verstärkung, da war ich mir jetzt nicht ganz sicher, bei mir unter.

»Alles halb so wild. Das ist eben New York. War nur ein Spinner, glaub mir, davon laufen hier reichlich rum«, meinte sie, die Sache etwas herunterspielend, als wollte sie ihrer vermeintlichen Aufgabe als meine Beschützerin schnell wieder gerecht werden. Ich fragte mich, ob sie sich im Ernstfall wie eine Löwin vor mich geworfen hätte. Zugetraut hätte ich es ihr. Sie war vielleicht nicht die Mutigste, aber ihre Loyalität war grenzenlos.

Sie kehrte so schnell zur Normalität zurück, dass ich den Verdacht hatte, sie rechnete es ihrem Auftrag hinzu, meinen Aufenthalt hier durch nichts trüben zu lassen. Sie hatte Erfolg. Meine Muskeln entspannten sich.

»Ja, und ab heute zwei Spinner mehr«, lachte ich erleichtert und erwiderte den Druck ihres Armes.

Wir machten kichernd auf der Stelle kehrt und marschierten eilig aus dem Gang heraus in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Sicher ist sicher, war die Devise.

»Also, stürzen wir uns ins Nachtleben«, verkündete Charlie den nächsten Programmpunkt.

Ich sah mich noch zweimal verstohlen um, weil ich das unerklärliche Gefühl hatte, dass wir verfolgt wurden. Aber es war nur Einbildung, denn niemand war zu sehen. Werd bloß nicht schon am ersten Abend paranoid, ermahnte ich mich selbst.

»Was ist?«, fragte Charlie, wieder die Souveränität in Person. »Ist jemand hinter uns her?« Sie bewegte ihre Arme und Hände in Wellenbewegungen vor ihrem Gesicht, sah mich dabei beschwörend an und machte: »Huuuh.«

»Sehr witzig«, tat ich beleidigt, aber ich drehte mich tatsächlich ein drittes Mal um, als Charlie wegsah.

Der nächste Morgen präsentierte sich, als ich die Vorhänge beiseiteschob, leider grau. Es nieselte leicht. Doch Charlie war bestens gelaunt. Summend hörte ich sie aus der Dusche kommen, dann brummte der Fön eine gefühlte Ewigkeit. Ich hatte begonnen, ein paar Kleidungsstücke auf die Plastikbügel im Kleiderschrank zu hängen. Ein verzweifelter Versuch der Schadensbegrenzung. Meine helle Hose und die beiden Blusen waren so sehr zerknittert, dass ich keine Hoffnung hatte, dass reines Aushängen etwas bewirken würde. Also würde ich wie immer, und zugegebenermaßen am liebsten, Jeans und T-Shirt tragen.

Geräuschvoll wurde die Badezimmertür aufgestoßen. »Bad ist frei!«, trällerte Charlie. Ganz in ein riesiges, weißes Handtuch gewickelt, ließ sie sich auf den Stuhl vor dem Spiegel plumpsen und fing an ihre Schminkutensilien auszubreiten. Mit ihrem schwarzen Haarreif schob sie streng die Mähne nach hinten und als sich unsere Blicke im Spiegel begegneten, drehte sie sich zu mir um. »Und es macht dir wirklich nichts aus, Val?«, fragte sie mit ihrem Dackelblick, den sie normalerweise gern einsetzte, um mich zu irgendetwas zu überreden.

Tobey brauchte von Boston nur eine gute Flugstunde hierher und wollte gegen zehn Uhr bei uns im Hotel sein.

»Nein wirklich, überhaupt nicht. Mach dir keinen Kopf. Das geht voll in Ordnung. Ich gebe mir heute die volle Dröhnung Kultur. Aber wir sollten es vielleicht nicht unbedingt meiner Mom erzählen, dass ich solo unterwegs war.«

Es war für mich total verständlich und so abgesprochen, dass sie mit Tobey ungestört etwas Zeit verbringen wollte. Aber die korrekte Charlie hatte einen Anflug von schlechtem Gewissen, dass sie mich heute stundenlang allein lassen würde.

»Auf keinen Fall, von mir erfährt sie es ganz sicher nicht. Danke, Val, du bist so ein Schatz.« Sie wandte sich erleichtert wieder ihrem Spiegelbild zu, um gleich darauf unzufrieden zu stöhnen. »Oje, wie sehe ich denn aus? Ist das Licht hier anders als im Bad?« Hektisch betastete sie ihre Unterlider. »Ich hab ja Augenringe. Scheiße.« So dicht es ging, ohne schielen zu müssen, beugte sie sich zum Spiegel vor und betrachtete fluchend die leichten Augenschatten.

»Du spinnst doch, du siehst gut aus. Etwas Concealer unter die Augen und dann läuft’s.«

»Du hast gut reden. Warum sieht man dir eigentlich nichts an?«

»Charlie«, raunte ich gedehnt, »ich hatte ein halbes Bier.«

»Ja, ja«, winkte sie ab. Sie stöhnte eigentlich immer, das war nichts Neues. Wahrscheinlich hätte sie noch mehr Grund zur Klage gehabt, wenn ich ihr gestern Nacht nicht den letzten, fast vollen Drink aus der Hand gefischt hätte, als ihr Kopf nach hinten gekippt und sie vor Müdigkeit mit offenem Mund in den riesigen Loungekissen gelandet war. Als sie sich im nächsten Augenblick auf die Seite gedreht und die Beine in Embryostellung angezogen hatte, war das für mich ein untrügliches Signal gewesen, schnellstens ein Taxi zu organisieren.

Hoffnungsvoll suchte ich in meiner Kleiderauswahl nach den restlichen, möglicherweise brauchbaren Klamotten, als es an der Tür klopfte. Überrascht sahen wir uns an. »Gehst du mal hin?«, bat Charlie mit fragendem Blick, während sie ihre Haare mit ihrer überdimensionalen Bürste bearbeitete.

»Klar.«

Verhalten öffnete ich die Tür.