Schutzengelstreik

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Schutzengelstreik
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Schutzengelstreik - Alles ist gut so wie es ist

1  Impressum

2  Widmung

3  Der Unfall

4  Kriesenmeeting im Himmelsreich

5  Diana

6  Verena

7  Johannes

8  Juno

9  Aurora

10  Die Entscheidung

11  Epilog (4 Jahr und 7 Monate später)

12  Weitere Veröffentlichungen:

Impressum
Schutzengelstreik - Alles ist gut so wie es ist

Texte: © Stefanie Kothe

Umschlaggestaltung: © Stefanie Kothe

1. Auflage 2019

Schutzengelstreik – alles ist gut so wie es ist

Verlag:

Stefanie Kothe

Postfach 110229

06016 Halle/S.

stefaniekothe@email.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mit Hilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten.

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http://www.stefaniekotheautorin.wordpress.com

Widmung

Für meine wundervolle Mentorin Heidi. Danke, dass es dich gibt!

Der Unfall

„Verdammt, das geht schief“, war ihr letzter Gedanke, bevor das Auto sie erfasste. Wo dieses auf einmal her kam, konnte sie nicht sagen. Es war plötzlich da, wie aus dem nichts aufgetaucht in dieser dunklen, verregneten Novembernacht. War sie wirklich so unkonzentriert gewesen, dass sie das Auto nicht gesehen hatte? Oder hatte sie gar nicht erst gekuckt? Maria konnte sich nicht erinnern. Sie war aus der Ausfahrt gefahren. Dann das Hupen. Das grelle Scheinwerferlicht, das wie tausend Nadeln in ihre Augen stach. Sie hörte die Bremsen quietschen und dann knallte es schon. Als das Auto sie erwischte, dachte sie nur: „Wenn ich jetzt bewusstlos werde, wache ich nie wieder auf.“ Das Auto schleuderte ihr direkt den Motorroller aus der Hand. Mit der Hüfte knallte sie auf die Motorhaube, bevor die Schulter die Windschutzscheibe traf, einen Augenblick später gefolgt vom Kopf. Der Körper wurde wie ein Ball in die Luft geschleudert. Dort drehte sie sich und knallte mit Bauch und Brustkorb hart auf den Boden. „Ein Glück, ich habe es überlebt“, dachte sie, während sie auf dem Bauch einige Meter weiter rutschte.

Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert und doch kam es ihr vor wie eine Ewigkeit. Endlich war es vorbei. Sie lag einfach nur da. Sie wollte sich bewegen, aber es ging nicht. Sie zwang sich tief durchzuatmen und versuchte es noch einmal. Mühsam rappelte sie sich hoch. Sie bewegte erst die Arme und dann die Beine. Sie spürte, wie sie zitterte, doch sie schaffte es, sich hinzusetzen. Ihr Kopf tat weh und der Helm hing in seltsamer Position herunter. Ihr Gesicht fühlte sich nass an, wie der ganze Rest, aber irgendwie anders. Vorsichtig tastete sie den Nasenrücken ab. Danach die Stirn. Sie sah auf ihre Hand und da war Blut. Langsam nahm sie den Helm vom Kopf. Das Visier war gesplittert. Auch daran war Blut zu sehen. Da bemerkte sie, dass jemand mit ihr sprach. „Nicht den Helm abnehmen. Was machen Sie nur für Sachen? Sind Sie verletzt?“ Sie sah zu dem Auto, das ungefähr fünf Meter von ihr entfernt gehalten hatte. An der Tür stand eine Gestalt. Sie verstand die Worte nicht, aber der Stimme nach zu urteilen, handelte es sich um einen älteren Mann. Er kam auf sie zu und wiederholte seine Worte: „Was machen Sie denn nur? Sind sie verletzt?“ Verwirrt sah sie ihn an. „Nein, ich… nein, es geht mir gut. Es tut mir leid. Es war keine Absicht.“ „Brauchen Sie einen Arzt?“, wollte er als Nächstes wissen. Es handelte sich um einen Mann, um die sechzig, normale Figur mit Bart. „Nein, es geht mir gut“, versicherte sie erneut und wollte aufstehen. Der Mann hatte inzwischen ein Handy in der Hand und telefonierte mit der Polizei. „Polizei? Oje, das würde Ärger geben.“ „Ja, schicken Sie bitte einen Notarzt mit, danke“, hörte sie den fremden Herren sagen. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine wollten sie nicht tragen. Erst da fiel ihr auf, dass der linke Schuh fehlte. Sie sah sich suchend um und sah ihn etwa 2 Meter hinter sich liegen. Als sie danach greifen und sich mit dem linken Fuß abstützen wollte, durchfuhr sie ein furchtbarer Schmerz. Es war, als würden Blitze vor ihrem inneren Auge explodieren. Als der Schmerz nachließ, durchzuckte ein neuer Gedanke ihren Kopf: „Wo ist der Roller und wie schlimm hat es ihn erwischt?“ Langsam suchte sie mit den Augen die Straße ab. Vor ihr stand noch immer das Auto mit den grellen Scheinwerfern. Schräg hinter ihr, auf der Gegenfahrbahn, sah sie ein weiteres Auto. Wo war das denn hergekommen und seit wann stand das da? Ihr Blick wanderte weiter und da sah sie ihn. Ihren Roller. Ihr Baby. Um genau zu sein, nur Teile davon. Dort lagen die Überreste und quer über die Straße verstreut viele Einzelteile. Ein Spiegel war abgebrochen und ein Großteil der Hülle. Das Case war auf die andere Seite der Straße geschleudert worden. Der Sitz lag unter einem fremden Auto und der Zweithelm lag zerbrochen rechts neben ihr. Ein absoluter Totalschaden. Wieder verspürte sie den Drang aufzustehen. Dieses Mal gelang es ihr, obwohl sie mit dem linken Fuß immer noch nicht auftreten konnte. Der Mann kam angerannt und wollte sie davon abhalten zu laufen, aber sie war froh es einmal hochgeschafft zu haben.

Aber wo wollte sie eigentlich hin? Sie wusste es selber nicht. Durch den Regen war sie inzwischen bis auf die Knochen durchnässt und fror entsetzlich. Der Mann brachte sie in sein Auto und holte aus dem Kofferraum eine kleine Decke, die er ihr über die zitternden Beine legte. „Brauchen Sie etwas, kann ich was für Sie tun?“, fragte er besorgt. „Ja, meine Handtasche, die ist im Case.“ Sie gab ihm den Schlüssel. In dem Moment traf schon die Polizei ein. „Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte. Bitte verändern Sie nicht den Unfallort.“ „In dem Case ist meine Tasche und da sind meine Papiere drin“, erklärte Maria dem Polizisten. Dieser nickte und der Mann durfte das Case öffnen. Als Maria versuchte, die Papiere aus der Tasche zu holen, bemerkte sie, dass sie sich an der Hand ebenfalls verletzt hatte. Eine pochende Prellung veränderte schon ihre Farbe. Mit viel Mühe schaffte sie es, die Papiere aus der Tasche zu fischen. Während der Polizist die Personalien aufnahm, schaute sie wieder zu den Überresten des Rollers. „Sollen wir jemanden für Sie benachrichtigen“, fragte der Polizist? „Nein danke, dass mache ich besser selbst, wenn Sie meine Mutter jetzt anrufen, braucht die den Notarzt dringender als ich“, erwiderte Maria lächelnd. Der Sinn für Humor war also noch da, stellte sie erleichtert fest. Sie griff nach dem Handy, doch der Polizist unterbrach sie. „Was ist hier eigentlich passiert?“, wollte er wissen. „Sie sind natürlich nicht verpflichtet, Angaben zu machen.“ „Eigentlich ist das ganz einfach, ich bin aus der Ausfahrt da gefahren, habe nicht aufgepasst und wurde von dem Auto hier angefahren. Es war alles meine Schuld. Es tut mir leid.“ Der Polizist hatte fleißig mitgeschrieben und keine weiteren Fragen mehr. Maria schnappte sich ihr Handy und rief ihre Mutter an. „Mama, bekomm jetzt bitte keinen Schreck, ich hatte einen Rollerunfall. Mir geht es ganz gut, aber der Roller hat einen Totalschaden. Der Notarzt kommt gerade und die werden mich sicher mit ins Krankenhaus nehmen. ... Nein Mama, mir geht es wirklich ganz gut, ich hatte großes Glück. Ich rufe dich noch mal an, wenn ich weiß, in welches Krankenhaus ich komme. Bis gleich.“ In dem Moment traf der Rettungswagen ein. Die Welt drehte sich vor ihren Augen und alles war verschwommen, als würde sie versuchen aus einem beschlagenen Fenster zu schauen. „Wie geht es Ihnen?“, fragte der Notarzt mit seiner ruhigen Stimme. „Ganz gut. Ich hatte sehr viel Glück. Ich habe mich am Fuß verletzt, scheinbar ein paar Schnittwunden im Gesicht, eine Prellung an der Hand und eine ziemliche tiefe Abschürfung am Knie. Alles Dinge die verheilen werden. Ich habe Glück dass ich noch lebe.“ „Ist Ihnen schlecht oder habe sie Kopfschmerzen?“ „Nein, da ist alles ok.“ Der Notarzt nickte zufrieden. „Schaffen Sie es, in den Rettungswagen zu steigen?“ „Ich denke schon, kann aber einen Moment dauern.“ Sie stieg aus dem Auto und versuchte den linken Fuß zu belasten. Es funktionierte, aber tat fürchterlich weh. Mit aller Kraft konnte sie den Aufschrei unterdrücken, der in ihrer Kehle aufstieg. Der Arzt stütze sie vorsichtig und half ihr in den Rettungswagen. Endlich durfte sie sich hinlegen und erst jetzt kam die Erschöpfung durch. Am liebsten wäre sie sofort eingeschlafen, aber der Fuß tat so weh, dass das völlig unmöglich schien. „In welches Krankenhaus fahren wir?“, fragte sie den Arzt. „Ins Stadtkrankenhaus.“ Sie informierte schnell ihre Eltern, die sich sofort auf den Weg machten. Da die Polizei mit den Papieren noch etwas brauchte, konnte der Notarzt erste Untersuchungen machen. „Der Fuß könnte gebrochen sein, das müssen wir dringend röntgen. Ich bandagiere ihn jetzt erst mal. Ist Ihnen so kalt oder zittern sie so wegen dem Unfall.“ „Mir ist kalt, aber es geht schon.“ Der Notarzt grinste und deckte sie zu, bevor er sich schon mal die Chipkarte geben ließ und kümmerte sich dann um alle Formalien. Da kam der Polizist und gab die Papiere zurück.

 

„Na dann können wir ja endlich“, meinte der Arzt trocken. Selbst Maria konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Arzt schnallte sie auf der Trage fest und es ging los. Autofahren fand sie nie so besonders, aber im Liegen und dann auch noch rückwärtsfahren fand ihr Magen gar nicht witzig. Zum Glück war es nicht weit und sie hatte es schnell überstanden.

Im Krankenhaus ankommen, ging es direkt durch die Notaufnahme rein zum nächsten freien Arzt. „Na, was haben wir denn gemacht?“, fragte dieser gut gelaunt. „Och, ich wurde von einem Auto umgefahren und im Gegensatz zu meinem Roller habe ich anscheinend überlebt.“ Der Arzt lachte. „Na dann wollen wir uns doch mal die Verletzungen anschauen. Wo tut es denn weh?“ „Alles bis auf den linken Arm“, stellte Maria nüchtern fest. Der Arzt ließ seinen Blick einmal über sie wandern und begann dann systematisch mit der Untersuchung. Die Schwester hatte sichtlich Mühe alles mitzuschreiben. „Schnittwunde über dem Auge, oberflächliche Schürfwunde am Nasenrücken, leichtes Schleudertrauma, Prellungen an den Brustwirbeln und Lendenwirbeln sowie an der rechten Hand und der linken Schulter, Prellung der linken Hüfte, da wurden sie scheinbar von dem Auto erwischt?“ Maria nickte. Beeindruckt fuhr der Arzt fort: „Hämatome an der Hüfte und beiden Oberschenkeln. Tiefe Schürfwunde am linken Knie, außerdem Prellungen an beiden Knien und Schienbeinen. Linker Fuß Prellung oder Bruch, schweres Hämatom, Zehen stark geprellt zum Teil mit Platzwunden. Ich würde sagen, wir röntgen einfach einmal komplett durch, damit uns nichts entgeht. Schwanger sind Sie nicht?“ Maria verneinte dies und schon wurde sie wieder zur Tür rausgefahren. Draußen traf sie auf ihre Eltern und bat sie auf ihre Tasche aufzupassen. Ihr Vater entspannte sich direkt, als er sah, dass ihr nichts Schlimmeres passiert war. Ihre Mutter jedoch war kreidebleich und Maria wäre es lieber gewesen, sie hätte sie angebrüllt, als sie so geschockt zu sehen. Um von der Krankentrage auf den Röntgentisch zu kommen, musste Maria mächtig die Zähne zusammen beißen, da sie sowohl den verletzen Fuß, als auch die Hand belasten musste. Als sie da lag und den Anweisungen folgte, zitterte sie vor Anstrengung. Sie wollte nur noch nach Hause in ihr Bett. Sie sehnte sich nach Schlaf. Die letzte Zeit war anstrengend gewesen und dieser Unfall hatte ihr den Rest gegeben. Endlich war das nächtliche Fotoshooting aller Knochen beendet und Maria konnte wieder auf ihre Trage. Die Schwester hatte so einen rabiaten Fahrstil, dass Maria zwischendurch immer wieder zusammenfuhr, weil sie gegen irgendeinen Türrahmen knallte. Maria war froh, als sie endlich wieder vor dem Behandlungsraum stand und einen Moment durchatmen konnte. Wenige Minuten später, kam die Schwester wieder und fuhr sie zurück in den Raum. Der Arzt saß am Computer und studierte konzentriert die Röntgenaufnahmen. Langsam wurde Maria unruhig. Gab es da was Schlimmes zu sehen, oder wieso dauerte das so lange? Warum zoomte er immer wieder vor und zurück? Sie fixierte das Röntgenbild ebenfalls, konnte aber nichts erkennen. Endlich schaute er Maria an und wirkte so, als hätte er ihre Anwesenheit soeben erst bemerkt. „Also gebrochen ist nichts. Wir werden jetzt die Wunden versorgen.“ Er begann mit den Schnitt- und Schürfwunden am Kopf und arbeitete sich bis zum Fuß durch. Maria konnte gerade so einen Aufschrei unterdrücken, als der Arzt begann diesen zu bandagieren. Sie war froh, als er es endlich geschafft hatte und sie den Fuß wieder ablegen konnte. „Darf ich jetzt nach Hause?“, fragte sie zögernd. Der Arzt schaute sie an. „Haben Sie Schmerztabletten zu Hause?“ Maria lächelte ihn an: „Ich habe immer Ibu800 im Haus, da ich seit meinem achten Lebensjahr unter Migräne leide.“ Der Arzt nickte und schrieb sie für die restlichen zwei Tage der Woche krank. „So dann mal los“, kommandierte die Schwester in barschem Tonfall. Maria stand vorsichtig auf und versuchte aufzutreten, doch schon bei der kleinsten Berührung mit dem Boden zuckte sie zusammen. „Also wenn Sie nicht laufen können, brauchen Sie Thrombosespritzen“, schnauzte die Schwester direkt los. Maria zwang sich, trotz der Schmerzen zu laufen, und schaffte es bis in den Flur. Ihre Mutter stürzte direkt auf sie zu und wollte sie stützen, aber Maria wich zurück. Ihre Mutter hätte das körperlich nicht geschafft. Sie warf ihrem Vater einen hilfesuchenden Blick zu und in dem Moment, begann die Welt sich erneut zu drehen und vor ihren Augen wurde es schwarz. Sie spürte, wie Arme sie auffingen und sie zu einem Stuhl schleiften. Dann hörte sie es zischen und als sie die Augen öffnete, hielt eine Krankenschwester ihr eine Flasche Wasser vor die Nase. Maria leerte sie in wenigen Zügen. Die Schwester ging los und als sie kurz darauf wieder auftauchte, hatte sie einen Rollstuhl und eine weitere Flasche Wasser dabei. In dem fuhr ihr Vater sie zum Auto und brachte sie nach Hause. Ihre Mutter wollte sie erst mit zu sich in die Wohnung nehmen, doch das wusste ihr Vater zum Glück zu verhindern, denn Maria brauchte endlich Ruhe. „Wir können sie nicht mit zu uns mit hoch nehmen. Ich bin schon froh, wenn sie es in die erste Etage schafft, wie sollen wir sie da denn in die dritte bekommen?“ Noch nie war Maria ihrem Vater so dankbar und selten war sie so erleichtert gewesen endlich im Bett zu liegen, wie in dieser Nacht. Ihr Kopf hatte kaum das Kissen berührt, als sie schon einschlief, ohne zu ahnen, dass in diesem Moment ihr Schicksal neu bestimmt wurde.

Kriesenmeeting im Himmelsreich

„Vergiss es, ich mache den Job nicht mehr. Das war jetzt schon der dritte Rollerunfall seit sie einen Führerschein hat. Diese Frau kann man keine Sekunde aus den Augen lassen. Sie ist wie ein großes Kind. Sie ist nicht in der Lage auf sich aufzupassen. In ihrem Leben folgt eine Katastrophe auf die andere. Ich bin Schutzengel und kein Babysitter. Ich kann einfach nicht mehr. Ich mache das jetzt seit über 400 Jahren, aber so einen Unglücksraben habe ich wirklich noch nie erlebt. Ganz ehrlich, ich bin auch nur ein Engel und inzwischen mit meinen Nerven am Ende“, beendete Kassandra ihren Monolog.

Vor ihr schwebte ein grelles Licht. Das Licht wurde greller, als eine Stimme antwortete:

„Ich verstehe dich Kassandra, aber du bist einer der besten Engel, die ich habe. Wer soll denn jetzt deinen Job übernehmen? Du bist doch Profi bei solchen… Problem- fällen. Du kannst nicht einfach hinschmeißen.“

Kassandra schäumte vor Wut.

„Was soll das heißen, ich kann das nicht. Du wirst sehen wie ich das kann. Das Mädel ist einfach nicht überlebensfähig. Ich fühle mich total überfordert. Es geht wirklich nicht mehr.“

Das Licht wurde blasser.

„Würdest du wenigstens einen anderen Schützling übernehmen?“ Kassandra spürte das altbekannte Mitgefühl in sich aufkeimen. Sie seufzte und nickte dann.

„Also gut, wenn es kein ganz so schwerer Fall ist, dann übernehme ich ihn. Mal etwas einfacheres zwischendurch wäre echt schön.“

Das Licht flackerte, als würde es lachen.

„Na gut, dann werde ich mich darum kümmern. Kennst du jemanden, der Maria den Bruchpiloten übernehmen könnte?“ Kassandra überlegte kurz.

„Ja, mir fallen sogar fünf passende Kandidaten ein, die in Frage kommen könnten. Diana, Verena, Juno und Aurora und mir fällt sogar noch ein männlicher Kandidat ein. Was hältst du von Johannes? Er hat so viel erlebt, den schockt so schnell nichts mehr.“

Erneut fing das Licht an zu flackern.

„Also gut, bring mir die betreffenden Engel. Ich werde sie alle nach und nach auf die Erde schicken und werde sie genau beobachten und dann zusammen mit Maria und dir eine Entscheidung treffen.“ Kassandra stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben.

„Du willst den Schützling mitentscheiden lassen, wer über sie wachen soll? Sowas gab es doch noch nie.“

„Einmal ist immer das erste Mal, oder? Es war auch noch nie da, dass ein Schutzengel einen Schützling verweigert“, gab das Licht lachend zurück. Kassandra verdrehte die Augen.

„Gut, dann hole ich mal die betreffenden Kollegen.“

Sie schwebte davon und überlegte, wo in den unendlichen Weiten sie die fünf Kandidaten finden könnte. Als Erstes fand sie Diana. Sie tobte mit ein paar Jungschutzengeln durch die Wolken. Kinder waren Dianas Welt. Sie liebte es mit den Kleinen zu spielen und ihnen was beizubringen. Am liebsten gab sie Flugstunden und zeigte ihnen, wie ein Schutzengel in gefährlichen Situationen schnell und vor allem richtig reagierte. Gleichzeitig war sie aber selbst verspielt wie ein Kind und für jeden Quatsch zu haben. Kassandra schwebte auf sie zu und erklärte ihr, dass der Chef sie sprechen möchte. Die kleinen Engelchen protestierten:

„Nein Diana, du darfst nicht gehen. Wir wollen weiter spielen. Es ist doch gerade so lustig. Bitte bleib noch etwas.“ Diana lächelte ihre Kleinen liebevoll an:

„Keine Sorge ihr Süßen, ich komme wieder, versprochen. Wenn der Chef mich sehen möchte, muss ich gehorchen. Auch große Schutzengel dürfen nicht immer machen was sie wollen. Ich komme so schnell wie möglich wieder zu euch.“

Kassandra und Diana schwebten davon.

„Kassandra, was will der Chef von mir? Bekomme ich einen neuen Schützling?“

Kassandra lächelte. Sie war einiges älter als Diana und dennoch waren sie befreundet.

„Ich glaube, dass möchte er dir selbst erklären. Wir müssen aber vorher noch Verena, Juno, Aurora und Johannes holen. Hast du eine Idee, wo die stecken könnten?“

Diana überlegte kurz.

„Also Verena ist sicher im Bad oder bei der Kosmetik“, vermutete sie grinsend.

Kassandra sah sie tadelnd an.

„Diana, es gehört sich nicht über andere zu lästern, auch wenn du Recht haben könntest.“

Diana sah verunsichert zu Kassandra hoch. War sie jetzt sauer auf sie? Nein, ein Blick in die Augen verriet ihr, dass Kassandra nur mit Mühe ein Schmunzeln unterdrücken konnte. Sie fanden Verena tatsächlich im Bad an, wo sie, gerade damit beschäftigt war, ihre Flügel zu putzen.

„Leute, ich habe keine Zeit zu plaudern, ich muss mich fertig machen, ich habe gleich ein Date.“

Diana verdrehte genervt die Augen.

„Mit wem denn? Ich dachte, du hast längst alle männlichen Kollegen durch.“

Kassandra zog ihr ihren rechten Flügel über den Kopf.

„Hör auf damit“, mahnte sie.

Diana verzog das Gesicht.

„Ist ja gut, bitte entschuldige Verena“, nuschelte Juno halbherzig.

Verena sah sie von oben herab an:

„Lass gut sein. Ich mache mich noch schnell fertig, dann können wir los.“

Nach einer halben Ewigkeit hatte es Verena geschafft. Sie sah wunderschön aus.

„Können wir dann endlich“, fragte Diana ungeduldig.

„Nur weil du aussiehst wie gerade vom Spielplatz gekommen, müssen wir ja nicht alle so rumlaufen, oder? Was soll denn der Chef von dir denken?“

Diana wollte schon zu einer Antwort ansetzen, aber ein Blick von Kassandra brachte sie zum Schweigen. Sie wusste, dass Kassandra keinen Streit mochte und ihr zuliebe sagte sie nichts. Sie überlegte wo sie Juno, Johannes und Aurora finden konnte. Diana überlegte das Gleiche und hatte eine spontane Idee.

„Ich wette, Johannes ist in der Werkstatt. Er kann so tolle Sachen bauen und seine Erfindungen sind legendär.“

Kassandra nickte. Was auch für ein Problem bestand, Johannes konnte sie alle lösen. Verena mochte ihn allerdings gar nicht, weil er sich weigerte mit ihr auszugehen. Sie konnte sich nicht erklären, was er gegen sie hatte.

Als sie in der Werkstatt ankamen, schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. Sie wollte gerade zu einer zuckersüßen Begrüßung ansetzen, doch Kassandra war schneller.

„Hallo Johannes. Der Chef schickt mich. Ich soll dich zu ihm bringen.“

 

Johannes strahlte sie an. Er mochte sie sehr. Er war damals bei ihr in der Ausbildung gewesen und alles, was er heute konnte und wusste, verdankte er ihr.

„Klar, ich komme gleich. Ich wollte ihm sowieso meine neue Erfindung vorstellen, ich hole sie schnell.“ Zwei Minuten später kam er mit einem Gegenstand wieder, der aussah wie eine Fernbedienung.

„Was ist das“, fragte Diana. Jetzt war Johannes in seinem Element:

„Das ist eine Zeitfernbedienung. Wenn ein Schützling in Gefahr schwebt, kann man damit die Zeit langsamer laufen lassen und so vielleicht schlimmeres verhindern. Wir können aber auch, wenn die Zeit für unseren Schützling abgelaufen ist, die Zeit schneller laufen lassen und so eventuelle Qualen minimieren.“

Diana strahlte ihn an:

„Was für eine tolle Idee. Johannes, du bist ein Genie.“ Johannes lächelte verlegen.

„Danke für das Kompliment.“

Anschließend fanden sie Juno am Eingang zum Himmelsreich. Dies war einer ihrer Lieblingsplätze. Es machte ihr Freude, die Neuankömmlinge zu begrüßen und zu trösten. Viele waren traurig oder verwirrt. Sie wollten noch nicht hier sein. Einige waren aber auch erleichtert. Das waren meist Menschen, die schwer krank gewesen waren, oder aber sehr unglücklich. Wenn die Menschen durch das Tor traten, waren sie befreit von Sorgen und Schmerzen. Einige wenige von ihnen leuchteten in dem Moment. Das waren diejenigen, die sich in kleine Schutzengel verwandelten und ein neues Leben mit dieser wichtigen Aufgabe beginnen durften. Alle anderen wurden auf die Erde zurückgeschickt und begannen ein neues Leben ganz von vorne.

„Hallo Juno“, begrüßte Kassandra sie.

„Hallo Kassandra. Es ist schön, dich zu sehen.“ Kassandra lächelte. In Junos Nähe fühlte sie sich immer entspannt. Nichts und niemand konnte sie aus der Ruhe bringen.

„Juno, der Chef möchte euch sprechen, hast du etwas...!“

„Da, schau mal“, unterbrach Juno sie. Kassandra sah zum Tor. Eine alte Frau humpelte gerade mit ihren Gehhilfen hindurch. Als sie in der Mitte des Tores war, leuchtete sie auf. Ein strahlend weißes Licht umhüllte sie, wie einen Schutzmantel. Plötzlich war es, als würde ihr Leben rückwärts laufen. Sie richtete sich auf, war wieder eine junge Frau und wurde zum kleinen Kind. Als sie aussah wie ein kleines vierjähriges Mädchen, wuchsen ihr Flügelchen aus dem Rücken. Dann war die Verwandlung beendet.

"Es ist immer wieder so wunderschön das zu sehen", sagte Juno leise mit Tränen in den Augen. Kassandra schloss sie in ihre Arme.

„Ja, das ist es. Lass sie uns in die Schule bringen und dann holen wir noch Aurora.“ Juno strahlt. Sie und Aurora waren zusammen in der Ausbildung gewesen und wie Schwestern aufgewachsen.

„Weißt du, wo Aurora stecken könnte?“, hörte sie Kassandras Stimme an ihr Ohr dringen.

„Ich vermute mal in der Bibliothek.“ Kassandra lachte:

„Klar, da hätte ich auch selbst drauf kommen können.“ Aurora war schon zu Lebzeiten ein begeisterter Bücherwurm gewesen und hier oben führte sie die Protokolle über die Leben aller Menschen. Nebenbei schrieb sie auch Bücher. Es gab davon zwei Arten. Einmal jene, die nur für Engel bestimmt waren und dann die, die auch den Lebenden zur Verfügung standen. Unter zahlreichen Pseudonymen veröffentlichte sie immer wieder Bücher, die den Menschen Mut und Kraft gaben. Das Geld, welches sie als Autorin bekam, spendete sie für einen guten Zweck. Aurora sagte immer, dass sie nicht viel zum Leben braucht. Solange ein gutes Buch in der Nähe war, war ihre Welt in Ordnung.

Als sie die riesige Bibliothek betraten, in der sich alle Bücher befanden, die jemals geschrieben worden waren, sahen sie Aurora sofort. Sie schwebte oben unter der Kuppel dieses großen Lesesaals und sortierte Bücher ein. Kassandra wollte nach ihr rufen, als Juno an ihr vorbei schoss und nach oben schwebte. Sie flog, so schnell sie konnte in Auroras Arme.

„Juno? Was machst du hier? Ich freue mich so dich zu sehen.“

„Kassandra ist mit uns unterwegs“, antwortete diese und deutete auf die Punkte am Boden, die aussahen wie schimmernde weiße Miniameisen. Zusammen flogen sie zu der kleinen Gruppe. „Juno hat mir schon gesagt, dass der Chef uns sehen möchte. Ich bin sehr gespannt. Ich musste noch schnell das Buch holen, das er bestellt hat. Wenn wir schon auf dem Weg zu ihm sind, kann ich das auch gleich für ihn mitnehmen.“ Zusammen machte sich die Truppe auf den Weg und traf nur kurze Zeit später wieder im Büro des Chefs ein.

„Ich habe sie alle gefunden Chef und auch mitgebracht“, eröffnete Kassandra das Gespräch. Das Licht wurde heller und sprach:

„Sehr schön, gut gemacht Kassandra. Hast du ihnen schon erklärt, warum sie hier sind?“ Kassandra schüttelte den Kopf.

„Nein, ich bin davon ausgegangen, dass du das dann doch lieber selbst übernimmst.“

„Natürlich! Ich möchte, dass ihr mir jetzt einfach zuhört und mich nicht unterbrecht. Ihr werdet, wenn ich mit meinen Ausführungen fertig bin, die Gelegenheit bekommen, euch dazu zu äußern. Habt ihr das verstanden?“ Alle sechs Engel nickten stumm.

„Gut“, begann das Licht.

„Es geht um Folgendes. Kassandra kann ihren Schützling aus persönlichen Gründen nicht mehr betreuen und dieser braucht deswegen jetzt einen neuen Schutzengel.“ Ein Raunen ging durch die kleine Gruppe. Alle sahen zu Kassandra, doch diese schaute hochkonzentriert zu dem Licht. „Persönliche Gründe? Sowas gab es bei Engeln doch nicht. Ein Schützling wurde betreut, vom Tag der Geburt, bis zum letzten Atemzug. Es war noch nie vorgekommen, dass jemand einen Schützling abgegeben hatte.“ Das Licht räusperte sich, bevor es fortfuhr: „Dieser Schützling ist besonders... nun ja... kompliziert. Es handelt sich dabei um die 25-jährige Maria. Sie hat das Talent, sich im Minutentakt in Schwierigkeiten zu begeben. Vor wenigen Stunden hatte sie einen schweren Rollerunfall, den sie mit sehr viel mehr Glück, als Verstand überlebt hat. Sie zu betreuen ist so, als hättet ihr Fünflinge im Kleinkindalter zu betreuen.“ Diana, Verena, Johannes, Juno und Aurora sahen sich an. Diese Aufgabe war ohne jeden Zweifel eine echte Herausforderung. „Können wir denn nicht zu zweit im Team arbeiten“, fragte Juno. „Nein, das geht nicht“, antwortete das Licht. „Nur ein Engel pro Mensch. Wie ihr wisst, gibt es so viele Schutzengel wie Menschen. Wenn die Relation nicht mehr stimmt, werden einige Seelen wieder zu Menschen, oder Menschen die hier oben ankommen werden zu Schutzengeln.“ Kassandra nickte.

„Das stimmt, Schutzengel sein ist ein 24-Stunden-Job, sonst wäre ich nach 25 Jahren noch nicht so fertig.“

„Wie genau soll das Ganze denn jetzt ablaufen?“, frage Johannes neugierig.

„Jeder von euch wird einen Monat mit Maria verbringen und sie etwas kennenlernen. Danach entscheiden Maria, Kassandra und ich, wer von euch am besten für diese Aufgabe geeignet ist. Kassandra wird euch die ganze Zeit begleiten und mir Bericht erstatten und euch in alle Besonderheiten einweisen.“ Kassandra schluckte.

„Ich werde was?“ Das Licht leuchtete grell auf.

„Du wirst deinen Nachfolger einarbeiten. Keiner kennt Maria so gut wie du. Du wirst schon mal vorgehen und sie langsam auf das vorbereiten, was in nächster Zeit auf sie zukommt. Bis sie einen neuen Schutzengel hat, werde ich mich persönlich um sie kümmern. Diana, du wirst als Erste zu ihr gehen. Danach wird Verena ihr Glück versuchen und im Anschluss Johannes. Juno, du wirst die vierte sein und den Abschluss macht Aurora. Wer von euch diesen Auftrag bekommt und ihn ordentlich ausführt, bekommt natürlich eine Belohnung. Euch wird ein persönlicher Herzenswunsch erfüllt.“ Dies war eine ungewöhnliche Aussicht, denn normalerweise war es Ehre genug ein Schutzengel zu sein.

„Kassandra, mach dich jetzt auf den Weg zu Maria. Du hast eine Woche Zeit sie vorzubereiten. Mach das bitte möglichst sanft, nicht das sie sich erschreckt und zu Schaden kommt. Ihr ist ein sehr langes Leben vorbestimmt und ich möchte nicht, dass dieses vorzeitig beendet wird.“ Kassandra nickte und schwebte davon.

Wie sollte sie es in nur einer Woche schaffen Marias Vertrauen zu gewinnen und ihr die Sache schonend zu erklären. Sie beschloss, erst mal zu schauen, wie es ihr nach dem Horrorunfall ging. Als Kassandra in Marias Wohnung ankam, schlief Maria tief und fest. Kassandra setzte sich an ihr Bett und berührte vorsichtig die linke Hand. Maria schien dies gespürt zu haben, denn sie kuschelte sich noch tiefer in ihr Kissen. Plötzlich wurde Maria unruhig. Ihr Atem beschleunigte sich. Kassandra legte ihr eine Hand auf die Stirn und tauchte vorsichtig in Marias Traum ein. Was sie da sah, waren 2 Träume, die wie 2 Filme in Endlosschleife zu laufen schienen. Der Erste dauerte nur ein paar Sekunden. Ein heller Scheinwerfer kam auf sie zugerast. Dann knallte es und es wurde alles dunkel. Als es wieder hell wurde, befanden sie sich auf einer Beerdigung. Eine dunkelblaue Urne mit vielen kleinen weißen Sternen stand auf dem Altar. Überall standen Blumenkränze und Sträuße. An der Seite stand ein riesiges Foto von Maria. Vorne saß die ganze Familie. Dahinter Freunde und Arbeitskollegen. Die kleine Kirche war rappelvoll. Maria, durchsichtig wie ein Geist, lief nach vorne und strich ihrer Mutter sanft über die Wange. Danach wandte sie sich ab und sah sich suchend um. Weiter hinten in der Kirche standen ein junger Mann und eine junge Frau. Sie diskutierten im halblauten Flüsterton über eine Internetseite. Kassandra störte das extrem. Wie konnte man so unsensibel sein. Maria jedoch lächelte und schwebte zu ihnen rüber.