Jakob

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Jakob
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Stephan

JAKOB

Von einem, der auszog,

das Trommeln zu lernen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen

wäre daher zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Cover und Grafiken: Michaela Meyer

Lektorat: Hannelore Crostewitz

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Wenn Jakob reden würde,

dann käme seine Schulzeit nicht besonders gut weg

kämen gut durchdachte Ferien ans Licht

verknüpfte sich Liebe mit Trauer und Tragik

kämen manch Zufall, Anfall und Abfall ins Spiel

stünden seine große Klappe, Ellenbogen und Hervorstechendes an

käme die Erlebnisgier manches Weibsbilds zur Sprache

bliebe die Stasi nicht unerwähnt und klar würde, wer für und gegen ihn war

wäre er nicht so prompt aufgelaufen

ständen sein Nischel, Neuanfänge und Nachwehen in vorderster Front

müsste er erklären, warum er das Trommeln lernte

wäre der „Panzer“ in ihm zum Ausrücken fähig

würde er trotzdem trommeln, trommeln, trommeln

wüsste auch er manches Maß zu nehmen

würde die Durchschaubarkeit die Eitelkeit ablösen

geriete manchem die Welt aus den Fugen

ginge er generell gegen Beschränkung vor

müsste er über Wagnisse und Einsichten reden

dann ginge er noch einen Schritt weiter

hieße es: schaffst du nicht, schaffst du nicht, schaffst du doch

müsste er über die geliebte Großmutter reden

bekäme seine Meinung mehr Gewicht

müsste er über Sweta reden

müsste er über die Bank, rote Rosen und Nele reden

müsste er über die Diagnose reden

ginge es um Ellen, hohe Wellen und ein Haus

ginge es um Enttäuschung ohne Ende

Vita

Vorwort

Da spaziert einer, den Mantels seines Vaters unterm Arm und alles an Gegebenheiten hinnehmend – gleich, wie politisch brisant das auch ist – zwischen den Grenzen entlang.

Alles staunt. Ein Unbedarfter? Ein Entflohener? Oder ein Provokant?

Ein Jakob eben.

Einer, der andere irritiert. Weil er sich im doppelten Sinne schon sein ganzes Leben lang zwischen den Grenzen bewegt. Was kein Spaziergang ist. Die Dinge, die Jakob passieren, ob mit Lehrern, mit Frauen, der Gesundheit oder den Kollegen, scheinen unglaublich. Hier und da undurchsichtig, dann wieder polarisierend. Sie sind oft so unfassbar, dass es selbst ihm, Jakob, die Sprache verschlägt.

Jakob redet nicht.

Was anfangs seinem Selbstschutz dient, wird für Jakob zum Gebot. Warum soll er den Mund aufmachen? Soll sich doch die Menschheit mit seinen Handlungen beschäftigen, da hat sie genug zu tun. Was er auslöst, hat sowieso immer Folgen …

Ein Buch, über das man verblüfft ist. Einmal des Typen Jakobs wegen, der Unglaubliches mit sich geschehen lässt, ehe ihm der Kragen platzt. Zum anderen enthält dieser Reibungstext eine sehr spezielle Situationskomik, der ich eine breite Leserschaft nur wünschen kann.

Hannelore Crostewitz

Wenn Jakob reden würde,
dann käme seine Schulzeit nicht besonders gut weg

Denn er war einer von denen, die es traf.

Das brachte gleich der erste Tag mit sich.

Da umspielte die Sonne den Haupteingang der alten Schule mit dem Schatten noch älterer Bäume. Der kleine mit Kinderspeck bepackte Blondschopf reihte sich ein in die aufgeregt zappelnde Schlange wartender Jungen und Mädchen. Der Junge blickte hoch, sah das Gebäude nah vor sich, in dem er gleich eingeschult werden sollte. Es erschien ihm riesig, wie eine noch einzunehmende Burg. Auch war es ein ungewohntes Gefühl in der neuen braunen Hose und dem weißen Hemd. Die Oma hatte die steife braune Fliege so fest gebunden, dass er kaum Luft bekam. Zur beigefarbenen Weste hatte er passende braune Schuhe an.

Stolz trug er seine überdimensionierte Zuckertüte vor sich her, die ganze Treppe hinauf, bis auf den obersten Absatz, wo er kurz stehenblieb und die kunterbunte noch einmal an seinen Vater übergab, der schon dort wartete. ‚Gut’, Jakob atmete durch und hatte die Hände wieder frei. Das war wichtig. Er rieb sie noch einmal eifrig an der Hose. Für das, was jetzt kommen sollte, hatte er tagelang mit seinem Vater geübt.

‚Meiner Klassenlehrerin werde ich’s zeigen. Der erste Eindruck ist immer der beste, hat Vati gesagt.’

Er nahm alle seine Kraft zusammen und begrüßte sie mit einem festen, männermäßigen Händedruck.

Doch er konnte trainiert haben wie er wollte. Die Lehrerin hatte größere Muckis. Damit nicht genug, die Gegenüber bemerkte: „Na, da musst du aber noch etwas mehr essen, um groß und stark zu werden.“

‚Konnte das sein?’ Sie beschämte Jakob vor allen und er spürte die Röte im Gesicht aufsteigen.

Seine Lehrerin nannte sich Fräulein Vogelsang, war aber nicht halb so lieblich wie ihr Name. Nein, sie war eine robust gebaute Frau mit leichtem Ansatz zum Damenbart und einer furchteinflößenden Oberweite. Außerdem hatte sie es immer mit den Ohren der Schüler, wie Jakob später oft genug schmerzhaft feststellen musste.

Als sich der Haufen quirliger Kinder daraufhin im Klassenzimmer verteilte, verkündete das Fräulein ihre Sitzordnung und der kleine Schulanfänger stellte mit Entsetzen fest, dass er neben einem Mädchen sitzen sollte.

‚Mädchen? Was waren denn das für Wesen?’ Er wollte mit seinesgleichen, also mit Jungen, zusammensitzen. Mit denen konnte er wenigstens über gleiche Erlebnisse reden. Doch Mädchen? ‚Nee danke’, ging es ihm durch seinen Kopf. Aber wie sich herausstellte, war die Kleine alles andere als schweigsam und schüchtern schon gar nicht. Stellte gleich in der ersten Stunde sicher, wer hier auf der Bank die Hosen anhatte. Und das kam so …

Sie war wirklich hübsch herausgeputzt, beschwerte sich aber bei ihrem Nachbarn: „Dieses Kleidchen mit den Bienen und Blumen mag ich überhaupt nicht leiden!“

 

„Nee?“, wunderte sich Jakob.

‚Mädchen sind schon etwas Seltsames.’ Er starrte sie an. Die Zöpfe wippten lustig, als sie gestand: „Weißt du, mit Hosen ist es bequemer und es lässt sich viel schneller rennen!“

Und klatsch – da hatte er eine sitzen. Hatte es gewagt, nach dem Gewippe zu grapschen und jungengemäß ordentlich daran zu ziehen. Das war gleich in der ersten halben Stunde ihres Nebeneinandersitzens passiert, als er sich die schallende Ohrfeige einfing.

Na gut, die Zöpfe waren also für Jakob tabu. So viel war schon einmal zwischen den beiden geklärt.

Die erste Schulstunde verging im Eiltempo.

Schien nichts weiter als ein organisatorischer Durchmarsch zu sein, der eigens für die kleinen Würmer in Süßigkeiten verpackt worden war. So jedenfalls kam es Jakob vor. Ansonsten wurde alles zugewiesen, vom Kleiderhaken bis zum Stundenplan. In dem Moment, wo die Schüler das kühle Gebäude durch den Haupteingang wieder verließen, warteten die Fotoapparate der Erwachsenen auf sie. Es war ein Klicken ohne Unterlass. Mit lautem Beifall wurden sie von Eltern, Geschwistern und dem Rest der Verwandtschaft wieder in Empfang genommen. Pfeifend und grölend. Es folgten: Die Feier im Kreise der Familie, die vielen Geschenke und noch mehr Schmatzer im Gesicht, das Zerzausen der Haare durch die Onkel und älteren Cousins und die kopfnussähnlichen Klatscher auf immer ein und dieselbe Stelle.

Jedes Mal wieder neu.

Für Jakobs Begriffe stand das symbolisch dafür, dass jetzt der Ernst des Lebens begann und er sich an Herumschubsen und -stoßen zu gewöhnen hatte. Und dass er, um schadlos zu bleiben, seinerseits ebenso mit den anderen zu verfahren hatte. Seine Verwandten meinten es höchstwahrscheinlich eher lieb mit ihm. So waren sie nun mal. Rau, aber herzlich.

Schnell gewöhnte sich der kleine Jakob an den schulischen Alltag, in dem im ersten Halbjahr nur mit roten Bienchen, Sternchen und blauen Minuszeichen hantiert wurde. Zwar begann der Unterricht täglich mit Strammstehen vor der Lehrerin, der Begrüßung und einem Lied, das die Kinderkehlen den Ohren Fräulein Vogelsangs begeistert entgegenplärrten; doch Jakob war bis dahin recht zufrieden.

Dann bekam er die erste richtige Zensur.

Es war eine Schönschreibübung. Jakob war ganz stolz und sah sie sich lange an. Die war so eine schöne Rote. Anschließend trollte er sich nach Hause. Voller Enthusiasmus zeigte er sie gleich seiner Mutter und war ganz aufgeregt und wartete auf das große Lob. Aber was folgte, war ernüchternd: „Die Zensur ist keine gute. Da musst du dich viel mehr anstrengen, damit du die bekommst, die einfach nur zwei Striche hat.“

Sie malte am Zeitungsrand mit dem Bleistift etwas auf, was Jakob nicht halb so gut gefiel und erklärte: „Das ist eine Eins.“

Am liebsten hätte Jakob da gar nicht erst hingesehen. Trotzig verzogen sich seine Mundwinkel nach unten. Er stützte die kleinen Fäuste empört in die Hüften, trat noch einen großen Schritt nach vorn und forderte sein Recht: „Du sollst, du kannst dich bitte gefälligst freuen. Ich bin der Allereinzige in der Klasse, der eine so große schöne Zahl bekommen hat. Darum auch der Beste.“ Die Mutter tat ernst. Was ihr Mühe bereitete, so dass aus dem unterdrückten Lachen mancher Gluckser hervortrat. Doch klar erklärte sie ihm, es sei in der Schule anders herum, es käme darauf an, die kleineren Zahlen als Zensur zu erhalten, ob nun rot oder blau, wäre egal.

„Die kleineren sind immer die besseren.“

Enttäuscht und niedergedrückt trottete der kleine Bursche nach nebenan, wo seine beiden Brüder, Holger und Jan, die Indianer- und Cowboyfiguren ins Leben gerufen hatten.

Doch das war Jakob jetzt egal.

Er wollte in Ruhe und fern den Blicken der Mutter, die man herzhaft aus der Küche lachen hörte, für sich weinen können. Der große Bruder tröstete ihn. Er nahm ein Blatt Papier zur Hand, drückte einen Füller zwischen die Finger des noch immer voller Tränen stehenden Kleinen und führte dessen Hand um den gelernten Buchstaben herum und versuchte mit ihm gemeinsam das Schönschreiben zu üben. Buchstabe für Buchstabe. Nachdem die erste Zeile beendet war und sie zur zweiten ansetzten, kam die Mutter hinzu, betrachtete die Übungen beider, streichelte ihnen über die blonden Schöpfe und erklärte: „Ich weiß es genau, Jakob bekommt bald schon bessere Zensuren, bestimmt. Und muss nicht mehr traurig sein.“

Trotz dieser tröstenden Worte übten Jakob und der große Bruder weiter. Auch später blieb ihm der große Bruder immer das Vorbild schlechthin. Noch etwa eine halbe Stunde dauerte es an diesem Tag, und dann, mit einem Mal hatte Jakob auch den Dreh mit den Bögen und geraden Strichen heraus. Seitdem hatte sich der kleine Mann zu einem fleißigen Schüler entwickelt. Und schrieb fortan meist Zweien. Zu selten jedoch bekam er eine Eins. Mit etwas energischem, aber immer kindgerechtem Druck brachte die Mutter ihn dazu, regelmäßig das Schönschreiben zu üben.

In den folgenden Jahren saßen sie ebenso beieinander, um Rechtschreibung und Mathematik zu üben. Doch über die durchschnittlichen Leistungen kam Jakob nicht hinaus. Er war halt ein Dreiertyp, der viele Dinge erst spät oder gar nicht zuordnen konnte und manche Fragestellung nicht verstand. Und doch gab es Fächer, in denen er tatsächlich zu den Besten zählte: Musik, Kunsterziehung und Werken. Sie zählten somit zu seinen Lieblingsfächern. Später ersetzte die polytechnische Arbeit den Werkunterricht. Als dann die Fremdsprachen das Lernpensum weiter steigerten, verlor er die Lust am Lernen fast gänzlich. Aber er übte und übte, sodass er zumindest seinen Dreierdurchschnitt behielt und keine Klassenstufe wiederholen brauchte.

Jakob galt unter seinen Mitschülern als Spätzünder und das ließen sie ihn auch oft genug spüren, genauso oder ähnlich wie die Lehrer.

Freilich trug das nicht zum Spaß an der Schule bei. Doch ob begründet oder nicht, Jakob war mittendrin und strebte an, möglichst das Beste für sich herauszuholen. Da war dieser ehemalige Klassenleiter, Herr Liebig, ein kleiner Mann, der mit einem Haufen sichtbarer Altersflecken durch die Gänge schlurfte. Er war nicht nur fleckenbehaftet, auch sein komisch schiefes Lächeln traf Jakob bei jeder Begegnung.

Auf fachlichem Gebiet konnte Jakob sehr viel von ihm lernen. Liebig gab sich große Mühe, den weniger Begabten den Lehrstoff so zu vermitteln, dass auch diese der doch häufig trockenen Mathematik Spaß abgewinnen konnten. Leider aber fühlte sich Jakob oft genug unfair von seinem Lehrer behandelt und so stellte er für sich fest, dass gerade dieser riesige Unterschiede innerhalb der Klasse machte.

Andauernd.

Es gab Mädchen, die wussten das für sich zu nutzen. Sie umgarnten Liebig mit Gefälligkeiten und Schmeicheleien. Hatten sie das nötig?

Der Beobachter in Jakob begriff es nicht. Wo sie ohnehin zu den Besten der Klasse gehörten. Aber Liebig schien das Herumscharwenzeln seiner Lieblingsschülerinnen sichtlich zu genießen. Bevorzugte sie, ging mit dem Rest der Klasse jedoch ziemlich rigoros um. Oft genug auch verächtlich und herablassend. Jakob hatte jedenfalls nichts bei ihm zu lachen. Er konnte machen, was er wollte, er kam einfach nicht an Liebig heran. Fortwährend gab es eine neue Situation, bei der Jakob vor der ganzen Klasse blamiert oder heruntergeputzt wurde. Und selbst nach dem Unterricht strafte er Jakob stets mit besonderer Verachtung.

Wer sich nicht bemüht, findet er immer vernichtende Gründe; Liebig war das Paradebeispiel dafür. Bei ihm war Jakob dauernd Mode. Jakobs viele außerschulische Aktivitäten, die im Zeichenkurs, im Ballett, beim Sportschießen und sogar den A-cappella-Gesang mit seinen beiden Brüdern, der vor der gesamten Schule großen Anklang fand, all das tat Liebig entweder mit zynischer Verachtung ab oder er reagierte erst gar nicht darauf.

Eines Tages hatte er mal wieder eine Vertretungsstunde übernommen. Da fragte er in der Klasse nach den Berufswünschen.

Jakob merkte auf.

So etwas Besonderes hatten sie ja noch nie. Zwei der Mädchen wollten Lehrerin werden, andere Ärztin, Krankenschwester oder Kindergärtnerin. Die Jungen träumten vom Schlosser, Koch, Chemiker und manch anderem. Auch Jakob träumte. Als die Reihe dann an ihm war und Jakob aufstand, um seine berufliche Vorstellung zur Sprache zu bringen, hob Liebig die Hand, setzte ein missbilligendes Gesicht auf und würgte den Jungen ab: „Ach du, dein Weg ist sowieso vorbestimmt! Aus dir wird ohnehin, wenn überhaupt, allemal nur ein Maurer. Genau wie dein Vater.“

Jakob starrte durch den Liebig hindurch und alle Sprache war wie weggeblasen. Als stände es schon an, als besäße die Aussage tatsächlich irgendwie Gewalt über ihn, war er auf seinen Stuhl zurückgefallen.

Keiner sah die geballten Fäuste in seinen Hosentaschen. Liebig hatte ihn nicht nur seiner Träume beraubt, sondern geradezu ungeheuer getroffen. Ihn und seine ganze Familie. Das würde Jakob nicht zulassen! Aber: Er konnte sich dagegen verwahren wie er wollte, diese Aussage des Lehrers sollte sein Leben für eine lange Zeit prägen.

Später einmal, als Jakob mit seinem Trainingspartner im Langstreckenlauf zusammen war und sie sich eine Verschnaufpause gönnten, gestand er es dem recht offen: „Zu dem Liebig habe ich überhaupt keinen Draht. Und dann die Mädchen immer noch, wenn man das sieht, wie sie sich anbiedern mit ihrer kindlichen Weiblichkeit. Nee, das kann ich gar nicht ab. Und wenn man auf so was reinfällt …“

Seit dem Moment jedenfalls, wo er vor der Klasse so erniedrigt worden war, gab er sich im Inneren sicher.

Nie mehr würde er auf seine Mitmenschen hören, nie.

Die wollten ihn nur unterbuttern und klein halten. Liebig war das abschreckende Beispiel dafür. Jakob muss also einen anderen Weg gehen, konnte sich nur auf sich selbst und höchstens noch auf seine eigene Familie verlassen.

Soviel war nun klar.

Perplex, aber seitdem positioniert, weil Liebigs Aussage ihm eine wichtige Erkenntnis brachte, lehnte sich Jakob zurück. Es arbeitete in ihm, er plante und wusste bereits zu diesem Zeitpunkt, dass einmal etwas wirklich Großes aus ihm werden würde. Alles, alles Mögliche konnte das sein, nur kein Maurer. Wow, auf einmal konnte Jakob im Stillen richtig triumphieren! Der eigentliche Witz nämlich war: Anton, sein Vater, war kein Maurer. Nein, er war in dem langen bewegten Berufsleben eher zu einem Multitalent geworden. Schon als Erstberuf hatte Anton etwas ganz anderes gelernt. Klavierbauer.

„Musik? Kultur? Sieh mal an“, reflektierte Jakob.

Später dann ging Anton zum Bau, wo es mehr zu verdienen gab. Doch seine musisch-kulturelle Seele blieb ihm Gott sei Dank erhalten und er förderte fast versessen jegliches Talent seiner Söhne. Unterstützte sie bis hin zum Transport der Instrumente, wo er kräftig mithalf, wenn sie denn zu ihren Auftritten fuhren. Diese Livemusik und das zugrunde liegende Talent hielt er für unbedingt ausbaufähig. Er und seine Frau störten sich auch nicht daran, wenn die Jungs bis zu vier Stunden an ihrem Gesang feilten; denn die Proben endeten erst, wenn sie mit ihrer Tagesleistung zufrieden waren. War Anton in Stimmung, trat er manchmal hinzu, nahm seine Gitarre und zupfte auf ihr die Lieder aus seiner Jugendzeit, und wenn er besonders gut gelaunt war, dann sang er noch dazu. Meist stimmten die Jungs intuitiv dreistimmig mit ein. Das waren die Momente für alle! Es waren auch die Momente, in denen die Jungs ihre schlechten Noten vorlegen konnten. Weil sie insgeheim glaubten, er würde ihre Versuche, die Mutter zu übergehen, nicht merken. Doch dem war nicht so. Am Abend mussten sie dann doch Rede und Antwort auch vor ihr stehen.

Im Grunde war Anton also ein sehr geselliger und verständnisvoller Mann. Jedoch auch sehr streng. Vielleicht rührte das aus seiner Vergangenheit her. Er hatte den eigenen Vater bereits mit acht Jahren verloren. Und war seither durch diesen zweiten Weltkrieg der einzige Mann im Hause. Geblieben waren die Mutter und zwei Schwestern. Er musste sich das Vatersein quasi selber beibringen. ‚Was bleibt einem anderes übrig?’, dachte er und tat es. Den Söhnen fehlte es an nichts, außer vielleicht dem Wunsch, er würde häufiger da sein. Doch das ließ sich nicht ändern. Er machte viele Überstunden, um etwas Geld heimzubringen. Da konnte es schon passieren, dass ihm selber manches Mal Zeit und Muße fehlten, um sich in das Familiengeschehen einzudenken.

Hin und wieder also war er etwas unleidlich, doch er bemühte sich.

Versuchte die Dinge wenigstens zu klären und hatte dadurch einen hohen Stand bei seinen Jungs. Auch konnten sie sich an ihm messen, damit hatte er kein Problem, das ließ er zu. Fiel ein böses Wort oder brach Streit aus, wurde das immer mit einem klärenden Gespräch bereinigt.

 

Ließen es die Söhne jedoch an Respekt gegenüber der Mutter fehlen, konnte es schon passieren, dass alle drei gleichzeitig einen Klaps auf die vorlauten Münder bekamen. Trotzdem: Hier gab es weder Schmollen noch Verstoßen. Immer blieb das Verständnis für den anderen das oberste Gebot. Diese Achtung vor dem anderen wurde den Söhnen selbstverständlich, aber auch eindringlich anerzogen. Sie deckte sich mit dem Lebensinhalt der Eltern und sollte unter den Nachkommen ebenfalls prägend werden. Auf die Art resultierte daraus ein unglaublicher Familienhalt. Einer, das war zu spüren, der immer echt und nie aufgesetzt war und der Anton und Barbara eben gelang, indem sie es zweifelsfrei vorlebten.

Nun war es zwar so, dass von staatlicher Seite die Zukunft ihrer Söhne bis aufs Haar abgesichert sein mochte, die politischen Dinge indes blieben vorgeschrieben. Und damit saß selbst Anton in der Klemme.

Das wurmte ihn ungemein. Hier und dort konnte er es bedenken wie er wollte … Wie sollte man in dieser Lage Söhne zu Freidenkern, zu ehrlichen und unverklemmten Männern erziehen?

Gerade, wenn Anton etwas total gegen seine Überzeugung ging, wie die ihm mehrmals abverlangte Parteizugehörigkeit, tat er dies mit all seiner Autorität kund. Dann konnte sich alles gratulieren, was anwesend war!

Dann stand er aber auf, darin kannte er nichts. Prasselte mit all seinen Argumenten auf die anderen hernieder. Was in diesem Staat nicht immer auf Verständnis stieß. Doch bot der Staat den Seinen andererseits ein angemessenes Maß an Freiheit, sich zu entwickeln und den eigenen Interessen nachzugehen.

Auch Jakob dachte inzwischen öfter darüber nach, was er mal werden wollte. Doch noch war er sich nicht sicher. Nach seiner Mutter, Barbara, hätte er beruflich nicht geraten wollen, hatte die Mutter doch Porzellanmalerin gelernt und später noch ein Studium zur Heimerzieherin absolviert. Nein, er sah sich nie so, nicht mal im Traum. Was hätte Jakob auch mit so kleinen Würmern anfangen sollen? Dieses ständige Gewusel um die Beine, von vorne und von hinten.

Dieses: „Du, Onkel, ich muss mal, ganz dolle.“

Außerdem müsste er sie zum Mittagsschlaf bewegen, den er selber früher schon nicht hatte leiden können. Und wie wäre es, wenn es daran ginge eine Sandburg zu bauen?

Da wäre Jakob gerade der Richtige.

Hierfür bräuchte er bestimmt den allermeisten Platz im Sandkasten. Die Burg wäre dann so richtig mit Zinnen, Erkern und einer hölzernen Zugbrücke. Trotzdem: Er, als Mann? Heimerzieherin? Nein, dachte er. Das geht gar nicht. Obwohl Jakob die Mutter stets bewundert hatte, mit wie viel Ruhe und Geschick sie auf sämtliche Nöte und Wünsche ihrer Zöglinge eingegangen war.

Hatte er sie doch oft genug von der Arbeit abgeholt und geholfen, das Eingekaufte heimzutragen. Dort wiederum hatte er Barbara als gutmütige und einfühlsame, aber auch aufrichtige Löwin kennengelernt. Eine, die jeden Angriff auf ihre drei Jungen abwehrte. Zugleich noch die Fäden und Zügel in der Hand führte und von ihnen Rechenschaft für manch angestellte Dummheit oder den zu vollgenommenen Mund einforderte. Kurz und gut, zur Vollzeitarbeit im Kinderheim kümmerte sich die kleine Frau noch den ganzen Tag lang um alles. Um die vier Männer, um den Haushalt und, wenn wieder wer vergessen hatte, das Fenster zu schließen, obendrein auch noch um den Stress mit dem grünen Wellensittich. Zugegeben, das war mehr als einmal vorgekommen.

Und Jakob konnte es beinah vor sich sehen, wie sie alle die Treppe hinunterrasten, vor und hinter das Haus stürmten und Hansi suchten, ihn einfingen und sobald als möglich wieder in den Käfig sperrten. Denn zum Glück flog er nie weiter fort, sondern saß meistens in ein und demselben Baum, der den Wohnkomplex mit weiteren begrünte und schaute von seinem Lieblingsast direkt in die Wohnung der Familie.

Fast frech. Als wollte er sagen: „Was wollt ihr eigentlich von mir? Ich brauche auch mal Abstand von euch. Will schließlich selber mal den Blick von draußen wagen.“

Das Einfangen dieses Vogelviechs war jedes Mal ein lautstarkes und fürchterliches Spektakel.

Denn Hansi wollte nie so, wie sie es wollten. Zwar kam er sofort und folgsam auf den Arm, wenn man ihn rief, doch sobald man sich dem Käfig irgendwie näherte, flog er – haste nicht gesehen – zurück auf seinen Ast und schimpfte von dort aus auf alle Rufenden herab. Vollführte ein unglaubliches Gezeter! Und es war nicht ausgeschlossenen, dass sich dieser oder jener Nachbar darüber beschwerte. Aber eigentlich konnte man Hansi ja verstehen.

Zumal es die Familie ebenfalls oft in die Natur zog. Meist an den Wochenenden oder in den Ferien. Wenn sonnabends keine Schule war und Anton frei hatte, wurde schon freitags zusammengepackt und die Fünf fuhren aufs Land. In den Garten, ihr kleines Glück. Wo sie mit der Natur auf du und du standen. Während der Vater den alten Wolga vollpackte, kam er aus dem Wundern nicht mehr heraus, wann Barbara das alles wohl vorbereitet haben mochte. ‚Wann hatte sie den Kuchen gebacken und diese köstlichen Fleischgerichte gebrutzelt?’

Viel Zeit zum Nachdenken aber blieb nicht.

Beengt im vollbeladenen Auto, die Töpfe zwischen die Beine genommen, die Reisetaschen auf den Knien, den Vogelkäfig ebenfalls irgendwie mit da hineingeklemmt, ging es los. Ihr Kofferraum war immer gleich zuerst voll. Der hatte schon die Wasserkanister und die Werkzeuge zu fassen und natürlich all die aufgestapelten Zementsäcke. Und oben auf dem Dachgepäckträger hatten sie Hölzer, die Rollen mit der Dachpappe und die Metallträger festgezurrt. Alles für den Bungalow.

Ab ging es Richtung Wurzen.

Das konnte spannend werden. So ging es dem schönen Wochenende und den auf dem Lande lebenden Freunden entgegen. Sie freuten sich auf das richtige Austoben! Jahr für Jahr. Egal wie alt sie waren, nichts war vor ihnen sicher. Man fand sie in der Sandgrube, der Schutthalde, dem nahen Freibad, auf Kletterbäumen am Bach; aber zum Essen standen sie plötzlich wieder auf der Matte. Pünktlich wie die Maurer, wie immer und ganz ohne Uhr. Die hätte man nach ihnen stellen können.

Anton, der sich selbst aus diesem Alter noch in Erinnerung hatte, erklärte eines Tages: „Ich baue euch eine Peitsche“.

Und in der Tat, er baute sie, fertigte für jeden seiner drei Söhne eine eigene Peitsche an. Bauen war treffend. Schließlich waren die Peitschen nichts Gewöhnliches. Eine solche bestand aus einem kurzen, selbst gedrechselten Griff mit einer Schlaufe daran, durch die auch Jakob seine Kinderhand steckte und einen festen Halt bekam. Der war unbedingt nötig, denn es schloss sich ein etwa zweieinhalb Meter langer Lederriemen an, der richtig geflochten war und nur das winzige kleine vordere Stück, diese vielleicht zwei Zentimeter, die knallten, wenn man sie durch die Luft zwirbelte, diese paar Zentimeter waren die eigentliche Peitsche.

Jakob war ungemein stolz darauf. Die Brüder ebenso. Und die drei Jungs waren damit dauernd unterwegs. Sie knallten sie nach rechts, schwangen sie durch die Luft, dass es pfiff und knallten sie nach links.

Und wieder und wieder, und wo sie gingen und standen und sie übten sich und knallten, bis der Schafsbock von alledem ganz fuchsteufelswild geworden war. Da war nichts mehr zu machen. Er trat in Aktion, raste auf sie zu, sie wichen ihm noch aus, rannten laut schreiend auseinander, gaben sich gegenseitig Ratschläge, aber der Bock hatte Jakob dann doch eingeholt und nahm ihn auf die Hörner. Das war vielleicht etwas und ein Hallo von allen Seiten! Sie hatten ihren Spaß und irgendwie war sowieso jeder einmal dran. Denn nichts schreckte sie wirklich. Sie legten sich sogar mit dem Bullen an.

Ganz so toll fanden das die hier lebenden Bauern nicht.

Natürlich gab ihr Herumschweifen gelegentlich Anlass, dass sich hier und da ein alteingesessener Bauer mit der Mistgabel bewaffnete, die Bengels mit Schimpf und Schande übergoss und sie von seiner Kuhweide oder Schafswiese vertrieb.

„Müsst ihr Stadtgören denn auf allem reiten, was vier Beine hat? Habt ihr nichts Gescheiteres zu tun? Schert euch runter hier!“, versuchte er ihnen mit seinen Gabelzacken den Garaus zu machen. Was kein Wunder war.

Meist gelang ihm das, Respekt hatten sie schon.

Aber nur kurz.

Obgleich sie ihre Peitschen zwischen die Tiere schwangen, ohne auch nur eines zu treffen, denn sie waren außerordentlich gut in Übung. Es geschah nur, weil es so schön knallte und es machte Spaß, das Hörnervieh zu locken. Gab massenhaft blaue Flecke, manchmal waren die Jungs regelrecht übersät damit. So waren sie eben, bekannt wie bunte Hunde, die Sprösslinge von Barbara und Anton. Richtige Rabauken. Später als heranwachsende Jugendliche zogen sie mit durch die Dorfdiskos, da ging es etwas anders zu, aber auch weiter hinaus bis in die umliegenden Dörfer.

Das eine um das andere Mal saßen sie unter dem Dach der sonnenüberfluteten Terrasse ihres Bungalows, der unterdessen – im Verhältnis zu den übrigen – viel zu groß geraten war. Während die Mutter Kartoffeln schälte, war sie ganz Ohr, was die Söhne ihr anvertrauten. Oft ergab sich unter vier Augen bereits eine Lösung. Als junge Männer dann erbaten sie sich absolute Verschwiegenheit gegenüber dem Vater aus. Er brauchte nicht von Missgeschicken zu erfahren, es wäre blamabel gewesen. Irgendwie aber ging es trotzdem nicht an ihm vorbei. Die Eltern waren sich einig und die Mutter die Einzige, die Vertraute, was Frauen anging.

„Vieles will bei den Frauen beachtet sein. Mädchen sind keine Handelsware, die man mal so eben erwirbt. Sie wollen gehegt, gepflegt und behütet sein. Wenn nötig, noch ab und an in die Schranken gewiesen werden. Ich rede von denen, mit denen sich das Leben lohnt.“ Ziemlich gut kannte sich die Mutter aus, hatte genügend eigene Erfahrungen. Die Jungs nahmen es eher gelassen. Sie stützten den Kopf mit den Händen ab und hörten dem Ganzen „cool“ zu.

„Und dann gibt es noch die andere Spezies Frau: verführerisch, leichtlebig. Die zieht Männer an, wie Licht die Motten, saugt sie aus und wirft sie weg. Als gehörten sie auf einen Haufen für Sondermüll. Denn nachdem sie derart mit dem Mann fertig ist, kann kaum eine andere mehr was mit ihm anfangen. Typisch ist, gerade finanziell sind solche Damen nur auf ihren Vorteil bedacht. Mal ist es das Auto, mal die schicke Wohnung, mal teure Kleidung oder neue Schuhe. Und dann? Und dann ist ein anderes Mal ihnen sogar das alles plötzlich zu viel, weil sie ihr Leben ändern und auf alles Bisherige verzichten wollen. Meinen, ein Mann wäre nur dazu da, ihnen ein solches Leben zu ermöglichen. Und weil sie aussieht wie ein Engel, fällt er darauf herein, tut er alles, damit sie bleibt und es ihr gut geht.“