Ideologie, Kultur, Rassismus

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Ideologie, Kultur, Rassismus
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Stuart Hall

Ideologie Kultur Rassismus

Ausgewählte Schriften 1


Argument Verlag

Übersetzt von Wieland Elfferding, Birgit Ermlich, Gabriela

Mischkowski, Gottfried Polage, Nora Räthzel und Thomas Weber.

Mit einem Vorwort von Gustav Klaus

Stuart Hall – Ausgewählte Schriften bei Argument:

Ideologie, Kultur, Rassismus (Schriften 1)

Rassismus und kulturelle Identität (Schriften 2)

Cultural Studies (Schriften 3)

Ideologie, Identität, Repräsentation (Schriften 4)

Populismus, Hegemonie, Globalisierung (Schriften 5)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Neuausgabe 2012 mit leicht geändertem Satzbild, Paginierung gegenüber früheren Ausgaben geringfügig abweichend

Alle Rechte der deutschen Fassung vorbehalten

© Argument Verlag 1989

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86754-848-9

Sechste Auflage 2014

Inhalt

Vorwort

Seit nunmehr drei Jahrzehnten spielt Stuart Hall eine führende Rolle im Spektrum der britischen Linken. Anders als seine etwas älteren Mitstreiter Raymond Williams oder E.P. Thompson hat ihn allerdings nicht die Veröffentlichung eines Klassikers – der Kulturtheorie oder Sozialgeschichtsschreibung – bekannt gemacht. Die publizistische Tätigkeit des 1932 auf Jamaika Geborenen, erst als Stipendiat Anfang der fünfziger Jahre nach England Gekommenen verlief weniger spektakulär, ohne deswegen weniger ertragreich oder anregend zu sein. Ob als Zeitschriftenherausgeber oder Projektleiter, stets wusste Hall seine Person in den Hintergrund zu stellen. Mit selbstverleugnender Bescheidenheit reihte er sich in Arbeitszusammenhänge und Autorenkollektive ein, weil, wie er es einmal in einer Bilanz seiner Tätigkeit am Centre for Contemporary Cultural Studies formulierte, ihm die »einsame, isolierte, individualisierte und konkurrenzbesessene Arbeitsweise« ein Gräuel war. Ähnlich dem Prinzip des »forschenden Lernens«, mit dem hierzulande in den siebziger Jahren einzelne Reformuniversitäten angetreten sind, organisierte und praktizierte er die Arbeit in Projekten und Forschungsgruppen, im strikten Gegensatz zu jener verbreiteten Spezies Einzelkämpfer unter den Geisteswissenschaftlern, »die ihre Arbeitsthemen wie Schlagstöcke im Gepäck herumtragen«. Diese Einstellung erklärt zum Teil, weshalb es auch in Großbritannien bis 1988 nicht ein einziges Buch gab, in dem der Autor als Alleinverfasser firmierte.

Als sich im Gefolge der krisenhaften Ereignisse des Jahres 1956 (20. Parteitag der KPdSU mit der berühmten Chruschtschow-Rede, Suez-Invasion, Ungarnaufstand) die New Left herauskristallisierte, gehörte Stuart Hall zu den Aktivisten der ersten Stunde. Dank seiner glänzenden Rhetorik war der Mitbegründer und -herausgeber der Oxforder Universities and Left Review ein gefragter Redner auf vielen Tribünen und Veranstaltungen. In der New Left kamen ehemalige Kommunisten – die britische Partei hat 1956-58 fast zehntausend Mitglieder verloren – und Labour-Linke zusammen, Kritiker der Konsumgesellschaft und Anhänger der Kampagne für nukleare Abrüstung, engagierte Schriftsteller und radikale Akademiker. Als sich die Universities and Left Review 1960 mit dem u.a. von Thompson edierten New Reasoner zur heute noch erscheinenden New Left Review zusammenschloss, hieß der Herausgeber wiederum Stuart Hall.

Die erste akademische Position, die Hall bekleidete, war eine Dozentur für Medienwissenschaft am Chelsea College in London (1961-64). Hier entstand das gemeinsam mit Paddy Whannel geschriebene Buch The Popular Arts (1964), eine Gegenstandsbeschreibung und Analyse massenhaft verbreiteter Kulturformen von Film und Fernsehen bis zu Groschenheften und Popmusik, unter Berücksichtigung ihrer möglichen Einbindung in den schulischen und universitären Unterricht. Anlage und Ergebnisse dieses Werks ebenso wie die Teilnahme an den Kulturdiskussionen der New Left prädestinierten Hall für die Arbeit an dem 1964 von Richard Hoggart an der Universität Birmingham eröffneten Centre for Contemporary Cultural Studies.1 Die Untersuchungen von Hoggart (The Uses of Literacy, 1957) und Williams (Culture and Society 1780–1950, 1958, sowie The Long Revolution, 1961) hatten das materiale und theoretische Fundament gelegt, die Aufbruchsstimmung der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre das geistige Klima geschaffen, in dem gegen beträchtliche Widerstände ein kulturwissenschaftlicher Aufbaustudiengang und ein neues Forschungsparadigma inauguriert werden konnten. Die inhaltliche Ausrichtung und der konzeptionelle Rahmen von Cultural Studies, wie wir sie heute in Großbritannien an vielen Polytechnics und einigen wenigen Universitäten finden, sind jedoch untrennbar mit dem Namen Stuart Hall verbunden. Erst unter seiner Leitung – Hoggart war 1969 zur Unesco nach Paris gegangen – hat das Centre die an seine literaturwissenschaftliche Herkunft gemahnende Orientierung an »Texten« zugunsten der Konzeptualisierung von kulturellen Praxen abgelegt, die Gesellschaftstheorie gegenüber der funktionalistischen Soziologie in den Vordergrund gerückt und die Parteinahme zugunsten marginalisierter und unterprivilegierter sozialer und ethnischer Gruppen an den Tag gelegt, die vielen argwöhnischen Beobachtern ein Dorn im Auge war und ist.

Mit der Entstehung einer neuen pluralen marxistischen Kultur in Großbritannien, entschieden gefördert durch den massiven Import kontinentaler Denkansätze seitens der neuen Mannschaft der New Left Review um Perry Anderson, wuchs dem Centre zumindest im Bereich der Kulturanalyse eine Avantgarde-Position zu. Es gab eine Zeit, in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, als das Erscheinen eines Heftes der Institutszeitschrift Working Papers in Cultural Studies an manchen linken Fachbereichen besonders der Polytechnics mit der gleichen Ungeduld erwartet wurde wie hier während der Studentenbewegung das Neueste aus den Redaktionszimmern des Argument, der alternative oder des Kursbuch. Zwar hatten die Working Papers zunächst eine ungleich niedrigere Auflage. Das sollte sich jedoch in dem Augenblick ändern, als die Bände in das Verlagsprogramm von Hutchinson übernommen wurden: Der erste Titel Resistance through Rituals (1976) – deutsch in veränderter Fassung 1979 als Jugendkultur im Widerstand – musste gleich mehrfach nachgedruckt werden.

Eingeleitet worden ist die Rezeption der Arbeiten Stuart Halls in der BRD durch ein vom WDR ausgestrahltes Rundfunkinterview 1977, das noch im gleichen Jahr in Gulliver 2 (Argument-Sonderband 18) abgedruckt wurde. Frühere Präsentationen des Centre in Ästhetik und Kommunikation 24 (1976) und Literaturmagazin 5 (1976) hatten weniger Resonanz. Waren es zunächst die ethnographischen Arbeiten, die hier in die Jugendkulturdiskussion Eingang fanden, so hat Das Argument (seit Heft 118, 1979) vor allem an die Ideologieforschung angeknüpft. In On Ideology (1978; zugleich auch zehnter und letzter Band der Working Papers, 1977) hatten Hall und seine Mitarbeiter Althussers Bestimmung von Ideologie als real existierendes gesellschaftliches Verhältnis, verankert und reproduziert in Institutionen, zwar gewürdigt, zugleich aber auch wegen ihrer funktionalistischen Schlagseite, die kaum Platz für Widerspruch und Opposition ließ, kritisiert.

Für das Projekt Ideologie-Theorie (1977–1985) wurden diese Arbeiten zu einer Art von Gründungstexten. Von hierher las man Althusser und Gramsci neu, arbeitete schließlich die marxistischen Positionen in der Ideologiefrage auf. In den daraus resultierenden Theorien über Ideologie (1979, Argument-Sonderband 40) ist Stuart Halls Einfluss nicht nur durchweg zu spüren, sondern von ihm stammt auch der historische Abriss über Ideologie und Wissenssoziologie in bürgerlicher Tradition (Kapitel 7). In der Camera obscura der Ideologie (1984, Argument-Sonderband 70), einem Band mit drei Bereichsstudien des Projekts Ideologie-Theorie über Philosophie, Ökonomie und (Natur-) Wissenschaft, taucht Stuart Hall wiederum als einer der drei Autoren auf. Man kann sagen, dass die Veröffentlichung des vorliegenden Bandes eine späte Folge dieser Zusammenarbeit ist.

In der Kampagnenanalyse, die das Buch Policing the Crisis: Mugging, the State, and Law and Order (1978) liefert, verbindet sich das den Jugendkulturarbeiten eignende Moment der Empathie mit der These von den hegemonialen Strukturen der Ideologietheorie. Ausgangspunkt war hier die in den britischen Medien geschürte, rassistisch besetzte Hysterie vor der gewalttätigen Straßenkriminalität, die hauptsächlich jungen Schwarzen angelastet wurde. Hall, wie erwähnt selbst Westinder, und seine Ko- Autoren zeigen, wie der durch die Wirtschaftskrise brüchig gewordene gesellschaftliche Konsens durch die Panikmache vor dem mugging zusammengekleistert wird, wobei reale Erfahrungen und irreale Ängste gerade auch »kleiner Leute« mobilisiert und zielverschoben eingesetzt werden: In der Abschottung von den stigmatisierten schwarzen Jugendlichen wird die Nation erneut auf die staatstragende Eigentumsideologie eingeschworen, so als hätten die Mugger mit ihren bei brutalen Überfällen entwendeten Brieftaschen die Institution des Privateigentums überhaupt in Frage gestellt. (Begriffe wie »Konsens« und »Hegemonie« signalisieren den Bezug auf Gramsci, der hier gewissermaßen als Korrektiv zu Althusser fungiert.)

 

Staatstheoretische Ableitung und aktuelle politische Analyse fließen auch in den Schriften über den Thatcherismus zusammen, den Hall schon früh als äußerst ehrgeiziges Projekt begriffen hat, die gesamten sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit zurückzurollen und unter geschicktem Einsatz populistischer Rhetorik längst residual geglaubte viktorianische Werte wie Eigeninteresse, Konkurrenz, Strebsamkeit, Nation, Familie, Pflichtgefühl usw. wiederzubeleben und aggressiv durchzusetzen. Zunächst in der Zeitschrift Marxism Today erschienen, deren ständiger Mitarbeiter Hall ist, sind diese Aufsätze zum Teil in The Politics of Thatcherism (1983) gesammelt. Durch die Zugehörigkeit zum »advisory board« von Marxism Today, der attraktiv gestalteten und monatlich in 17000 Exemplaren vertriebenen Zeitschrift des eurokommunistischen Mehrheitsflügels der britischen KP, bekennt Hall auch politisch Farbe, wobei sich die Einschätzung, eine sozialistische Alternative zum Stalinismus wie zur Sozialdemokratie zu finden, bis auf das gemeinsam mit Williams und Thompson 1967/68 verfasste May Day Manifesto zurückverfolgen lässt.


Februar 1989 H. Gustav Klaus

1 Stuart Hall blieb bis 1979 am CCCS in Birmingham. Seither ist er Professor für Soziologie an der Open University

Das »Politische« und das »Ökonomische« in der marxschen Klassentheorie

Die Grenzen dieses Artikels liegen auf der Hand. Ein umfassender oder systematischer »Überblick« über die marxsche Klassentheorie kann hier nicht geboten werden. Erstens, weil Klassen, Klassenverhältnisse und Klassenkampf Begriffe sind, die im Zentrum von allem standen, was Marx geschrieben hat – einschließlich natürlich des Kapitals, seinem Hauptwerk über die »Bewegungsgesetze« der kapitalistischen Produktionsweise, in dem das Thema »Klassen« ganz ans Ende verlegt ist und auf geradezu peinigende Weise unvollständig bleibt. Eine umfassende Würdigung von »Marx zum Thema Klassen« würde daher auf die Rekonstruktion seines gesamten Werkes hinauslaufen. Zweitens, weil es die »Klassentheorie« im Sinne einer homogenen Einheit oder eines homogenen Gegenstandes bei Marx gar nicht gibt. Marx hat in jeder wichtigen Phase seiner Arbeit über Klasse und Klassenkampf geschrieben. Wir wissen, dass diese Texte einen unterschiedlichen Stellenwert haben und mit unterschiedlichen Absichten geschrieben wurden, und dass dies entscheidend dafür ist, auf welcher Ebene, unter welchem Aspekt und auf welchem Abstraktionsgrad die Frage behandelt wurde. Die Polemik gegen den Linkshegelianismus in der Deutschen Ideologie, die programmatische Absicht und rhetorische Vereinfachung im Kommunistischen Manifest, die Analyse der politischen Konstellation in den Klassenkämpfen in Frankreich, die theoretische Arbeit in den Grundrissen und im Kapital – in jeder dieser Schriften wird das Problem der Klassen aufgrund der verschiedenen Stoßrichtungen und Adressaten in unterschiedlicher Weise gestellt.

Aus Marx’ eigenen Kommentaren und seiner Korrespondenz – zum Beispiel in Bezug auf den unterschiedlichen Aufbau in den »Arbeitsheften« der Grundrisse und im Kapital – wissen wir, dass er die Frage der Darstellungsweise sehr ernst nahm. So schrieb er z.B. in seinem Brief an Weydemeyer am 1. Februar 1859 über die beabsichtigte Publikationsfolge der ersten vier Abschnitte des ersten Bandes des Kapital:

»Du begreifst die politischen Gründe, die mich bewogen, mit dem 3. Kapitel über ›Das Kapital‹ zurückzuhalten, bis ich wieder Fuß gefasst habe.« (Marx/ Engels 1972, 195)

Drittens wissen wir, dass all diese verschiedenen Texte bis zu einem gewissen Grad auch durch die Problematiken begrenzt und geprägt wurden, in deren Rahmen Marx zum jeweiligen Zeitpunkt dachte und schrieb. Mit der Entwicklung des marxschen Denkens wandelten und veränderten auch sie sich. Althusser konstatiert zu Recht, dass Marx’ »Entdeckungen« zum Teil entscheidend mit den »Brüchen« zwischen den jeweiligen Problematiken zusammenhängen. Wir müssen nicht unbedingt die Rigidität und Totalität akzeptieren, in der Althusser mit Hilfe des »epistemologischen Einschnitts« das marxsche Werk »periodisiert« – zumal sich Althusser selbst später davon distanziert hat (vgl. die Haupt»revisionen« in Althusser 1976). Aber seine Intervention verhindert, dass wir Marx jemals wieder in einer Weise lesen, die, mittels eines prospektiv-retrospektiven Taschenspielertricks, einen einzigen, homogenen »Marxismus« konstituiert, der sich stets auf einer vorgezeichneten Bahn bewegt, von den ökonomisch-philosophischen Manuskripten über den Bürgerkrieg in Frankreich bis zu seinem vorgegebenen teleologischen Ziel. Eine derartige Lesweise tut nicht nur Marx Unrecht, sie gibt auch ein falsches und irreführendes Bild von der Art, wie theoretische Arbeit auszusehen hat, und sie verschleiert die Rückzüge und Umwege, durch die diese voranschreitet und sich entwickelt. Sie fördert in uns einen »faulen« Marxismus, da sie ja nahelegt, für uns gäbe es keine kritische Arbeit mehr zu leisten, wir brauchten uns nicht ernsthaft mit den Differenzen und Entwicklungen im marxschen Werk auseinanderzusetzen – alles, was uns zu tun bleibt, ist, uns auf die »Offensichtlichkeit« des »Marxismus« zu verlassen, die in allen Texten von Marx latent schlummert. Diese Art marxistischen »gesunden Menschenverstandes« hat dem Marxismus als einer lebendigen und sich entwickelnden Praxis enorm geschadet, ebenso dem notwendigen Streit innerhalb der Theorie selbst.

Teilweise wird es also um eine spezifische Praxis des Lesens gehen – eine, die versucht, die Logik der Argumentation und des Aufbaus eines Textes festzuhalten, und zwar vor dem Hintergrund der Thesen und Begriffe, die den Diskurs des Textes ermöglichen, ihn hervorbringen. Vieles von dem, was anhand einer begrenzten Anzahl von Passagen und Texten hier diskutiert werden wird, beruht auf der Entwicklung einer solchen theoretischen Arbeitsweise. Sie beinhaltet auch, einen Text nicht einfach als solchen, als etwas Geschlossenes hinzunehmen. Das gilt sowohl für die Stellen, an denen der Text offensichtlich »ins Auge springt«, als auch für die, an denen er offensichtlich komplex oder dunkel ist. Der Klassenkampf ist in jeder Zeile und in jedem Abschnitt des Kommunistischen Manifests geradezu handgreiflich präsent. Aber der Klassenbegriff, auf dem dieser Text beruht, ist, wie wir hoffentlich werden zeigen können, nicht von der glänzenden Oberfläche her unmittelbar fassbar. Das Kapital ist das genaue Gegenteil – ein komplexer theoretischer Text, dessen zentraler Gegenstand die kapitalistische Produktionsweise ist, und der über weite Strecken hinweg den Klassenkampf auf eine andere Ebene, auf ein anderes Moment »verschoben« zu haben scheint. Es gehört mit zu den schwersten Übungen, aus dem Manifest herauszu»lesen«, wie das Verhältnis von Klassen und Produktionsweise gefasst wird, und umgekehrt die Gesetze und die Bewegung des Kapitals im Kapital unter der Perspektive des Klassenkampfes zu »lesen«. Was Letzteres angeht, so gibt uns Marx selbst (wiederum in einem Brief, diesmal an Engels vom 30. April 1868) einen wunderbaren Einblick in die Art der Beziehung beider zueinander. Im Wesentlichen fasst er seine Argumentation aus dem dritten Band zusammen. Er geht einige der komplexesten – technischen – Theoreme durch: die Konstituierung der »Durchschnittsprofitrate«, das Verhältnis zwischen den verschiedenen Produktionszweigen, das Problem der Transformation »von Wert in Produktionspreis«, den tendenziellen Fall der Profitrate. Danach kehrt er schließlich zu dem zurück, was den »Ausgangspunkt der Vulgärökonomie« ausmacht: zur berühmten Trinitarischen Formel (deren vernichtende Entlarvung in extenso im dritten Band eine der reichhaltigsten Abschnitte dieses Werkes ist). Gemeint ist die Formel, die die Verteilung des Profits als harmonischen Rückfluss jedes seiner Teile zu dem ihm zugehörigen Faktor in der kapitalistischen Produktion »erklärte«: die Grundrente entspringt dem Boden, der Profit (Gewinn) dem Kapital, der Lohn aus der Arbeit. Indem Marx die »wirkliche« Bewegung hinter dieser Verteilung enthüllte, entlarvte er ihre »Erscheinungsform«; aber das ist keine bloße »theoretische« Entmystifizierung:

»Endlich, da jene drei (Arbeitslohn, Grundrente, Profit [Zins]) die Einkommensquellen der drei Klassen von Grundeigentümern, Kapitalisten und Lohnarbeitern – der Klassenkampf als Schluss, worin sich die Bewegung und Auflösung der ganzen Scheiße auflöst.« (Marx/Engels 1972, 172)

Althusser hat uns vorgeführt, wie theoretische Texte zu »lesen« sind – mit der Methode des »symptomatischen Lesens«. Meine eigenen Anmerkungen oben gehen nicht so weit. Die Idee des »symptomatischen Lesens« ist natürlich Freuds Theorie der Symptombildung im Diskurs des Patienten entnommen, wie er sie in seinem wichtigen Werk über Die Traumdeutung entwickelt hat. Wendet man diese ausgereifte Theorie nun auf theoretische Texte an, dann entsteht das Problem ihrer Kontrollierbarkeit. Es ist eine Sache, einen komplexen Text mit einem stets offenen Auge für die Matrix der begrifflichen Prämissen und Sätze zu lesen, die diesen Text tragen und ihm seine wie auch immer geartete theoretische Konsistenz geben – und uns helfen, sein »Schweigen«, seine Leerstellen, zu identifizieren. Das Herauslesen von Leerstellen ist mit Sicherheit ein tragendes Fundament einer kritischen theoretischen Praxis. Eine ganz andere Sache aber ist es, das »symptomatische Lesen« als eine Art theoretischer Guillotine zu benutzen, mit der jeder Begriff, der die Tollkühnheit besitzt, vom vorgezeichneten Weg abzuweichen, einfach geköpft wird. Leider ist die Grenze zwischen beiden Lesarten fließend.

Es ist nicht immer leicht, zwischen einem »symptomatischen Lesen« zu unterscheiden, mit dem wir die theoretische Struktur eines marxschen Textes aus den Oberflächenformulierungen herauslesen können, in denen die Begriffe in ihrem – wie es manchmal etwas dubios genannt wird – »praktischen Zustand« erscheinen, und einem »symptomatischen Lesen«, das in Wirklichkeit nur einen Deckmantel dafür liefert, diese »praktischen Begriffe« in ihren »reinen« theoretischen Zustand zu versetzen, so dass der Text dazu gebracht wird, auch »tatsächlich« das zu sagen, was immer der Leser von vornherein hören wollte. Das Kapital lesen (Althusser 1971), das sich dieser Methode in ihrer radikalsten und extremsten Form bedient, bewahrt uns einerseits vor einem »unschuldigen« Lesen von Marx, andererseits aber macht es sich selbst schuldig, das, »was Marx wirklich gesagt hat«, so zu transformieren, dass es – natürlich – das produziert, was die Autoren von Anfang an entdecken wollten. Um es ganz klar zu sagen: Wenn »praktische Begriffe« bei Marx mit Hilfe strukturalistischer Instrumente und Begriffe systematisch auf eine abstraktere theoretische Ebene gehoben werden, dann ist es nicht weiter schwierig, am Ende einen »strukturalistischen« Marx zutage zu fördern. Die Frage – die enorm wichtige Ausgangsfrage von Das Kapital lesen –, was für ein »Strukturalist« der reife Marx denn tatsächlich gewesen ist, kann nicht in dieser zirkulären Weise beantwortet werden. Althusser selbst weiß das. Schließlich war er es, der – in Für Marx – die notwendig geschlossene Zirkularität eines »Lesens«, das seine »Antworten« bereits in Form der Fragestellung vorwegnimmt, klipp und klar demonstriert hat. Er nannte diese Zirkularität – ideologisch.

Im Folgenden werde ich versuchen, beides zu vermeiden – die »Unschuld« eines »Lesens«, das an der Oberflächenform der Argumentation kleben bleibt, und die spezifische »Schuld«, die einer Interpretationsweise anhaftet, die schlicht meine vorgefasste Meinung bestätigt. Mein Ziel ist eine bestimmte Art der Befragung einiger zentraler Passagen bei Marx darüber, was sie über Klassen und Klassenkampf aussagen. Ich spreche von Klassen und Klassenkampf im Zusammenhang, weil mich diese Verknüpfung in diesem Artikel am meisten interessiert und sie die Auswahl der Passagen bestimmte, die ich untersuchen will. Mir wird es speziell darum gehen, zu zeigen, warum und worin sich Marx Vorstellungen von Klassen und Klassenkampf in verschiedenen Phasen seiner Arbeit verändert haben und welche Entwicklung sie durchliefen. Ich möchte einige der Frühschriften und Texte des »Übergangs« neu überdenken – viele von ihnen wurden allzu rasch auf den begrifflichen Schrotthaufen geworfen. Aber ich werde sie natürlich aus dem Blickwinkel der reifen und entwickelten marxschen Theorie untersuchen – ich werde versuchen, sie nicht »unschuldig«, sondern im Lichte des Kapitals zu betrachten.

 

I

Das Kommunistische Manifest wurde von Marx und Engels für den Bund der Kommunisten verfasst:

»um ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen dar[zu]legen und dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst entgegenzustellen.« (MEW 4, 461)

Es wurde am Vorabend der großen revolutionären Erhebung von 1848 veröffentlicht – zum Zeitpunkt seines Erscheinens befand sich Marx bereits auf Einladung der liberal-radikalen Regierung von Frankreich, die Louis-Philippe gestürzt hatte, in Paris. Es sollte eine revolutionäre Sturmglocke sein; viele, wenn nicht alle der darin enthaltenen Vereinfachungen müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden. Im Sommer 1848 begann die Konterrevolution sich zu entfalten; Marx und Engels waren zu der Einsicht gezwungen, dass sie die Geburtswehen der bürgerlichen Gesellschaft als deren Totengeläut missverstanden hatten. Marx änderte seine Ansichten, und zwar über weitaus mehr als über die Geschwindigkeit, mit der es zum revolutionären Endkampf kommen sollte. Gwyn Williams (1976) hat gezeigt, wie dieser »Einschnitt« in der Perspektive – ein politischer Einschnitt – seinen Niederschlag in der theoretischen Struktur eines der wichtigsten Texte von Marx fand, im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte. Ja, man kann, ohne die Zusammenhänge vereinfachen zu wollen, durchaus sagen, dass der historische Zusammenbruch der Achtundvierziger Revolution einen enormen theoretischen Fortschritt im marxschen Verständnis von Klassen und ihrem Verhältnis zum politischen Kampf bewirkt hat. Welche Entfernung er zurückgelegt hat und welche Entdeckungen er gemacht hat, lässt sich ermessen, wenn man die Unterschiede – und Gemeinsamkeiten – bei der Darstellung von Klassen im Manifest von 1847 einerseits und im Achtzehnten Brumaire und den Klassenkämpfen in Frankreich von 1850 und 1852 andererseits herausarbeitet.

»Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.« (MEW 4, 462)

»(…) mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. Die wachsende Konkurrenz der Bourgeois (…) machen den Lohn der Arbeiter immer schwankender; die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer; immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; (…)« (Ebd., 470)

»Die Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie entsteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger: Sie erzwingt die Anerkennung einzelner Interessen der Arbeiter in Gesetzesform, indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt. So die Zehnstundenbill in England.« (Ebd., 471)

Was diesen Text so fatal verführerisch macht, das ist sein vereinfachender revolutionärer Schwung – sein Elan und die zuversichtliche Gewissheit, mitten in der heranrollenden unaufhaltbaren Welle revolutionären Kampfes und proletarischen Sieges zu sein, und vor allem sein ungebrochener Glaube an die historische Zwangsläufigkeit. Diese Äußerungen reiben sich mit unserem inzwischen geläuterten Wissen über die unendlich »lange Verzögerung« der Revolution – und unserem Wissen, um wie viel komplexer und ungewisser ihr Ausgang geworden ist. Damit verbunden ist die Ablehnung einer der zentralen Thesen, die diese Vorstellung der Entwicklung-durch-Revolution offenbar befördert und stützt: die fortschreitende Vereinfachung der Klassenantagonismen (entlang eines gradlinig gezeichneten Geschichtsverlaufes) in zwei prinzipiell feindliche Lager – Bourgeoisie und Proletariat, die sich in einem »Auflösungsprozess« von einem »so heftigen, so grellen Charakter« (MEW 4, 471) gegenüber stehen. Die gesamte Logik in diesem Teil des Textes ist durch die historische Konstellation, in der er verfasst wurde, überdeterminiert. Die Klassen werden in diesem Text zweifellos, auf recht simple Weise historisch konstruiert: Auflösung des Feudalismus, revolutionäre Rolle der aufkommenden Bourgeoisie, »freie Konkurrenz« und »freie Arbeitskraft«, bei Marx die beiden Voraussetzungen für die Errichtung der kapitalistischen Produktionsweise auf erweiterter Stufenleiter, gigantische Entwicklung der produktiven Möglichkeiten des Kapitals, dann die Industrie- und Handelskrisen, fortschreitende Verelendung, Klassenpolarisierung, revolutionärer Bruch und Umsturz.

Diese Linearität, dieser unverhüllte historische Evolutionismus, wird wesentlich nur durch das Spiel eines einzigen Widerspruchs unterbrochen oder verschoben: durch den Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den »fesselnden« Produktionsverhältnissen, in die sie eingebettet sind. Dieser Grundwiderspruch bestimmt die Zuspitzung des Klassenkampfes in der kapitalistischen Produktionsweise. Sein Verlauf ist natürlich auch Verzögerungen unterworfen, aber seine Haupttendenz strebt vorwärts – zum Zusammenstoß. Das liegt daran, dass die beiden Ebenen zusammengespannt werden – der Klassenkampf »reift« in dem Maße, wie der Kapitalismus sich »entwickelt«. Ja, Letzterer entwickelt und vollendet den Ersteren: der Kapitalismus ist sein eigener Totengräber. Der Kapitalismus produziert also seine eigene »Negation«: die unterdrückten Klassen, deren aufstrebende Kämpfe diese Phase zu ihrer Vollendung und die Gesellschaft vorwärts in das nächste Stadium ihrer Entwicklung treiben. Da die Konstellation Bourgeoisie versus Proletariat als die »allgemeinste« Form des Klassenkampfes bestimmt wird – das Proletariat als die letzte zu emanzipierende Klasse, als die, die »nichts zu verlieren hat als ihre Ketten« –, umfasst die proletarische Revolution zugleich die Emanzipation aller Klassen oder die Abschaffung der Klassengesellschaft an sich.

Die Grundproblematik des Manifests ist klar. Ihre Präsenz scheint durch die Transparenz der Schreibweise hindurch – eine stilistische Transparenz, die wiederholt, wie die Verhältnisse und Zusammenhänge, von denen der Text handelt, aufgefasst und weiterentwickelt werden: Das Manifest behandelt Klassen als »ganze« Subjekte – kollektive Subjekte oder Akteure. Die Übertragung des Klassenkampfes von der ökonomischen auf die politische Ebene wird als völlig problemlos behandelt. Beide Ebenen sind austauschbar: die eine führt unweigerlich auf die andere. Ihr Zusammenhang stellt sich über das her, was Althusser die »transitive Kausalität« genannt hat. In ihr wird die Geschichte als eine sich entfaltende Abfolge von Kämpfen gefasst – eingeteilt in Epochen, zugespitzt durch den Klassenkampf, der ihr Motor ist. Sie fasst die kapitalistische Gesellschaftsstruktur als eine ihrem Wesen nach einfache Struktur: Ihre unmittelbaren Formen mögen zwar komplexer Art sein, ihre Dynamik und Gliederung werden jedoch als einfach und essenzialistisch begriffen. Ihre Gliederung ist grundsätzlich durch einen einzigen Widerspruch (Produktivkräfte versus Produktionsverhältnisse) »gegeben«, der sich von der ökonomischen »Basis« aus problemlos, gleichmäßig und unverändert durch alle verschiedenen Ebenen der Gesellschaft hindurch entfaltet. Von daher führt der Bruch auf einer Ebene früher oder später zu einem parallelen Bruch auf anderen Ebenen. Diese Auffassung wurde als »historizistisch« definiert (Althusser 1969), da sie eine gesellschaftliche Formation als eine, wie Althusser es nannte, »expressive Totalität« auffasst. Aber hinter diesem »Historizismus« findet sich noch die Spur einer früheren Problematik – die Auffassung der proletarischen Revolution als Befreiung der ganzen Menschheit, als der »Moment«, in dem die Herrschaft der Vernunft in der Geschichte errichtet wird. Diese Problematik erinnert an die humanistische Stoßrichtung z.B. im Abschnitt »Über den Kommunismus« in den Manuskripten von 1844 mit seinen unverhüllt feuerbachschen und hegelschen Obertönen. Eine heroische, humanistische Vision, die sich aber sowohl in ihren wesentlichen Voraussagen als auch in der Art ihrer Begriffsbildung als brüchig erwiesen hat.