Allgemeine Psychologie

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Allgemeine Psychologie
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Prof. Dr. Stefan Pollmann lehrt Allgemeine Psychologie an der Universität Magdeburg

Abbildungen im Innenteil falls nicht anders vermerkt: Florianne Wohlfahrt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. UTB-Band-Nr. 8391 UTB-ISBN 978-3-8385-8773-8 (Online lesen) UTB-ISBN 978-3-8463-8773-3 (EPUB)

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs

Vorwort

1 Wahrnehmung

1.1 Sehen: Wahrnehmung als Konstruktionsprozess

1.1.1 Physiologische Einschränkungen des Sehens

Aufbau des Auges

1.1.2 Visuelle Suche

1.1.3 Merkmalsverarbeitung im primären visuellen Cortex

1.1.4 Selektive Wahrnehmung

1.2 Sehen: Objektwahrnehmung

1.2.1 Objektwahrnehmungsstörungen

1.2.2 Gesichtererkennung

1.2.3 Erkennen belebter und unbelebter Objekte

1.2.4 Objekte und Merkmale

1.2.5 Frühe und späte visuelle Areale?

1.3 Raum- und Bewegungswahrnehmung

1.3.1 Raumwahrnehmung

Sehbahn

Retinotopie

Ventraler und dorsaler Pfad

1.3.2 Bewegungswahrnehmung

1.3.3 Wahrnehmung räumlicher Tiefe

1.4 Farbwahrnehmung

1.4.1 Mechanismen der Farbwahrnehmung

1.4.2 Cerebrale Repräsentation von Farbe

1.5 Hören

1.5.1 Schallumwandlung im Ohr

1.5.2 Lautheit

1.5.3 Räumliches Hören

1.5.4 Komplexe auditive Wahrnehmung

1.6 Riechen und Schmecken

1.6.1 Der Geruchssinn

1.6.2 Der Geschmackssinn

1.7 Sensomotorik

1.7.1 Somatosensorik

Hautrezeptoren

Reizweiterleitung

1.7.2 Motorik

Visuomotorische Kopplung

2 Kognition

2.1 Selektive Aufmerksamkeit

2.1.1 Aufmerksamkeit als Selektionsprozess

2.1.2 Modelle der visuellen Suche

2.1.3 Frontoparietales Aufmerksamkeitsnetzwerk

2.1.4 Aufmerksamkeitssteuerung

2.1.5 Auswirkungen von Aufmerksamkeit

2.2 Exekutivfunktionen I

2.2.1 Handlungskontrolle

2.2.2 Koordination mehrerer Handlungen

Doppelaufgaben

Aufgabenwechsel

2.3 Exekutivfunktionen II

2.3.1 Fehlerkontrolle

2.3.2 Exekutive Funktionen des lateralen Präfrontalcortex

2.4 Problemlösen

2.4.1 Problemdeterminanten

2.4.2 Problemrepräsentation

2.4.3 Präfrontale Funktionen

2.4.4 Analogiebildung und Expertise

2.5 Sprache I

2.5.1 Wortverständnis und -produktion

2.5.2 Lesen

Periphere Dyslexien

Zentrale Dyslexien

2.6 Sprache II

2.6.1 Satzverständnis

2.6.2 Neuronale Korrelate der Sprache

2.7 Mentale Arithmetik

2.7.1 Numerosität

2.7.2 Neuronale Korrelate der Numerosität

3 Lernen und Gedächtnis

 

3.1 Arbeitsgedächtnis

3.1.1 Das Konzept des Kurzzeitgedächtnisses

3.1.2 Konzepte des Arbeitsgedächtnisses

3.2 Langzeitgedächtnis: Akquisition und Abruf

3.2.1 Elaboration

3.2.2 Gedächtnissuche

3.2.3 Bildgebende Untersuchungen

3.2.4 Die Rolle des Frontalcortex

3.3 Langzeitgedächtnis: Konsolidierung

3.3.1 Konsolidierung im Schlaf

3.3.2 Interferenz

3.3.3 Vertrautheit und Wiedererkennung

3.4 Sensorisches Gedächtnis

3.4.1 Sensorische Speicher

3.4.2 Perzeptuelles Lernen

3.4.3 Visuelles Kategorielernen

3.4.4 Visuelles Langzeitgedächtnis

3.5 Lernparadigmen

3.5.1 Klassische Konditionierung

3.5.2 Instrumentelle Konditionierung

3.5.3 Gemeinsamkeiten von klassischem Konditionieren und instrumentellem Konditionieren

3.5.4 Nichtassoziatives Lernen

3.6 Mechanismen der Konditionierung

3.6.1 S-R- oder S-S-Assoziation?

3.6.2 Kontingenz

3.6.3 Aversive Verhaltenskontrolle

3.6.4 Vermeidungslernen

3.7 Lernen – Assoziation oder Kognition

3.7.1 Zielgerichtetes Lernen

3.7.2 Kontingenzen und Kausalzuschreibung

4 Emotion und Motivation

4.1 Emotionswahrnehmung

4.1.1 Emotionaler Gesichtsausdruck

4.1.2 Aspekte der Gesichtererkennung

4.1.3 Emotionaler Ausdruck in Körperhaltungen

4.2 Emotion und Aufmerksamkeit

4.2.1 Salienz emotionaler Reize

4.2.2 Emotion und Aufmerksamkeit - Konkurrenz um limitierte Ressourcen?

4.3 Emotion – Lernen und Gedächtnis

4.3.1 Furchtkonditionierung

4.3.2 Emotionales Gedächtnis

4.4 Motivation: Belohnungslernen

4.4.1 Motivationale Funktionen dopaminerger Neurone

4.4.2 Humane neuronale Korrelate des Belohnungslernens

4.5 Emotion und Entscheidung – Somatische Emotionskorrelate

4.5.1 Emotion und Erregung

4.5.2 Das Konzept der Somatischen Marker

4.6 Empathie

4.6.1 Theory of Mind

4.6.2 Kognitive Empathie bei Tieren?

4.7 Soziale Motivation

4.7.1 Kooperation in ökonomischen Austauschsituationen

4.7.2 Soziales Verhalten von Tieren

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:

Literaturempfehlung

Begriffserklärung, Definition

Pro und Contra, Kritik

Fallbeispiel

Forschungen, Studien

Fragen zur Wiederholung am Ende der Kapitel

Übungsaufgaben am Ende der Kapitel

Vorwort

Die Allgemeine Psychologie untersucht, welche allgemeinen Gesetzmäßigkeiten unserem Verhalten und Erleben zugrunde liegen. Um zu belastbaren Ergebnissen zu kommen, steht die experimentelle Methodik im Vordergrund, bei der möglichst isolierte Faktoren variiert werden, um deren Wirkungen auf das Verhalten von Versuchspersonen zu prüfen.

Im vorliegenden Lehrbuch wird der Versuch unternommen, zu zeigen, wie mit solchen grundlagenwissenschaftlichen Arbeiten ganz praktische Probleme angegangen werden können. Dies können Alltagsprobleme sein (Warum eigentlich können wir nicht gut gleichzeitig Telefonieren und Auto fahren?; Kap. 2.2), aber auch neuropsychologische Fallstudien, die ja auch zum Arbeitsalltag ausgebildeter Psychologen gehören (was können wir durch Patienten über Objektwahrnehmung oder das Lesen lernen; Kap. 1.2; 2.5) oder ausgefallenere Untersuchungen wie die Untersuchungen mentaler Rechenprozesse bei Amazonasindianern, deren Sprache nur Zahlwörter bis ‚vier‘ enthält (Kap. 2.7).

Traditionell beruht die Allgemeine Psychologie auf Untersuchungen des Verhaltens menschlicher Probanden. In letzter Zeit haben jedoch kognitiv-neurowissenschaftliche Untersuchungsmethoden an Einfluss gewonnen, die es ermöglichen, neben dem Endprodukt kognitiver oder emotionaler Prozesse – dem Verhalten – auch neuronale Prozesse zu beobachten, die dieses Verhalten ermöglichen. Ein besonderes Anliegen dieses Buches ist es, die Untersuchung des Verhaltens und seiner neuronalen Basis aufeinander zu beziehen, in der Überzeugung, dass eine sorgfältig aufeinander bezogene Analyse beider Aspekte für den Erkenntnisfortschritt entscheidend ist. Die Frage, inwieweit unser Gehirn unser Verhalten bedingt, hat in jüngster Zeit auch zu einer Vielzahl trickreicher Untersuchungen tierischen Verhaltens geführt, so etwa zu der Frage, inwieweit Affen sich in die Wahrnehmungsfähigkeit von Artgenossen hineinversetzen oder menschliche Partner bewusst täuschen können (Kap. 4.6). Diese Thematik vergleichender Forschung wird an vielen Stellen des Buches angerissen.

Da der Lehrumfang des Faches „Allgemeine Psychologie“ im Bachelorstudium der Psychologie, für das dieses Buch primär geschrieben ist, begrenzt ist, musste auf einige wünschenswerte Aspekte verzichtet werden. Dies gilt etwa für die Darstellung tiefer gehender methodischer Aspekte experimentalpsychologischer Forschung, die ja auch in der psychologischen Methodenlehre behandelt werden oder in einem anschließenden Masterstudium vertieft werden können.

Die Integration kognitiv-neurowissenschaftlicher und klassisch allgemeinpsychologischer Forschung und die recht umfangreichen Verweise auf weiterführende Literatur mögen den Einsatz des Buches (neben spezialisierteren Lehrwerken) auch über das Bachelorstudium der Psychologie hinaus, besonders in kognitiv-neurowissenschaftlichen Bachelor- oder auch Masterstudiengängen ermöglichen.

Last not least bittet der Autor um Hinweise auf vielleicht im Buch noch enthaltene Fehler oder fehlende Aspekte, die in einer künftigen Auflage Aufnahme finden sollten.

Magdeburg, im Mai 2008

Stefan Pollmann

1 Wahrnehmung

1.1Sehen: Wahrnehmung als Konstruktionsprozess


Vielleicht haben Sie in den letzten Tagen einen Hörsaal betreten und nach einer Freundin gesucht, die die gleiche Vorlesung besucht. Warum ist es eigentlich so schwierig, einen Bekannten zu finden, der sich in einer Menge von Personen befindet? Schließlich sehen Sie doch, wenn Sie den Hörsaal betreten, alle Studierenden, die sich schon eingefunden haben, vor sich. Dennoch werden Sie in einer solchen Situation schon festgestellt haben, dass es manchmal einer langwierigen Suche bedarf, um eine Person (oder ein Objekt) in einer solchen Menge zu finden.

1.1.1Physiologische Einschränkungen des Sehens

Bereich des scharfen Sehens

Ein Grund, warum wir zwar subjektiv den Eindruck haben, den gesamten Raum zu überblicken, aber ihn dennoch nach der gesuchten Person absuchen müssen, ist eine Beschränkung der Sehschärfe. Sie geht auf den Aufbau der Netzhaut des Auges zurück.

Sie können sich diese Beschränkung leicht vor Augen führen, indem Sie bei normaler Leseentfernung das erste Wort in dieser Zeile anschauen und dann, ohne den Blick vom Anfang der Zeile abzuwenden, versuchen, die Wörter am Ende der Zeile zu lesen. Sie werden sehen, dass Ihnen dies nicht gelingt.

Der Grund dafür ist, dass wir nur in einem kleinen Bereich von der Netzhaut über genügend dicht gepackte Sinneszellen verfügen, um eine genügend hohe räumliche Auflösung zu erreichen, die es uns ermöglicht, die Buchstaben in diesem Text zu erkennen.

 

Aufbau des Auges

Lichtstrahlen fallen durch die Hornhaut (Cornea) in das Auge. Sie passieren dann die vordere Augenkammer, die Linse und den Glaskörper, bevor sie auf die Netzhaut (Retina) fallen. Die Linse ist an den Zonulafasern aufgehängt. Die Spannung dieser Fasern kann durch Kontraktion der Ziliarmuskeln reduziert werden, worauf die Linse eine rundere Form annimmt und damit das einfallende Licht stärker bricht. Mit zunehmendem Alter verliert die Linse an Elastizität und erreicht nicht mehr die gleiche runde Form bei entspannten Zonulafasern wie im jugendlichen Auge. Die geringere Krümmung führt dazu, dass nahe Objekte nicht mehr scharf abgebildet werden. Dies macht sich etwa dadurch bemerkbar, dass bei normaler Leseentfernung eine Lesebrille nötig wird.

In der Retina befinden sich die Rezeptorzellen des visuellen Systems, die Zapfen und Stäbchen, eingebettet in Pigmentzellen. Zwischen diesen Photorezeptoren und dem Glaskörper liegen mehrere Schichten von Nervenzellen, die Horizontal-, Bipolar- und Amakrinzellen und schließlich die Ganglienzellen, deren Axone den Sehnerv bilden. Die vom Licht abgewandte Lage der Photorezeptoren hat zur Folge, dass das Licht zunächst die gesamte Retina durchdringen muss, um die Photorezeptoren zu erregen. Die Lichtleitung durch die Retina wird durch Müller-Gliazellen erleichtert, die sich von der dem Glaskörper zugewandten Seite der Retina bis zu den Photorezeptoren erstrecken und wie biologische Lichtleiter wirken (Franze et al. 2007).


Abb. 1.1.1: Aufbau des Auges


Abb. 1.1.2: Die Retina. Oben links: Abbildung des Gesichtsfelds auf der Netzhaut. Oben rechts: Fehlen von Photorezeptoren am Austrittsort des Sehnervs. Unten: Verteilung der Zapfen und Stäbchen auf der Retina

Es gibt etwa 6 Millionen Zapfen und 120 Millionen Stäbchen in der Netzhaut. Die Dichte dieser Rezeptortypen ist sehr ungleich verteilt. In der Fovea centralis (Zentralgrube) gibt es nur Zapfen, ihre Dichte nimmt zur Peripherie der Netzhaut hin ab. Umgekehrt verhält es sich mit den Stäbchen, deren Dichte in der Peripherie zunimmt. Die Rezeptordichte bestimmt die räumliche Auflösung des Sehens, die im fovealen Bereich am höchsten ist und zur Peripherie hin sehr schnell abnimmt.

Makuladegeneration

Eine verbreitete Augenerkrankung führt zu einer Schädigung der Netzhaut, die im Bereich der Makula, also der Netzhaut im Bereich der Fovea, beginnt und sich von dort ausbreitet. Die Krankheit tritt mit zunehmendem Alter gehäuft auf und betrifft damit mit zunehmender Lebenserwartung immer mehr Patienten. Da die Makuladegeneration gerade die Stelle des schärfsten Sehens betrifft, sind die Folgen gravierend. Die Patienten benutzen meist eine parafoveale Stelle der Netzhaut als „Pseudofovea“. Aufgrund der geringeren Rezeptordichte kann diese Pseudofovea die Funktionen der Fovea jedoch nur unvollständig erfüllen.

blinder Fleck

Die Müllerzellen (aufgrund ihrer Lage auch Radialgliazellen genannt) lösen zwar ein Problem der lichtabgewandten Lage der Photorezeptoren in der Retina, nämlich den Transport des Lichts vorbei an den mehreren Schichten zellulärer Strukturen zwischen Photorezeptor und Lichteinfall. Jedoch können sie ein anderes Problem nicht lösen. Die Fasern des Sehnervs, die von den Ganglienzellen ihren Ausgang nehmen, verlassen das Auge an einem Ort, der Papille. Da die Fasern von der dem Glaskörper zugewandten Seite kommen, müssen sie die Retina durchbrechen, um nach außen zu gelangen. An der Austrittsstelle gibt es dementsprechend auch keine Photorezeptoren, d. h. wir können an dieser Stelle nichts sehen. Da dieser „blinde Fleck“ in beiden Augen etwa 15 Grad lateral (seitlich) vom Fixationspunkt liegt, nehmen wir ihn beim beidäugigen Sehen nicht wahr. Die Bereiche decken sich nämlich nicht. Decken wir jedoch ein Auge ab, können wir uns den blinden Fleck leicht vergegenwärtigen.

Versuchen Sie es doch einmal, indem Sie das rechte Auge zuhalten und mit dem linken das Fixationskreuz in Abbildung 1.1.3 fixieren. Variieren Sie dann die Entfernung des Buches vom Auge, bis der schwarze Fleck unsichtbar wird.


Abb. 1.1.3: Demonstration des blinden Flecks

Die Änderung des Abstandes zwischen Buch und Auge führt dazu, dass sich der Einfallswinkel der Lichtstrahlen verändert, die von dem schwarzen Fleck und seiner unmittelbaren Umgebung reflektiert werden. Bei geeignetem Winkel (etwa 15°) fällt der Reiz in den blinden Fleck und wird nicht mehr gesehen.

filling-in

Warum sehen wir aber an der Stelle des blinden Flecks kein Loch in unserem Gesichtsfeld, wenn wir ein Auge zuhalten?

Wiederholen Sie das Experiment mit Abbildung 1.1.4. Hier sehen Sie, dass der blinde Fleck nicht nur dazu führt, dass wir Reize nicht sehen. Er führt auch dazu, dass unser Gehirn Reize, die sich bis an die Grenzen des blinden Flecks erstrecken, so ergänzt, wie sie in unserer Umgebung mit großer Wahrscheinlichkeit verlaufen. Die Linien in der Abbildung werden demgemäß durch den blinden Fleck hindurch ergänzt. Diese Ergänzungsprozesse (filling-in) führen dazu, dass wir auch bei einäugigem Sehen keine Unterbrechung des Gesichtsfeldes wahrnehmen.


Abb. 1.1.4: Demonstration der Ergänzung von Konturen durch den blinden Fleck

1.1.2Visuelle Suche

basale visuelle Merkmale

Die Beschränkung der Sehschärfe ist jedoch nicht der einzige limitierende Faktor, wenn es um die visuelle Wahrnehmung unserer Umwelt geht. Es gibt auffällige Reize, die uns regelrecht „ins Auge fallen“, und andere, die wir leicht übersehen. Dies hat Forscher dazu veranlasst, nach basalen Bausteinen der Wahrnehmung zu suchen, die wir mühelos wahrnehmen können. Was sind nun diese Bausteine, aus denen der Wahrnehmungseindruck sich zusammensetzt? Dieser Frage kann man sich auf unterschiedliche Weise nähern: Wahrnehmungspsychologen untersuchen, welche Reize oder Reizkonstellationen mühelos und schnell, ohne größeren Aufmerksamkeitsbedarf, erkannt werden. Neurophysiologen erforschen dagegen, auf welche Reizmerkmale Nervenzellen reagieren, die die Signale empfangen, die über den optischen Nerv vom Auge zum Gehirn geleitet werden. Einige der wahrnehmungspsychologischen Befunde sollen zunächst dargestellt werden, um dann zu untersuchen, inwieweit diese mit neuronalen Prozessen zusammenhängen.

Merkmalsverknüpfung

Im linken Display (Abb. 1.1.5) unterscheidet sich das L von den O in einem einfachen Merkmal: Es besteht aus geraden Linien, während das O eine kreisförmige Kontur hat. Im rechten Display dagegen bestehen sowohl der Zielreiz, das L, als auch die Ablenkerreize oder Distraktoren, die T, aus den gleichen Linien. Das L kann daher von den T nicht über die Linien, sondern nur über die Verknüpfung der Linien, den Ort, wo die Linien zusammentreffen, unterschieden werden. Dies gelingt uns nicht so leicht wie die Unterscheidung einfacher visueller Merkmale, wie gerade oder gekrümmte Linien. Es erscheint einleuchtend, dass es basale visuelle Merkmale gibt, die leicht zu erkennen sind, ohne dass wir langwierig nach ihnen suchen müssen. Was aber macht genau ein solches basales Merkmal aus? Das ist zunächst eine empirische Frage, die mit visuellen Suchexperimenten wie dem obigen untersucht wurde (Treisman / Gelade 1980; Treisman / Gormican 1988).


Abb. 1.1.5: Beispieldisplays für effiziente und ineffiziente Suche

In der Psychologie spricht man von einem experimentellen Paradigma (Betonung auf der drittletzten Silbe), wenn man eine Klasse von Experimenten meint, die sich in grundlegenden Aspekten ähneln, auch wenn die Details unterschiedlich sind. Das Paradigma der visuellen Suche ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Zielreiz (target) in einer Menge von Ablenkerreizen (auch Distraktoren genannt) gesucht werden muss. Die Suche nach dem Zielreiz kann dabei unterschiedlich effizient sein. Diese Effizienz wird meist über die Reaktionszeit gemessen. Das ist die Zeit, die ab dem Beginn der Präsentation verstreicht, bis die Versuchsperson, i. d. R. durch eine manuelle Wahlreaktion, anzeigt, ob das Display den Zielreiz enthält oder nicht (z. B. durch Drücken der linken Taste bei Anwesenheit oder der rechten Taste bei Abwesenheit des Zielreizes). Alternativ kann auch die Entdeckungshäufigkeit des Zielreizes gemessen werden, wenn das Display nur sehr kurz gezeigt wird. Die Effizienz der Suche spiegelt sich in der Reaktionszeit nicht nur dadurch wider, dass die Reaktionszeit einfach kürzer oder länger ist, sondern auch darin, wie sie von der Anzahl der Ablenkerreize im Display abhängt. Bei Displays wie dem linken in Abbildung 1.1.5 etwa verändert sich die Reaktionszeit kaum, wenn die Anzahl der Ablenkerreize im Display steigt.

Suchen Sie bitte einmal nach einem „L“ in den beiden Suchdisplays in Abbildung 1.1.5. Sie werden vermutlich das L im linken Display schneller gefunden haben als im rechten Display. An der begrenzten räumlichen Auflösung in der Gesichtsfeldperipherie kann das nicht liegen, da beide L gleich peripher (wenn Sie die Mitte des jeweiligen Displays fixieren) und gleich groß sind. Auch der Abstand zu den Ablenkerreizen ist gleich.

Suchkurve

visuelle Suche

Dies ist in Abbildung 1.1.6 links schematisch durch die Linie dargestellt, die parallel zur x-Achse verläuft. Bei Displays wie dem in Abbildung 1.1.5 rechts dargestellten hingegen steigt die Reaktionszeit mit zunehmender Anzahl der Ablenker. Man kann diese Zunahme an der Steigung der Suchkurve ablesen und in Millisekunde (ms) pro Displayelement angeben. Eine solche lineare Zunahme der Suchzeit mit zunehmender Displaygröße (d. h. Anzahl der Displayelemente) ist jedoch eher eine idealtypische Vorstellung. In der Realität kommt es auch zu sprunghaften Zunahmen der Suchzeiten (Müller-Plath / Pollmann 2003). Dennoch kann die Steigung der Suchkurve als annäherndes Maß für die Sucheffizienz verwendet werden. Die Suchkurven schneiden die y-Achse nicht bei null, sondern bei einem positiven Wert. Dieser Wert zeigt an, dass die Suchzeit auch einen konstanten Betrag enthält, der unabhängig von der Displaygröße ist und u. a. die Zeit zur Durchführung der motorischen Reaktion beinhaltet.


Abb. 1.1.6: Schematische Darstellung typischer visueller Suchkurven. Links: Die Effizienz der Suche kann an der Steigung der Suchkurve abgelesen werden. Rechts: Doppelt so hohe Steigung der Suchkurve für negative wie für positive Reaktionen als Indiz für selbstterminierende Suche

parallele und serielle Suche

Längere Suchzeiten bei größeren Displays können dadurch entstehen, dass die Displays seriell nach dem Zielreiz abgesucht werden. Dagegen sprechen flache Suchkurven dafür, dass das gesamte Display parallel, „auf einen Blick“, nach dem Display abgesucht werden kann. Man spricht dann davon, dass die Reize ins Auge springen (pop-out). Eine positive Steigung der Suchkurve ist jedoch kein Beweis für eine serielle Suche. Sie kann auch dadurch entstehen, dass eine parallele Suche erfolgt, die jedoch in ihrer Kapazität limitiert ist und zunehmend länger dauert, wenn diese Kapazität parallel auf immer mehr Elemente verteilt wird.

selbstterminierende Suche

Von Interesse ist weiterhin das Verhältnis der Suchkurven für positive (Zielreiz anwesend) und negative (Zielreiz abwesend) Urteile (Abb. 1.1.6 rechts). Häufig ist dieses Verhältnis 1:2, d. h. die Steigung der Suchkurve ist bei negativen doppelt so lange wie bei positiven Urteilen. Dies ist dann ein Hinweis auf eine selbstterminierende Suche. Damit ist gemeint, dass die Suche abgebrochen wird, sobald der Zielreiz entdeckt wird. Der Zielreiz wird über viele Suchdurchgänge hinweg gleich häufig mal das erste, mal das letzte betrachtete Element sein, mal das zweite oder zweitletzte usw. Daher wird der Zielreiz im Mittel nach Absuchen der Hälfte der Displayelemente gefunden. Damit dauert die Suche nach einem anwesenden Zielreiz auch nur halb so lang wie bei der Abwesenheit des Zielreizes, da die Abwesenheit nur sicher nach vollständigem Absuchen des Displays festgestellt werden kann.

Neurophysiologie

Für einige basale visuelle Merkmale, die in den Suchexperimenten zu einem Pop-out-Effekt führen, ist auch ein neuronales Korrelat bekannt – so etwa in dem hier beispielhaft angeführten Fall von Reizen, die sich durch Linien oder Kanten bestimmter Ausrichtung voneinander unterscheiden (s. u.).

1.1.3Merkmalsverarbeitung im primären visuellen Cortex

Der Sehnerv erreicht die Großhirnrinde im primären visuellen Cortex (V1). Dieses Hirnareal befindet sich an den Ufern der Fissura calcarina im medialen Occipitallappen (Abb. 1.1.9 oben, FC). Das Großhirn besteht aus einer vielfach gefalteten Rindenschicht (Cortex) grauer Substanz, die sich um einen Kern von weißer Substanz legt. Was dem anatomischen Präparat die graue Farbe gibt, sind die Nervenzellen, die sich in der Rinde befinden. Die Farbe der weißen Substanz hingegen stammt von den Umhüllungen der Nervenfasern, die oft aus Myelin, einer lipidreichen Substanz, bestehen. Die Großhirnrinde (Neocortex) besteht durchgängig aus sechs Schichten, die sich von der weißen Substanz nach außen zur Oberfläche der Hirnrinde erstrecken. Die Schichten enthalten verschiedene Typen von Nervenzellen und unterschiedliche Verschaltungsmuster dieser Zellen, die einem gemeinsamen Bauplan folgen, aber in verschiedenen Großhirnarealen unterschiedlich ausgeprägt vorkommen.

Im anatomischen Präparat ist der primäre visuelle Cortex durch einen breiten Streifen weißer Substanz, also von Nervenfasern, gekennzeichnet. Dieser „Gennarische Streifen“ ist bereits mit bloßem Auge sichtbar und hat zu der Bezeichnung „Area striata“ für die primäre Sehrinde geführt. Die primäre Sehrinde ist weiterhin identisch mit dem Brodmann-Areal 17 (zur Bestimmung der Brodmann-Areale s. Kasten: Neuroanatomie der Großhirnrinde). Die überwiegende Zahl der optischen Nervenfasern vom Corpus geniculatum laterale erreicht den primären visuellen Cortex in Schicht 4 (der Verlauf der Sehbahn wird in Kap. 1.3 dargestellt).


Die Zielneurone in Schicht 4 des primären visuellen Cortex haben spezielle rezeptive Feldeigenschaften. Als rezeptives Feld bezeichnet man den Bereich des Gesichtsfeldes, in dem die Präsentation eines geeigneten Reizes zu einer Reaktion des Neurons führt. Die überwiegende Zahl dieser Neurone (simple cells / einfache Zellen) reagieren auf strichförmige Lichtreize, z. B. Kanten von Objekten, die eine bestimmte Ausrichtung haben. Die simple cells reagieren nur auf Reize, die in einem umschriebenen Bereich des Gesichtsfeldes von einer Ausdehnung von wenigen Graden Sehwinkel präsentiert werden.

Hyperkolumne

Wenn man an einer umschriebenen Stelle des visuellen Cortex Neurone untersucht, die die gleichen rezeptiven Feldgrenzen haben, also den gleichen Bereich des Gesichtsfeldes abdecken, so findet man, dass benachbarte Neurone in systematischer Weise auf Reize unterschiedlicher Ausrichtung reagieren. Misst man die neuronale Erregung von Neuronen innerhalb einer corticalen Kolumne, so reagieren diese Neurone optimal auf Reize einer bestimmten Ausrichtung. Misst man nun Neurone benachbarter Kolumnen, so findet man eine systematische Verschiebung der optimalen Reizausrichtung in Schritten von ca. 20 Grad. Man spricht deshalb von Richtungs- oder Orientierungskolumnen. Weiterhin reagieren die einfachen Zellen dominant auf Reize eines Auges. Zwar repräsentiert die Sehrinde einer jeden Hemisphäre sowohl die Reize des ipsi- wie des contralateralen Auges (ipsilateral: gleichseitig; contralateral: gegenseitig), jedoch reagieren die Neurone innerhalb einer bestimmten Kolumne dominant auf Reize jeweils des einen oder anderen Auges – man spricht von Augendominanzkolumnen. Je ein kompletter Satz (der alle Orientierungen von 0–180° abdeckt) von links- und rechtsäugig dominanten Orientierungssäulen bildet als Einheit eine Hyperkolumne. Abbildung 1.1.7 zeigt eine schematische Darstellung einer Hyperkolumne und die Anordnung der Augendominanzkolumnen in einem menschlichen Gehirn.


Abb. 1.1.7: Kolumnäre Struktur des primären visuellen Cortex. Links: Schema der Hyperkolumne. Rechts: Anordnung der Augendominanzkolumnen in einem menschlichen Gehirn (adaptiert nach Cheng et al. 2001)

Merkmalsintegration

Die Eingangsstation des Großhirns besteht also zu einem großen Teil aus Neuronen, die in einem kleinen Bereich des Gesichtsfeldes auf Kanten und Linien einer bestimmten Vorzugsrichtung reagieren. Einige dieser Neurone reagieren auch auf bewegte Kanten, andere auf Reize einer bestimmten Wellenlänge. Auf diese Funktionen werden wir bei der Besprechung der Bewegungs- und der Farbwahrnehmung noch genauer eingehen. Bleiben wir zunächst einmal bei der Kantendetektion. Zunächst ist es offensichtlich, dass die Neurone in V1 in sehr eingeschränkter Weise auf die Vielfalt der Formen in unserer Umwelt reagieren. An der Reaktion eines Neurons in V1, das spezifisch auf senkrechte Kanten reagiert, werden wir nicht ablesen können, ob der Organismus gerade einen Baum oder einen Stuhl betrachtet. Wir lesen nur ab, dass sich in dem rezeptiven Feld der Zelle eine senkrechte Linie befindet (die sowohl zum Baumstamm wie zu einem Stuhlbein gehören kann). Die Information, die in den Reaktionen vieler V1-Neurone enthalten ist, muss also in weiteren Verarbeitungsschritten integriert werden. Diese Integration beginnt bereits in V1, vermittelt über Verbindungen zwischen den Neuronen.