Selbstmitgefühl für Eltern

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Selbstmitgefühl für Eltern
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Susan Pollak

Selbstmitgefühl

für Eltern

 Sorge für dein Kind, indem du für dich selbst sorgst

Mit einem Vorwort von Christopher Germer

aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Christine Bendner


Impressum

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel: Self-Compassion for Parents – Nurture Your Child by Caring for Yourself bei Guilford Publications, Inc. 370 Seventh Avenue, Suite 1200 New York, NY 10001–1020 USA

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2021

Copyright der deutschen Ausgabe © 2021 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Originalausgabe: Copyright © 2019 The Guilford Press, A Division of Guilford Publications, Inc.

Published by arrangement with The Guilford Press

Lektorat: Georg Grässlin

Titelfoto: © Amy Treasure / unsplash.com

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de


Alle Rechte vorbehalten

www.arbor-verlag.de

ISBN 978-3-86781-373-0

Für Adam, Nathaniel und Hillary; für das Lachen, die Freude und Schönheit, die ihr in unser Leben bringt

Inhalt

Impressum

Vorwort

Einleitung

1 »Bitte lass es aufhören – ich kann nicht mehr!«

Erziehungsarbeit ist eine überwältigende Aufgabe

2 »Warum ist das so schwer?«

Selbstmitgefühl als Rettungsinsel nutzen

3 »Woher kam das denn?«

Die Auseinandersetzung mit dem »Gepäck«, das wir als Eltern mitbringen

4 »Ich werde nie gut genug sein«

Die Falle des Vergleichens meiden

5 »Was soll ich tun?«

Mit den unvermeidlichen Unsicherheiten des Elterndaseins arbeiten

6 »Warum können nicht alle einfach mal runterkommen?«

Der Umgang mit unvermeidlichen »hitzigen« Gefühlen

7 »Es ist einfach alles zu viel«

Die Kraft des Mitgefühls in besonders schwierigen Zeiten nutzen

8 Wurzeln und Flügel

Was wir unseren Kindern mitgeben

Selbstmitgefühls-Werkzeugkiste für Eltern

Literatur

Danksagung

Über die Autorin

Liste der Audioaufnahmen

Vorwort

Hast du als Mutter oder Vater jemals den Wunsch verspürt, eine weise und mitfühlende Person möge auf deiner Türschwelle auftauchen, wenn du sie gerade am dringendsten brauchst – wenn dein Kleinkind einen Wutanfall hat, deine Tochter in der Schule schikaniert wird, wenn du dich mit deinem Partner oder deiner Partnerin nicht über den Erziehungsstil einigen kannst, wenn der Ferienstress überhandnimmt oder du einfach überfordert bist? Wenn ja, dann ist dieses Buch für dich geschrieben worden.

Susan Pollak ist seit über 30 Jahren Mutter und sogar noch länger als klinische Psychologin tätig. Sie meditiert seit Jahrzehnten regelmäßig und ist eine Vorreiterin bei der Integration von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl in die Psychotherapie (und den Alltag). Anhand von überzeugenden Beispielen macht Susan Pollak klar, dass sie die Herausforderungen der Elternschaft in- und auswendig kennt, und sie führt ihre Leserinnen und Leser behutsam zu einer neuen Beziehung zu sich selbst und ihren Familien – eine Beziehung, die von Liebe und verbundener Präsenz getragen wird. Das ist Selbstmitgefühl.

Wenn Eltern zum ersten Mal von Selbstmitgefühl hören, sagen sie oft: »Oh, genau das brauche ich!« Eltern stoßen oft an die Grenzen ihrer Fähigkeit, freundlich und mitfühlend mit ihren Lieben umzugehen, und sie verstehen instinktiv, dass sie sich selbst fürsorglicher behandeln müssen, um anderen mehr geben zu können. Doch vieles hindert uns am Selbstmitgefühl – daran, genauso freundlich und verständnisvoll mit uns selbst umzugehen, wie wir es so bereitwillig mit anderen tun. Es gibt falsche Vorstellungen über Selbstmitgefühl, beispielsweise, dass es eine Menge mit Selbstmitmitleid, Selbstverhätschelung und Selbstsucht gemein habe, oder uns schwach und unmotiviert mache. Die wissenschaftliche Forschung weist allerdings zunehmend genau auf das Gegenteil hin: nämlich, dass sich selbstmitfühlende Menschen anderen gegenüber mitfühlender verhalten, dass sie besser für sich sorgen, dass sie emotional stabiler sind, ihre Probleme eher mit Abstand betrachten können und motivierter sind, ihre Ziele zu erreichen. Andere Hindernisse im Hinblick auf Selbstmitgefühl sind persönlicher Natur, beispielsweise Botschaften aus der Vergangenheit, die uns sagen, dass wir uns selbst keine Aufmerksamkeit schenken, sondern uns nur um andere kümmern sollten – insbesondere innerhalb der Familie – oder dass wir es einfach nicht verdient haben, einmal inne zu halten und uns um uns selbst zu kümmern, weil es so viel zu tun gibt.

Die gute Nachricht ist, dass jede und jeder lernen kann, selbstmitfühlender zu werden. Kristin Neff, eine an der University of Texas in Austin forschende Psychologin und ich haben ein achtwöchiges Trainingsprogramm entwickelt, das 2010 an den Start ging und heute überall auf der Welt gelehrt wird: Mindful Self-Compassion oder MSC (Achtsames Selbstmitgefühl). Das Interesse an diesem Thema ist riesengroß – vielleicht, weil die Wirkung von Selbstmitgefühl fast unmittelbar spürbar ist. Es kann auch eine Offenbarung sein, zu entdecken, dass wir alle die Fähigkeit haben, uns selbst zum großen Teil die Freundlichkeit und das Verständnis entgegen zu bringen, die wir oft vergeblich von anderen zu bekommen hoffen.

Susan Pollak hat schon früh erkannt, welche Kraft im Selbstmitgefühl liegt. Sie war eine der ersten MSC-Lehrerinnen und ist inzwischen MSC-Ausbilderin. Ich bin sehr glücklich darüber, dass Susan in diesem Buch ihre tiefen Erkenntnisse über Selbstmitgefühl und ihr Wissen über MSC weitergibt. Eltern sind ganz besonders »reif« für Selbstmitgefühl: Sie kennen die Kämpfe und sie kennen Mitgefühl. Sie müssen im Hinblick auf ihr Mitgefühl einfach gelegentlich einen Richtungswechsel vornehmen und entdecken, welche positiven Auswirkungen das auf sie selbst und ihre Familien haben kann.

Dieses Buch ist eine der niederschwelligsten Einführungen in Selbstmitgefühl, die ich kenne. Es lehrt nicht über Selbstmitgefühl, sondern stellt mithilfe von detaillierten Beispielen, persönlichen Anekdoten und intelligenten Übungen, (die zeigen, wie man elterliche Konflikte durch Achtsamkeit und Selbstmitgefühl transformieren kann,) eine direkte Verbindung zur täglichen Aufgabe des Elternseins her. Es ist tatsächlich so, als hätte man eine weise und mitfühlende Freundin an der Seite. Aber, was noch besser ist: das Buch zeigt den Leserinnen und Lesern, wie sie selbst zu ihrer/ihrem weisen und mitfühlenden Freundin/Freund werden können. Man muss nicht einmal eine Minute darauf warten, dass er oder sie auftaucht.

Dieses Buch lädt dich ein, all jene Verhaltensweisen aufzugeben, die die Erziehungsaufgabe noch schwieriger machen, als sie bereits ist: sich selbst mit anderen Eltern vergleichen, deine Kinder mit anderen Kindern vergleichen, sich selbst für unvermeidliche Fehler anklagen oder unnötigerweise mit deinen Kindern oder deinem Partner, deiner Partnerin zanken. Du wirst stattdessen eingeladen, inmitten der ganzen Schwierigkeiten auf eine authentische Weise mit dir selbst in Kontakt zu treten, neugierig wahrzunehmen, was du fühlst und dich dann um dich selbst zu kümmern – um dein Herz zu kümmern – und dir in diesem Moment zu erlauben, einfach so zu sein, wie du bist.

Christopher Germer, PHD Harvard Medical School/Cambridge Health Alliance

Einleitung

Kürzlich half ich einigen Cousinen bei den Vorbereitungen für eine Hochzeitsfeier meiner Familie auf dem Land. Eine von ihnen war eine junge Mutter von drei kleinen Kindern, einschließlich eines Neugeborenen. Wir fingen an, über Elternschaft und Erziehung zu sprechen. »Also, wie gut mache ich es?«, fragte Emma geradeheraus und sah angespannt aus. »Ich bin die Letzte, die das zu beurteilen hat«, beruhigte ich sie. Während eines der Kinder um Aufmerksamkeit heischend an ihrem Bein zog, gab ich eine Zeile aus einem meiner Lieblingstexte der Schriftstellerin Tillie Olsen wieder: »Mutter zu sein bedeutet, ständig unterbrechbar zu sein.«1 Sie lachte und erwiderte: »Und ununterbrochen korrigierbar zu sein. Und ständig kritisiert zu werden. Ich habe nie das Gefühl, dass ich es richtig mache. Wenn meine Kinder außer Rand und Band geraten, starren mich die Leute an, als würde ich jugendliche Straftäter heranziehen. Ich weigere mich, sie in Zwangsjacken zu stecken und ihnen einen Schnuller in den Mund zu schieben oder sie wie abgerichtete Hündchen an der kurzen Leine zu führen. Als ich klein war, hatte ich die Freiheit, zu rennen, zu klettern, zu schreien und wild zu sein. Heute scheint es, als sei es nicht in Ordnung, wenn Kinder Lärm machen und Spaß haben. Es kommt mir so vor, als sollten sie stets still und zurückhaltend sein. Das ist unmöglich.«

 

Emmas Worte beschäftigten mich noch länger und beunruhigten mich. Sie hatte etwas ausgesprochen, das ich von fast allen Eltern höre, die ich kenne. Elternschaft ist für niemanden leicht. Wir fühlen uns nie gut genug. Die Dinge laufen fast nie nach unserer Vorstellung. Und wenn sie es nicht tun, dann geben wir uns die Schuld, kritisieren unsere Kinder, strengen uns noch mehr an und versuchen, noch mehr Kon­trolle auszuüben. Wir werden angespannt und deprimiert. Unsere Kinder werden angespannt und deprimiert. Wir schauen über die Schulter, vergleichen uns mit unseren Freundinnen, Familien, Nachbarinnen. Wir schlafen schlecht. Was machen wir falsch? Kann man diesem endlosen, freud­losen Kreislauf entkommen?

Halte inne. Atme. Lausche. Hör auf, auf dir herumzuhacken. Sei ein bisschen nachsichtiger mit dir. Hör auf, mit deinen Kindern oder deinem Partner / deiner Partnerin zu zanken. Sigmund Freud hatte recht, Emma ebenso – Elternschaft ist ein »unmöglicher Beruf«. Der Versuch, unsere Kinder zu dominieren oder ihnen einen Maulkorb zu verpassen, ist ein vergebliches Unterfangen. Expert:innen sagen uns, dass letztendlich kaum etwas vorhergesagt oder kontrolliert werden kann.

Wir alle sind erschöpft, angespannt und besorgt. Und wir sind damit nicht allein. Ein Historiker, der sich mit der amerikanischen Kultur auseinandergesetzt hat, bemerkte einmal, »In keinem anderen Land existiert eine so allumfassende gesellschaftliche Anspannung im Hinblick auf das Aufziehen von Kindern«.2 Wir fragen uns, ob es irgendjemand irgendwo besser macht. Haben französische Eltern ein Geheimrezept? Beziehen »Löwenmütter« eine bessere Rendite aus ihrer Investition? Anthropolog:innen erzählen uns, dass japanische Babys durchschlafen und mexikanische Geschwister nicht streiten – sollten wir vielleicht umziehen?

Mach eine Kehrtwende

Nein. Beginne da, wo du bist. Dieses Buch bietet auf der Basis jahrzehntelanger Forschung über Achtsamkeit und Mitgefühl einen radikalen Perspektivwechsel an. Der Samen für eine glücklichere und weniger konfliktbeladene Art der Elternschaft liegt in uns selbst, nicht auf einem anderen Kontinent. Wir müssen uns nicht wütend oder hilflos fühlen und unsere Kinder und uns selbst in einen Erschöpfungszustand treiben. Es gibt einen anderen Weg. Anstatt sich dauernd bei dem Versuch aufzureiben, deine Kinder in Ordnung zu bringen oder zu ändern, versuche es mit einer Kehrtwende. Bring dir selbst etwas Freundlichkeit und Mitgefühl entgegen. Fang an, dich selbst zu nähren, damit deine Kinder aufblühen können. Wie bitte? Du schüttelst den Kopf. Du verdrehst die Augen. Du hast zu tun. Du hast keine Zeit für so etwas. Es klingt zu egoistisch und albern. Das antworten mir die meisten Eltern.

Als in Harvard ausgebildete Psychologin mit zwei erwachsenen Kindern und über dreißig Jahren klinischer Erfahrung, habe ich mit vielen Eltern und Kindern gearbeitet. Und ich habe eine Menge Erziehungsratgeber gelesen. Hier liegt das Hauptaugenmerk oft auf der Frage, wie wir unsere Kinder »zur Räson« bringen, wie wir sie dazu bringen können, sich zu benehmen, wie wir sie zum Einschlafen bringen können, wie wir erreichen können, dass sie ein gutes Abitur machen und garantiert erfolgreich werden. Kurz, wie wir sie zu dem machen können, was sie unserer Meinung nach sein sollten. Aber nur selten erhalten wir die gewünschten Resultate.

Was ist aus der Freude geworden? Dem Glück? Der Begeisterung? Wir müssen nicht so hart zu ihnen oder uns sein. Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass wir sie viel eher mit Mitgefühl motivieren können als durch Kritik. Ja, wirklich. Wir können unseren Fokus vom ständigen Tun auf das Sein umlenken. Einfach sein. Wir können aufhören, herumzurennen und hektische, wütende Eltern zu werden, die mit ihren Kindern im Feierabendverkehr zum Fußballtraining oder zum Ballett rasen, während diese sich auf der Rückbank beißen und boxen. Das ist keine Verurteilung – ich habe es auch so gemacht. Ich war die hektische Mutter im Auto, dünnhäutig, total erschöpft, die stets versuchte, viel zu viel zu tun – und den Kampf verlor. Das tat niemandem gut. Und dann versuchte ich, zum inneren Gleichgewicht und zur Vernunft zurückzufinden.

Das Fundament dieses Buches sind über drei Jahrzehnte Elternschaft, klinische Arbeit und Meditation. Die theoretische und wissenschaftliche Grundlage des Buches ist die bahnbrechende Arbeit meiner Kolleg:innen Chris Germer und Kristin Neff, die den bahnbrechenden Kurs für Achtsames Selbstmitgefühl (Mindful Self-Compassion – MSC), entwickelt haben, den ich seit der Einführung 2010 lehre.3 Neben MSC, das inzwischen zehntausenden Menschen in aller Welt vermittelt wurde, ist dieser Elternratgeber vollgepackt mit Geschichten und Beispielen aus meiner langjährigen klinischen Arbeit mit Eltern und Kindern und meiner eigenen Erfahrung als Mutter. (Die Beispiele bestehen aus zusammengesetzten Texten, um die Vertraulichkeit zu wahren). Ich habe diese Geschichten mit Übungen und Reflexionen kombiniert, die sich aus meinem Verständnis darüber, was effektiv ist, sowie aus den Erfahrungen vieler Menschen herauskristallisierten, denen diese Übungen geholfen haben.

Ich hoffe, dass dich dieses Buch dort abholt, wo du gerade stehst und dir eine Hilfe bei deinen Erziehungskonflikten ist. Es muss nicht so schwer sein und wir müssen nicht so sehr leiden. Und unsere Kinder auch nicht. Möge dieses Buch etwas Freude, Glück, Lachen und Mitgefühl in dein Leben und das deiner Familie bringen.

Wie man das Buch nutzt

Es gibt keine »richtige« Art und Weise, dieses Buch zu nutzen. Du musst es nicht von vorne bis hinten lesen. Spring einfach rein, finde ein Kapitel oder eine Geschichte, die dich anspricht, und fange da an. Falls das Thema Achtsamkeit neu für dich ist, findest du in den ersten Kapiteln Übungen für Anfänger:innen. Ich habe versucht, Achtsamkeits- und Mitgefühlsübungen mit Reflexionsübungen zu kombinieren, um das Material für alle Leserinnen und Leser zugänglich zu machen. Diese Reflexionen sollen dir helfen, dich auf das zu fokussieren, was du brauchst; nimm also Stift und Notizblock zur Hand oder halte deine Antworten auf deinem Smartphone oder Tablet fest, falls das einfacher für dich ist. Du hast keine Zeit zum Lesen? Das verstehe ich – ich hatte auch keine, als meine Kinder klein waren. In dem Fall gehst du einfach ins Arbor Online Center (siehe den Link hier) und lädst die ausgewählten Audio-Dateien herunter (die Nummern der Aufnahmen sind bei den Übungsanleitungen in den folgenden Kapiteln angegeben). Du kannst diese Aufnahmen anhören während du Geschirr spülst, deinen Morgenkaffee trinkst, das Schulvesper für deine Kinder richtest oder Auto fährst (halte aber bitte die Augen offen). Steckst du in einer Krise? Schau in der »Werkzeugkiste« am Ende des Buches nach, um dir sofort Hilfe zu holen: bei Koliken, Wutanfällen, Geschwisterrivalitäten, einem kranken Kind, einem Machtkampf mit einer/einem Teenager:in und anderen häufigen Herausforderungen. Aber das Wichtigste ist, wie mir vor Jahren eine meiner Achtsamkeitslehrerinnen sagte: »Man kann es nicht falsch machen.« »Oh, wirklich?«, erwiderst du. Ja, wirklich. Ich habe mein Leben damit zugebracht, mich für die kleinsten Fehler zu bestrafen. »Man kann es nicht falsch machen«, würde sie uns sagen. War diese Lehrerin von einem anderen Stern? Was hatte sie eingenommen? (Und würde sie es uns verraten?) Während ich in ihrem Mitgefühl, ihrem Humor und ihrer Weisheit badete, musste ich an die unvergessliche Zeile aus »Harry und Sally« denken: Ich beschloss, dass ich »haben will, was sie hat«.

Die gute Nachricht ist: Achtsamkeit und Mitgefühl stehen uns allen zur Verfügung – und wir können sie mit den Menschen in unserer Umgebung teilen. Es sind Qualitäten, die du entwickeln kannst. Die Übungen sind nicht für heiter-gelassene Menschen gedacht, bei denen schon alles perfekt ist. Du musst nicht gut im Stillsitzen sein. Du musst nicht vegan, zucker- oder koffeinfrei leben. Du kannst genau so sein, wie du bist: überarbeitet, angespannt, neurotisch, unter Schlafmangel leidend und kaum in der Lage, alles zusammenzuhalten. Es ist in Ordnung, »ein Durcheinander« zu sein. Ich war das auf jeden Fall. Wenn du atmen kannst (und schau jetzt nicht nach – du tust es bereits), dann kannst du auch das hier schaffen. Willkommen.

1 »To be a mother«. In: Olsen, Tillie: Silences. New York, NY: The Feminist Press, 1965, S. 18.

2 Lerner, Max: Amerika, Wesen und Werden einer Kultur – Geist und Leben der Vereinigten Staaten von heute. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1957, im Orig. S. 562.

3 Neff, Kristin und Germer, Christopher: Selbstmitgefühl – Das Übungsbuch: Ein bewährter Weg zu Selbstakzeptanz, innerer Stärke und Freundschaft mit sich selbst. Freiburg: Arbor Verlag, 2019.

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»Bitte lass es aufhören – ich kann nicht mehr!«
Erziehungsarbeit ist eine überwältigende Aufgabe
Der Tank ist leer

Es war einer jener Morgen. Das Baby hatte nicht geschlafen, Amélies Mann war auf Geschäftsreise und die dreijährige Sophie bestand darauf, im Kindergarten ihr neues Ballettröckchen anzuziehen, während sich an diesem Januarmorgen in Neuengland draußen der Schnee auftürmte. Und außerdem waren sie zu spät dran. Natürlich waren sie zu spät dran. Amélie hatte Zeit gehabt, den Kindern etwas zu Essen zu geben, aber keine Zeit mehr, selbst etwas zu essen.

»Du kannst dein Ballettröckchen und die Ballerinas heute nicht anziehen«, insistierte Amélie. »Es schneit.«

»Das ist mir egal«, gab Sophie zurück und drehte Pirouetten. Amélie war nicht nach streiten zumute. »Liebes, wir sind spät dran«, sagte sie bittend mit höher werdender Stimme.

»Spät dran, spät dran«, äffte Sophie nach und imitierte den hohen Ton ihrer Mutter.

»Genug jetzt, keine Widerrede, wir gehen. JETZT. Zieh deine Jacke an,« sagte Amélie und versuchte, bestimmt aber ruhig zu klingen, wie es in allen guten Erziehungsratgebern empfohlen wird.

»Du kannst mich nicht zwingen, du kannst mich nicht zwingen,« erwiderte Sophie in einem Singsang. Sie hörte auf zu tanzen, ließ sich trotzig zu Boden fallen und streckte die Zunge heraus.

Amélie war wütend. »Genug! Ich habe genug«, schrie sie, schnappte sich beide Kinder und zerrte sie zum Auto, während ihr Anoraks aus den Händen rutschten. Mit einer Hand öffnete sie die Autotür, um das Baby in seinen Sitz zu verfrachten und warf Sophie ihre Jacke zu. Sophie nahm sofort eine neue Möglichkeit wahr, Widerstand zu leisten, während die Entschlossenheit und das Mitgefühl ihrer Mutter schwanden und von kochender Wut abgelöst wurden: Prompt weigerte sie sich.

»Du bist nicht mein Boss«, spottete sie.

»Du kannst ruhig frieren, schau, ob mir das was ausmacht« konterte Amélie, während sie beide Kinder in ihren Kindersitzen anschnallte und losraste.

Sophie begann zu jammern und das Baby schloss sich an.

 

»Hör sofort damit auf«, zischte Amélie und fühlte sich überfordert und hilflos. Das war eindeutig keiner der schöneren Momente ihrer Mutterschaft.

»Ich will zu meinem Papa«, schrie Sophie. »Er ist nicht so gemein wie du.« Es war eine Erleichterung für alle, am Kindergarten anzukommen. Die Erzieherin war sehr verständnisvoll bei der Begrüßung, wischte Sophies Tränen weg, ließ sie herein und schenkte Amélie ein mitfühlendes Lächeln. Innerhalb von Minuten begann Sophie mit ihren Kindergartenfreund:innen zu malen und zu lachen.

Amélie ging, winkte beschämt zum Abschied und hatte das Gefühl, eine schreckliche Mutter zu sein. Während Sophie die Sache schon vergessen hatte, fiel Amélies Wut wie ein Bumerang aus Scham, Schuld und Bedauern auf sie zurück. Sie begann sich auszuschimpfen. »Ich mache das wirklich ganz schlecht. Ich bin eine furchtbare Mutter.«

Auf der Heimfahrt fing der Motor an zu stottern und das Auto blieb schließlich stehen. »Oh, Mist«, dachte Amélie, Normalerweise sorgte ihr Mann Tom dafür, dass das Auto betankt war, aber da er unterwegs war, hatte sie überhaupt nicht daran gedacht, die Tankanzeige zu überprüfen, die natürlich auf »leer« stand.

Amélie seufzte, packte das Baby in sein Tragegestell und lief in Richtung einer Tankstelle. Inzwischen schneite es heftiger. »Großartig, das ist genau, was ich verdammt nochmal jetzt brauche«, dachte sie, als sie zu weinen begann. Die Intensität ihres Schluchzens überraschte sie selbst. »Wie kann ich das schaffen? Wie kann ich die nächsten 15 Jahre überstehen, ohne mich selbst und die Kinder in den Wahnsinn zu treiben?«